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Kontrolle der Gedanken und Gefühle

Wenn jemand die Wege, zur Geheimwissenschaft in der Art sucht, wie, es in dem vorhergehenden Kapitel beschrieben worden ist, dann darf er nicht versäumen, sich während der ganzen Arbeit durch einen fortwirkenden Gedanken zu stärken. Er muss sich nämlich stets vor Augen halten, dass er nach einiger Zeit schon ganz erhebliche Fortschritte gemacht haben kann, ohne dass sie sich ihm in der Weise zeigen, wie er es vielleicht erwartet hat. Wer dies nicht bedenkt, wird leicht die Beharrlichkeit verlieren und nach kurzer Zeit alle Versuche aufgeben. Die Kräfte und Fähigkeiten, welche man zu entwickeln hat, sind anfänglich von sehr zarter Art. Und ihre Wesenheit ist etwas ganz anderes als das, wovon sich der Mensch vorher Vorstellungen gemacht hat. Er war ja nur gewohnt, sich mit der physischen Welt zu beschäftigen. Die geistige und seelische entzog sich seinen Blicken und auch seinen Begriffen. Es ist daher gar nicht zu verwundern, dass er jetzt, wo sich in ihm geistige und seelische Kräfte entwickeln, diese nicht sogleich bemerkt.

Darinnen liegt die Möglichkeit einer Beirrung für den, welcher sich, ohne sich an die Erfahrungen zu halten, welche kundige Forscher gesammelt haben, auf den Geheimpfad begibt. Der Geheimforscher kennt die Fortschritte, welche der Schüler macht, lange bevor dieser sich selbst ihrer bewusst wird. Er weiß, wie die zarten geistigen Augen sich heranbilden, ehe der Schüler etwas davon weiß. Und ein großer Teil der Anweisungen dieses Geheimforschers besteht eben darinnen, das zum Ausdrucke zu bringen, was bewirkt, dass der Schüler das Vertrauen, die Geduld, die, Ausdauer nicht verliere, bevor er zur eigenen Erkenntnis seiner Fortschritte gelangt. Geben kann ja der Geheimkundige seinem Zögling nichts, was in diesem nicht - auf verborgene Art - schon liegt. Er kann nur anleiten zur Entwicklung von schlummernden Fähigkeiten. Aber, was er aus seinen Erfahrungen mitteilt, wird eine Stütze sein dem, der sich aus dem Dunkel zum Lichte durchringen will.

Gar viele verlassen den Pfad zur Geheimwissenschaft bald, nachdem sie ihn betreten haben, weil ihnen ihre Fortschritte nicht sogleich bemerklich werden. Und selbst, wenn die ersten für den Zögling wahrnehmbaren höheren Erfahrungen auftreten, so betrachtet sie dieser oft als Illusionen, weil er sich ganz andere Vorstellungen von dem gemacht hat, was er erleben soll. Er verliert den Mut, weil er entweder die ersten Erfahrungen für wertlos hält oder weil sie ihm doch so unscheinbar vorkommen, dass er nicht glaubt, sie könnten ihn in absehbarer Zeit zu irgend etwas Erheblichem führen. Mut und Selbstvertrauen sind aber zwei Lichter, die auf dem Wege zur Geheimwissenschaft nicht erlöschen dürfen. Wer es nicht über sich bringen kann, eine Übung, die scheinbar unzählige Mal missglückt ist, immer wieder und wieder geduldig fortzusetzen, der kann nicht weit kommen.

Viel früher als eine deutliche Wahrnehmung von den Fortschritten tritt ein dunkles Gefühl auf, dass man auf dem rechten Wege sei und dieses Gefühl sollte man hegen und pflegen. Denn es kann zu einem sicheren Führer werden. Vor allem muss man den Glauben ausrotten, als ob es ganz absonderliche, geheimnisvolle Verrichtungen sein müssten, durch die man zu höheren Erkenntnissen gelangt. Man muss sich klarmachen, dass von den Gefühlen und Gedanken ausgegangen werden muss, mit denen der Mensch ja fortwährend lebt, und dass er diesen Gefühlen und Gedanken nur eine andere Richtung geben muss, als die gewohnte ist ein jeder sage sich zunächst: in meiner eigenen Gefühls- und Gedankenwelt liegen die höchsten Geheimnisse verborgen: ich habe sie bisher nur noch nicht wahrgenommen. Alles beruht schließlich darauf, dass der Mensch fortwährend Leib, Seele und Geist mit sich herumträgt, dass er sich aber nur seines Leibes im ausgesprochenen Sinne bewusst ist, nicht seiner Seele und seines Geistes. Und der Geheimschüler wird sich der Seele und des Geistes bewusst, wie sich der gewöhnliche Mensch seines Leibes bewusst ist.

Deshalb kommt es darauf an, die Gefühle und Gedanken in die rechte Richtung zu bringen. Dann entwickelt man die, Wahrnehmungen für das im gewöhnlichen Leben Unsichtbare. Hier soll einer der Wege angegeben werden, wie man das macht. Eine einfache Sache ist es wieder, wie fast alles, was bisher mitgeteilt worden ist. Aber von den größten Wirkungen ist sie, wenn sie beharrlich durchgeführt wird und wenn der Mensch vermag, mit der nötigen Intimen Stimmung sich ihr hinzugeben.

Man lege ein kleines Samenkorn einer Pflanze vor sich hin. Es kommt darauf an, sich vor diesem unscheinbaren Ding die, rechten Gedanken intensiv zu machen und durch diese Gedanken gewisse Gefühle zu entwickeln. Zuerst mache man sich klar, was man wirklich mit Augen sieht. Man beschreibe für sich Form, Farbe und alle sonstigen Eigenschaften des Samens. Dann überlege man folgendes. Aus diesem Samenkorn wird eine vielgestaltige Pflanze entstehen, wenn es in die Erde gepflanzt wird. Man vergegenwärtige sich diese Pflanze. Man baue sie sich in der Phantasie auf. Und dann denke man: Was ich mir jetzt in meiner Phantasie vorstelle, das werden die Kräfte der Erde und des Lichtes später wirklich aus dem Samenkorn hervorlocken. Wenn ich ein künstlich geformtes Ding vor mir hätte, das ganz täuschend dem Samenkorn nachgeahmt wäre, so dass es meine Augen nicht von einem wahren unterscheiden könnten, so würde keine Kraft der Erde und des Lichtes aus diesem eine Pflanze hervorlocken. Wer sich diesen Gedanken ganz klar macht, wer ihn innerlich erlebt, der wird sich auch den folgenden mit dem richtigen Gefühle bilden können. Er wird sich sagen: in dem Samenkorn ruht schon auf verborgene Art - als Kraft der ganzen Pflanze - das, was später aus ihm herauswächst. In der künstlichen Nachahmung ruht diese Kraft nicht. Und doch sind für meine Augen beide gleich. In dem wirklichen Samenkorn ist also etwas unsichtbar enthalten, was in der Nachahmung nicht ist. Auf dieses Unsichtbare lenke man nun Gefühl und Gedanken. (4) Man stelle sich vor: dieses Unsichtbare wird sich später in die sichtbare Pflanze verwandeln, die ich in Gestalt und Farbe vor mir haben werde. Man hänge dem Gedanken nach: das Unsichtbare wird sichtbar werden. Könnte ich nicht denken, so könnte sich mir auch nicht schon jetzt ankündigen, was erst später sichtbar werden wird.

Besonders deutlich sei es betont: Was man da denkt, muss man auch intensiv fühlen. Man muss in Ruhe, ohne alle störenden Beimischungen anderer Gedanken, den einen oben angedeuteten in sich erleben. Und man muss sich Zeit lassen, so dass sich der Gedanke und das Gefühl, die, sich an ihn knüpfen, gleichsam in die, Seele einbohren.

Bringt man das in der rechten Weise zustande, dann wird man nach einiger Zeit - vielleicht erst nach vielen Versuchen - eine Kraft in sich verspüren. Und diese Kraft wird eine neue Anschauung erschaffen. Das Samenkorn wird wie in einer kleinen Lichtwolke eingeschlossen erscheinen. Es wird auf sinnlich-geistige Weise, als eine Art Flamme empfunden werden. Gegenüber der Mitte dieser Flamme empfindet man so, wie man beim Eindruck der Farbe Lila empfindet; gegenüber dem Rande, wie man der Farbe bläulich gegenüber empfindet.

Da erscheint das, was man vorher nicht gesehen hat und was die Kraft des Gedankens und der Gefühle geschaffen hat, die man in sich erregt hat. Was sinnlich unsichtbar war, die Pflanze, die erst später sichtbar werden wird, das offenbart sich da auf geistig sichtbare Art.

Es ist begreiflich, dass mancher Mensch das alles für Illusion halten wird. Viele werden sagen: «Was sollen mir solche Gesichte, solche Phantasmen?» Und manche werden abfallen und den Pfad nicht fortsetzen. Aber gerade darauf kommt es an: in diesen schwierigen Punkten der menschlichen Entwicklung nicht Phantasie und geistige Wirklichkeit miteinander zu verwechseln. Und ferner darauf, den Mut zu haben, vorwärts zu dringen und nicht furchtsam und kleinmütig zu werden. Auf der anderen Seite aber muss allerdings betont werden, dass der gesunde Sinn, der Wahrheit und Täuschung unterscheidet, fortwährend gepflegt werden muss. Der Mensch darf während all dieser Übungen nie die volle bewusste Herrschaft über sich selbst verlieren. So sicher, wie er über die Dinge und Vorgänge des Alltagslebens denkt, so muss er auch hier denken. Schlimm wäre es, wenn er in Träumerei verfiele. Verstandesklar, um nicht zu sagen: nüchtern, muss er in jedem Augenblicke bleiben. Und der größte Fehler wäre gemacht, wenn der Mensch durch solche Übungen sein Gleichgewicht verlöre, wenn er abgehalten würde, so gesund und klar über die, Dinge des Alltagslebens zu urteilen, wie er das vorher getan hat. Immer wieder soll sich der Geheimschüler daher prüfen, ob er nicht etwa aus seinem Gleichgewicht herausgefallen ist, ob er derselbe geblieben ist innerhalb der Verhältnisse, in denen er lebt. Festes Ruhen in sich selbst, klarer Sinn für alles, das muss er sich bewahren. Allerdings ist streng zu beachten, dass man sich nicht jeder beliebigen Träumerei hingeben soll, sich nicht allen möglichen Übungen überlassen soll. Die Gedankenrichtungen, die hier angegeben werden, sind seit Urzeiten in den Geheimschulen erprobt und geübt. Und nur solche werden hier mitgeteilt. Wer solche anderer Art anwenden wollte, die er sich selbst bildet oder von denen er da oder dort hört und liest, der muss in die Irre gehen und wird sich bald auf dem Pfade uferloser Phantastik befinden.

Eine weitere Übung, die sich an die beschriebene anzuschließen hat, ist die folgende. Man stelle sich einer Pflanze gegenüber, die sich auf der Stufe der vollen Entwicklung befindet. Nun erfülle man sich mit dem Gedanken, dass die Zeit kommen werde, wo diese Pflanze abstirbt. Nichts wird von dem mehr sein, was ich jetzt vor mir sehe. Aber diese Pflanze wird dann Samenkörner aus sich entwickelt haben, die wieder zu neuen Pflanzen werden. Wieder werde ich gewahr, dass in dem, was ich sehe, etwas verborgen ruht, was ich nicht sehe. Ich erfülle mich ganz mit dem Gedanken: diese Pflanzengestalt mit ihren Farben wird künftig nicht mehr sein. Aber die Vorstellung, dass sie Samen bildet, lehrt mich, dass sie nicht in Nichts verschwinden werde. Was sie vor dem Verschwinden bewahrt, kann ich jetzt ebensowenig mit Augen sehen, wie ich früher die Pflanze im Samenkorn habe sehen können. Es gibt also in ihr etwas, was ich nicht mit Augen sehe. Lasse ich diesen Gedanken in mir leben und verbindet sich das entsprechende Gefühl in mir mit ihm, dann entwickelt sich wieder, nach angemessener Zeit, in meiner Seele eine Kraft, die zur neuen Anschauung wird. Aus der Pflanze wächst wieder eine Art von geistiger Flammenbildung heraus. Diese ist natürlich entsprechend größer als die vorhin geschilderte. Die Flamme kann etwa in ihrem mittleren Teile grünlichblau und an ihrem äußeren Rande gelblichrot empfunden werden.

Es muss ausdrücklich betont werden, dass man, was hier als «Farben» bezeichnet wird, nicht so sieht, wie physische Augen die Farben sehen, sondern dass man durch die geistige Wahrnehmung ähnliches empfindet, wie wenn man einen physischen Farbeneindruck hat. Geistig «blau» wahrnehmen heißt etwas empfinden oder erfühlen, was ähnlich dem ist, was man empfindet, wenn der Blick des physischen Auges auf der Farbe «Blau» ruht. Dies muss berücksichtigen, wer allmählich wirklich zu geistigen Wahrnehmungen aufsteigen will. Er erwartet sonst, im Geistigen nur eine Wiederholung des Physischen zu finden. Das musste ihn auf das bitterste beirren.

Wer es dahin gebracht hat, solches geistig zu sehen, hat viel gewonnen. Denn die Dinge enthüllen sich ihm nicht nur im gegenwärtigen Sein, sondern auch in ihrem Entstehen und Vergehen. Er fängt an, überall den Geist zu schauen, von dem die sinnlichen Augen nichts wissen können. Und damit hat er die ersten Schritte dazu getan, um allmählich durch eigene Anschauung hinter das Geheimnis von Geburt und Tod zu kommen. Für die äußeren Sinne entsteht ein Wesen bei der Geburt; es vergeht im Tode. Dies ist aber nur deshalb, weil diese Sinne den verborgenen Geist des Wesens nicht wahrnehmen. Für den Geist sind Geburt und Tod nur eine Verwandlung, wie das Hervorsprießen der Blume aus der Knospe eine Verwandlung ist, die sich vor den sinnlichen Augen abspielt. Will man das aber durch eigene Anschauung kennenlernen, so muss man in der angedeuteten Art erst den geistigen Sinn dafür erwecken.

Um gleich noch einen Einwand hinweg zu nehmen, den manche Menschen machen könnten, die, einige seelische (psychische) Erfahrung haben, sei dieses gesagt. Es soll gar nicht bestritten werden, dass es kürzere, einfachere Wege gibt, dass manche aus eigener Anschauung die, Erscheinungen von Geburt und Tod kennenlernen, ohne erst alles das, was hier beschrieben wird, durchgemacht zu haben. Es gibt eben Menschen, welche bedeutende psychische Anlagen haben, die nur eines kleinen Anstoßes bedürfen, um entwickelt zu werden. Aber das sind Ausnahmen. Der hier angegebene Weg ist jedoch ein allgemeiner und sicherer. Man kann sich ja auch einige chemische Kenntnisse auf einem ausnahmsweisen Weg erwerben; will man aber Chemiker werden, dann muss man den allgemeinen und sicheren Weg gehen.

Ein folgenschwerer Irrtum würde sich ergeben, wenn jemand glauben wollte, er könne, um bequemer zum Ziele zu gelangen, sich das besprochene Samenkörnchen oder die Pflanze bloß vorstellen, bloß in der Phantasie vorhalten. Wer dies tut, kann wohl auch zum Ziele kommen, doch nicht so sicher wie auf die angegebene Art. Die Anschauung, zu der man kommt, wird in den meisten Fällen nur ein Blendwerk der Phantasie sein. Bei ihr müsste dann die, Umwandlung in geistige Anschauung erst abgewartet werden. Denn darauf kommt es an, dass nicht ich in bloßer Willkür mir Anschauungen schaffe, sondern darauf, dass die Wirklichkeit sie in mir erschafft. Aus den Tiefen meiner eigenen Seele muss die Wahrheit hervorquellen; aber nicht mein gewöhnliches Ich darf selbst der Zauberer sein, der die, Wahrheit hervorlocken will, sondern die, Wesen müssen dieser Zauberer sein, deren geistige Wahrheit ich schauen will.

Hat der Mensch durch solcherlei Übungen in sich die, ersten Anfänge zu geistigen Anschauungen gefunden, so darf er aufsteigen zur Betrachtung des Menschen selbst. Einfache Erscheinungen des menschlichen Lebens müssen zunächst gewählt werden.

Bevor man aber dazu schreitet, ist es notwendig, besonders ernstlich an der vollen Lauterkeit seines moralischen Charakters zu arbeiten. Man muss jeden Gedanken daran entfernen, dass man etwa auf diese Art erlangte Erkenntnis zum persönlichen Eigennutz anwenden werde. Man muss mit sich darüber einig sein, dass man niemals eine Macht über seine Mitmenschen, die man etwa erlangen werde, im Sinne des Bösen ausnutzen werde.

Deshalb muss jeder, der Geheimnisse über die menschliche Natur durch eigene Anschauung sucht, die goldene Regel der wahren Geheimwissenschaften befolgen. Und diese goldene Regel ist: wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung deines Charakters zum Guten.

Wer diese Regel befolgt, der kann solche Übungen machen, wie nunmehr eine beschrieben werden soll.

Man vergegenwärtige sich einen Menschen, von dem man einmal beobachtet hat, wie er nach irgendeiner Sache verlangt hat. Auf die Begierde soll die Aufmerksamkeit gerichtet werden. Am besten ist es, den Zeitpunkt in der Erinnerung wachzurufen, in dem die Begierde am lebhaftesten war und in dem es ziemlich unentschieden war, ob der Mensch das Verlangte erhalten werde oder nicht. Und nun gebe man sich der Vorstellung an das, was man in der Erinnerung beobachtet, ganz hin. Man stelle die denkbar größte innere Ruhe der eigenen Seele her. Man versuche so viel, als nur möglich ist, blind und taub zu sein für alles andere, was ringsherum vorgeht. Und man achte besonders darauf, dass durch die angeregte Vorstellung in der Seele ein Gefühl erwache. Dieses Gefühl lasse man in sich heraufziehen wie eine Wolke, die an dem sonst ganz leeren Horizont heraufzieht. Es ist ja nun natürlich, dass in der Regel die Beobachtung dadurch unterbrochen wird, dass man den Menschen, auf den man die Aufmerksamkeit lenkt, nicht lange genug in dem geschilderten Seelenzustand beobachtet hat. Man wird wahrscheinlich Hunderte und aber Hunderte von vergeblichen Versuchen anstellen. Man darf eben die, Geduld nicht verlieren. Nach vielen Versuchen wird man es dahin bringen, dass man in der eigenen Seele ein Gefühl erlebt, das dem Seelenzustand des beobachteten Menschen entspricht. Dann wird man aber auch nach einiger Zeit bemerken, dass durch dieses Gefühl in der eigenen Seele eine Kraft erwächst, die zur geistigen Anschauung des Seelenzustandes des anderen wird. Im Gesichtsfelde wird ein Bild auftreten, das man wie etwas Leuchtendes empfindet. Und dieses geistig leuchtende Bild ist die sogenannte astrale Verkörperung des beobachteten Seelenzustandes der Begierde. Wieder als flammenähnlich empfunden kann dieses Bild beschrieben werden. Es wird in der Mitte wie Gelbrot sein und am Rande wie rötlichblau oder lila empfunden werden. Viel kommt darauf an, dass man mit solcher geistigen Anschauung zart umgehe. Man tut am besten, wenn man zunächst zu niemand davon spricht als nur etwa zu seinem Lehrer, wenn man einen solchen hat. Denn versucht man eine solche Erscheinung durch ungeschickte Worte zu beschreiben, so gibt man sich meistens argen Täuschungen hin. Man gebraucht die gewöhnlichen Worte, die doch für solche Dinge nicht bestimmt und daher für sie zu grob und schwerfällig sind. Die Folge ist dann, dass man durch den eigenen Versuch, die Sache in Worte zu kleiden, verführt wird, sich in die wahren Anschauungen allerlei Phantasieblendwerke hineinzumischen. Wieder ist eine wichtige Regel für den Geheimschüler: Verstehe über deine geistigen Gesichte zu schweigen. Ja, schweige sogar vor dir selber darüber. Versuche nicht, was du im Geiste erschaust, in Worte zu kleiden oder mit dem ungeschickten Verstande zu ergrübeln. Gib dich unbefangen deiner geistigen Anschauung hin und störe sie dir nicht durch vieles Nachdenken darüber. Denn du musst bedenken, dass dein Nachdenken anfangs ganz und gar nicht deinem Schauen gewachsen ist. Dieses Nachdenken hast du dir in deinem bisherigen, bloß auf die physisch-sinnliche Welt beschränkten Leben erworben; und was du dir jetzt erwirbst, geht darüber hinaus. Suche also nicht, an das neue Höhere den Maßstab des alten anzulegen. Nur wer schon einige Festigkeit hat im Beobachten innerer Erfahrungen, der kann darüber reden, um durch solches Reden seine Mitmenschen anzuregen.

Zu der beschriebenen Übung mag eine ergänzende kommen. Man beobachte in der gleichen Art, wie einem Menschen die Befriedigung irgendeines Wunsches, die Erfüllung einer Erwartung zuteil geworden ist. Gebraucht man dabei dieselben Regeln und Vorsichten, die eben für den anderen Fall angegeben worden sind, so wird man auch da zu einer geistigen Anschauung gelangen. Man wird eine geistige Flammenbildung bemerken, die in der Mitte, als gelb sich fühlt und die wie mit einem grünlichen Rande empfunden wird.

Leicht kann der Mensch durch solche Beobachtung seiner Mitmenschen in einen moralischen Fehler verfallen. Er kann lieblos werden. Dass dies nicht der Fall sei, muss eben mit allen nur erdenkbaren Mitteln angestrebt werden. Beobachtet man so, dann soll man eben durchaus schon auf der Höhe stehen, in der es einem zur völligen Gewissheit geworden ist, dass Gedanken wirkliche Dinge sind. Man darf sich da nicht mehr gestatten, über seinen Mitmenschen so zu denken, dass die Gedanken mit der höchsten Achtung der Menschenwürde, und der Menschenfreiheit nicht verträglich wären. Dass ein Mensch nur ein Beobachtungsobjekt für uns sein könnte: dieser Gedanke darf uns nicht einen Augenblick erfüllen. Hand in Hand mit jeder Geheimbeobachtung über die menschliche Natur muss die Selbsterziehung dahin gehen, die volle Selbstgeltung eines jeden Menschen uneingeschränkt zu schätzen und das als etwas Heiliges, von uns Unantastbares - auch in Gedanken und Gefühlen - zu betrachten, was in dem Menschen wohnt. Ein Gefühl von heiliger Scheu vor allem Menschlichen, selbst wenn es nur als Erinnerung gedacht wird, muss uns erfüllen.

Nur an den zwei Beispielen sollte vorläufig hier gezeigt werden, wie man sich zur Erleuchtung über die menschliche Natur durchringt. Daran konnte aber wenigstens der Weg gezeigt werden, der zu betreten ist. Wer die notwendige innere Stille und Ruhe findet, die zu solcher Beobachtung gehören, dessen Seele wird schon dadurch eine große Verwandlung durchmachen. Das wird bald so weit gehen, dass die innere Bereicherung, die sein Wesen erfährt, ihm Sicherheit und Ruhe gibt auch in seinem äußeren Verhalten. Und dieses verwandelte äußere Verhalten wird wieder zurückwirken auf seine Seele.

Und so wird er sich weiter helfen. Er wird Mittel und Wege finden, immer mehr von der menschlichen Natur zu entdecken, was den äußeren Sinnen verborgen ist; und er wird dann auch reif werden, einen Einblick zu tun in die geheimnisvollen Zusammenhänge zwischen der Menschennatur und all dem, was sonst noch im Weltall vorhanden ist.

Und auf diesem Wege naht sich der Mensch immer mehr dem Zeitpunkte, wo er die ersten Schritte der Einweihung bewerkstelligen kann. Bevor diese aber getan werden können, ist noch eines notwendig. Es ist dies etwas, dessen Notwendigkeit der Geheimschüler zunächst vielleicht am wenigsten einsehen wird. Später aber wird er dies.

Was nämlich der Einzuweihende mitbringen muss, ist ein in gewisser Beziehung ausgebildeter Mut und Furchtlosigkeit. Der Geheimschüler muss geradezu die Gelegenheiten aufsuchen, durch welche diese Tugenden ausgebildet werden. In der Geheimschulung sollten sie ganz systematisch herangebildet werden. Aber auch das Leben selbst ist namentlich nach dieser Richtung hin eine gute Geheimschule; vielleicht die beste. Einer Gefahr ruhig ins Auge schauen, Schwierigkeiten ohne Zagen überwinden wollen: solches muss der Geheimschüler können. Er muss zum Beispiel einer Gefahr gegenüber sich sofort zu der Empfindung aufraffen: meine Angst nützt nach gar keiner Seite; ich darf sie gar nicht haben; ich muss nur an das denken, was zu tun ist. Und er muss es so weit bringen, dass für Gelegenheiten, in denen er vorher ängstlich war, «Angsthaben», «Mutloswerden» für ihn wenigstens im eigentlichen innersten Empfinden unmögliche Dinge werden. Durch die Selbsterziehung nach dieser Richtung entwickelt nämlich der Mensch in sich ganz bestimmte Kräfte, die er braucht, wenn er in höhere Geheimnisse eingeweiht werden soll. So wie der physische Mensch Nervenkraft braucht, um seine physischen Sinne zu benutzen, so bedarf der seelische Mensch jener Kraft, die nur entwickelt wird in mutvollen und furchtlosen Naturen. Wer zu den höheren Geheimnissen vordringt, der sieht nämlich Dinge, welche dem gewöhnlichen Menschen durch die Täuschungen der Sinne verborgen bleiben. Denn, wenn die physischen Sinne uns auch die höhere Wahrheit nicht schauen lassen, so sind sie eben dadurch auch des Menschen Wohltäter. Durch sie verbergen sich für ihn Dinge, welche ihn, unvorbereitet, in maßlose Bestürzung versetzen müssten, deren Anblick er nicht ertragen könnte. Diesem Anblick muss der Geheimschüler gewachsen werden. Er verliert gewisse Stützen in der Außenwelt, die er eben dem Umstande verdankte, dass er in Täuschung befangen war. Es ist wirklich und buchstäblich so, wie wenn man jemand auf eine Gefahr aufmerksam machte, in der er schon lange geschwebt hat, von der er aber nichts gewusst hat. Vorher hatte er keine Angst: jetzt aber, nachdem er weiß, überkommt ihn die Angst, obwohl die Gefahr durch sein Wissen nicht größer geworden ist.

Die Kräfte der Welt sind zerstörende und aufbauende: das Schicksal der äußeren Wesenheiten ist Entstehen und Vergehen. In das Wirken dieser Kräfte, in den Gang dieses Schicksals soll der Wissende blicken. Der Schleier, der im gewöhnlichen Leben vor den geistigen Augen liegt, soll entfernt werden. Der Mensch selbst aber ist mit diesen Kräften, mit diesem Schicksal verwoben. In seiner eigenen Natur sind zerstörende und aufbauende Kräfte. So unverhüllt die anderen Dinge vor das sehende Auge des Wissenden treten, so unverhüllt zeigt die eigene Seele sich selbst. Solcher Selbsterkenntnis gegenüber darf der Geheimschüler nicht die Kraft verlieren. Und sie wird ihm nur dann nicht fehlen, wenn er einen Überschuss an ihr mitbringt. Damit dieses der Fall sei, muss er lernen, in schwierigen Lebensverhältnissen die innere Ruhe und Sicherheit zu bewahren; er muss in sich ein starkes Vertrauen in die guten Mächte des Daseins erziehen. Er muss darauf gefasst sein, dass manche Triebfedern ihn nicht mehr leiten werden, die ihn bisher geleitet haben. Er wird ja einsehen müssen, dass er bisher manches nur getan und gedacht hat, weil er in Unwissenheit befangen war. Solche Gründe, wie er sie bisher gehabt, werden wegfallen. Er hat manches aus Eitelkeit getan; er wird sehen, wie unsäglich wertlos alle Eitelkeit für den Wissenden ist. Er hat manches aus Habsucht getan; er wird gewahr werden, wie zerstörend alle Habsucht ist. Ganz neue Triebfedern zum Handeln und Denken wird er entwickeln müssen. Und eben dazu gehören Mut und Furchtlosigkeit.

Vorzüglich handelt es sich darum, im tiefsten Innern des Gedankenlebens selbst diesen Mut und diese Furchtlosigkeit zu pflegen. Der Geheimschüler muss lernen, über einen Misserfolg nicht zu verzagen. Er muss zu dem Gedanken fähig sein: «Ich will vergessen, dass mir diese Sache schon wieder missglückt ist, und aufs neue versuchen, wie wenn nichts gewesen wäre.» So ringt er sich durch zu der Überzeugung, dass die Kraftquellen in der Welt, aus denen er schöpfen kann, unversieglich sind. Er strebt immer wieder nach dem Geistigen, das ihn heben und tragen wird, wie oft auch sein Irdisches sich als kraftlos und schwach erwiesen haben mag. Er muss fähig sein, der Zukunft entgegenzuleben, und in diesem Streben sich durch keine Erfahrung der Vergangenheit stören lassen.

Hat der Mensch die geschilderten Eigenschaften bis zu einem gewissen Grade, dann ist er reif, die wahren Namen der Dinge zu erfahren, die der Schlüssel zu dem höheren Wissen sind. Denn darin besteht die Einweihung, dass man lernt, die Dinge der Welt bei demjenigen Namen zu benennen, die sie im Geiste ihrer göttlichen Urheber haben. In diesen ihren Namen liegen die Geheimnisse der Dinge. Deshalb sprechen die Eingeweihten eine andere Sprache als Uneingeweihte, weil die ersteren die Bezeichnung der Wesen nennen, durch welche diese selbst gemacht sind.

Soweit von der Einweihung (Initiation) selbst gesprochen werden kann, soll das im nächsten Kapitel folgen.


(4) Wer da einwenden wollte, dass bei einer genaueren mikroskopischen Untersuchung sich ja doch die Nachahmung von dem wirklichen Samenkorn unterscheide, der zeigte nur, dass er nicht erfasst hat, worauf es ankommt. Es handelt sich nicht darum, was man genau wirklich in sinnenfälliger Weise vor sich hat, sondern darum, dass man daran seelisch-geistige Kräfte entwickle.

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