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Nachwort zur Neuauflage 1918

Unter den im gewöhnlichen Bewusstsein anwesenden Seelenverrichtungen ist es nur das Denken, das sich von der Wahrnehmung loslösen und zur selbständigen, nicht an abnorme Leibesäußerungen bedingten Betätigung führen kann. Nicht unter diejenige Seelenverfassung herunter, tiefer in die organischen Verrichtungen hinein geht, was hier als hellsehendes Schauen gemeint ist, sondern in Gebiete geht es hinauf, die mit dem von der Seele innerlich durchhellten, vom Eigenwollen beherrschten Denken beginnen.


Es kann wohl schon aus den Ausführungen der zweiten dieser «Meditationen» klar sein und wird aus den folgenden mit noch größerer Deutlichkeit zu erkennen sein, dass der Seelenweg, von dem in dieser Schrift gesprochen wird, in entschiedenster Weise alles auf krankhaften oder abnormen Leibesverhältnissen beruhende sogenannte «Hellsehen» ablehnt. Alles Visionäre, Mediumistische, das aus solchen Verhältnissen heraus entsteht, bleibt auf diesem Seelenweg ausgeschlossen. Solche Seeleninhalte gehen aus einer Verfassung des menschlichen Innern hervor, gegenüber welcher das sinnliche Wahrnehmen und das darauf gestützte Denken ein höheres Gebiet darstellen. Man lebt mit diesem Wahrnehmen und diesem Denken mehr in dem übersinnlichen Gebiet und man ist mit ihm mehr vom Leibe unabhängig, als dies der Fall ist, wenn eine unregelmäßige Leibesorganisation der Seele einen Inhalt vorgaukelt, der aus Vorgängen entspringt, die eigentlich dem Leibe dienen sollten, und die in krankhafter Art von ihrer naturgemäßen Aufgabe abirren und zu Vorstellungen führen, die weder in einer Wahrnehmung von außen, noch in einer eigenen Betätigung des Willens ihre Grundlage haben.

Unter den im gewöhnlichen Bewusstsein anwesenden Seelenverrichtungen ist es nur das Denken, das sich von der Wahrnehmung loslösen und zur selbständigen, nicht an abnorme Leibesäußerungen bedingten Betätigung führen kann. Nicht unter diejenige Seelenverfassung herunter, tiefer in die organischen Verrichtungen hinein geht, was hier als hellsehendes Schauen gemeint ist, sondern in Gebiete geht es hinauf, die mit dem von der Seele innerlich durchhellten, vom Eigenwollen beherrschten Denken beginnen. Aus diesem selbstbeherrschten Denken heraus entwickelt die Seele das hier gemeinte hellseherische Schauen. Das Denken ist für das Schauen Vorbild. Was in den «Meditationen» als solches Schauen beschrieben wird, unterscheidet sich allerdings ganz wesentlich vom bloßen Denken. Und es führt hinein in übersinnliche Weltenerfahrungen, in welche dieses Denken nicht dringen kann. Aber das Leben, das die Seele entfaltet in diesem Schauen, darf kein anderes sein als das im Denken entwickelte. Mit derselben Bewusstheit, mit der die Seele in einem Gedanken lebt, mit der sie von einem zum andern Gedanken übergeht, muss sie in den Schauungen, in den Erleuchtungen leben.

Das Verhältnis der Seele zu diesen Schauungen ist allerdings ein wesentlich anderes als dasjenige zu den gewöhnlichen Gedanken. Wenn auch die seelische Beziehung einer Schauung auf die ihr entsprechende Wirklichkeit Ähnlichkeit hat mit der Beziehung einer Erinnerungsvorstellung zu der erlebten Wirklichkeit, an die sie erinnert, so ist doch ein Bedeutsames im Schauen gerade dies, dass während dessen Tätigkeit die Kraft der Erinnerung in der Seele gar nicht wirksam ist. Was man einmal vorgestellt hat, daran kann man sich erinnern, auch wenn die Vorstellung ein bloßes Phantasiegebilde ist. Was man in hellseherischem Schauen erfahren hat: das ist in dem Augenblicke dem Bewusstsein entschwunden, in dem die Schauung aufhört, wenn man nicht zu der seelischen Kraft des Schauens auch noch die andere hinzuentwickelt hat, in der Seele wieder dieselben Bedingungen des Schauens herzustellen, welche zu dieser Schauung geführt haben. Man kann sich an diese Bedingungen erinnern und kann dadurch die Schauung wiederholen; aber man kann sich nicht unmittelbar an die Schauung erinnern. Wer sich die notwendige Einsicht in diese Dinge verschafft hat, der hat gerade an dieser Einsicht ein Mittel, die Wirklichkeit, welche seiner Schauung entspricht, als solche zu erkennen. Wie man sich an eine Wahrnehmung, an ein Erlebnis erinnern kann, mit dieser Erinnerung aber das Erlebnis, die Wahrnehmung nicht selbst durchgemacht werden, so ist mit dem, was bei der Schauung für die Erinnerung verbleibt, nicht der wirkliche Inhalt dieser Schauung enthalten. Man kann daran erkennen, dass ebensowenig, wie die wirkliche Wahrnehmung eine bloße Illusion im Sinnesgebiet ist, so auch die der Schauung entsprechende übersinnliche Wirklichkeit dies nicht ist. Menschen, die sich mit dem Wesen des hier gemeinten Schauens nicht genügend bekanntgemacht haben und die das darüber Vorgebrachte nur von außen, nach ihren vorgefassten Meinungen beurteilen, verfallen in dieser Beziehung in einen Irrtum. Sie glauben, dass was im hellsichtigen Bewusstsein auftritt, auf einem Spiel der Phantasie oder einem Weben von Vorstellungen beruhen könne, das aus unterbewussten Tiefen der Seele wie unklare Erinnerungen heraufflutet. Solche Beurteiler wissen nicht, dass das wahrhaft hellseherische Bewusstsein nur in solchen Seeleninhalten lebt, die niemals als solche in die organischen Tiefen untertauchen können, die schon bei ihrer Entstehung dem Schicksal widerstreben, von irgendeiner Erinnerungskraft erfasst zu werden.

Eine weitere Eigentümlichkeit des hellseherischen Lebens ist die, dass sein Verlauf in wichtigen Kennzeichen abweicht von demjenigen des gewöhnlichen Seelenlebens. In diesem spielen die Übung, die Gewöhnung eine für das Menschenleben fruchtbare Rolle. Wer wiederholt eine gewisse Betätigung ausführt, der steigert seine Fähigkeit, diese Betätigung in geschickter Weise auszuführen. Wie wäre Fortschritt im Leben, in der Kunst, wie wäre irgendein Lernen überhaupt möglich, wenn nicht solcher Gewinn der menschlichen Geschicklichkeit durch Übung erreicht werden könnte. Ein Gleiches gilt aber nicht für die Aneignung des hellseherischen Schauens. Wer eine übersinnliche Erfahrung gemacht hat, der ist dadurch nicht geschickter geworden, sie ein zweitesmal zu machen. Hat er sie einmal gehabt, so ist dies ein Grund, dass sie von ihm fortstrebt. Sie sucht ihn gewissermaßen zu fliehen. Und er muss zu besonderen Seelenverrichtungen seine Zuflucht nehmen, die für ein wiederholtes Erfahren seine Seele mit einer stärkeren Kraft ausstatten als diejenige war, die ihn das erstemal in den Stand gesetzt hat, die Erfahrung zu machen. Für Anfänger auf dem übersinnlichen Seelenweg liegt in dieser Tatsache oft eine Quelle schwerer Enttäuschungen. Man kann bei entsprechenden Übungen, welche in dem in dieser Schrift angedeuteten Sinne zur Seelenverstärkung führen, verhältnismäßig leicht erste übersinnliche Erfahrungen machen. Man ist dann erst erfreut über den gemachten Fortschritt. Allein man wird bald bemerken, dass sich die gleichen Erfahrungen nicht wiederholen. Man fühlt sich dann in der Seele dem Übersinnlichen gegenüber wie leer. Was in Betracht kommt, ist, dass man sich klar darüber sein muss: dieselben Anstrengungen, die zum erstenmal zu dem Ergebnis geführt haben, wirken nicht ein zweitesmal, sondern stärkere, oft ganz andere.

Man muss sich eben zu der Einsicht durchringen, dass die Gesetze des übersinnlichen Erlebens in vielen Fällen andere, oft entgegengesetzte sind gegenüber den physischen. Aber man muss sich auch wieder hüten, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass man über das übersinnliche Erleben etwas wissen könne dadurch, dass man seine Vorgänge etwa immer als eine Umkehrung entsprechender sinnlicher denkt. Wie die Dinge im einzelnen stehen, muss eben in jedem individuellen Falle durch übersinnliche Erfahrung durchschaut werden.

Ein drittes Kennzeichen des übersinnlichen Erfahrens ist dieses, dass die Schauungen kaum einen bemessbaren Zeitinhalt hindurch vor dem hellseherischen Bewusstsein aufleuchten. Man kann sagen: in dem Augenblicke, in dem sie auftreten, sind sie auch schon wieder entflohen. Das bewirkt, dass nur rasche Besinnung, rasche Einstellung der Aufmerksamkeit zum Bemerken wahrer Schauungen führte. Wer solche rasche Besinnung und Aufmerksamkeitseinstellung nicht unter seinen Seelenfähigkeiten entwickelt, der mag Schauungen haben; er erlangt kein Wissen davon. Darin liegt der Grund, warum von den Menschen die übersinnliche Welt in einem so großen Umfange verleugnet wird, als es der Fall ist. Das übersinnliche Erleben ist wirklich viel verbreiteter, als man gewöhnlich denkt. Der Verkehr des Menschen mit der geistigen Welt ist im Grunde etwas ganz Allgemein-Menschliches. Aber die Fähigkeit, mit rasch wirkender Bewusstseinskraft diesen Verkehr erkennend zu verfolgen, muss mühsam erworben werden. Man kann sich für diese Fähigkeit im gewöhnlichen Leben geeignet machen, wenn man sich darin übt, in gewissen Lebenslagen aus raschem Überblicken dessen, was vorliegt, einen Entschluss zum Handeln zu fassen. Wer in solchen Lebenslagen sich stets an ein immer wiederkehrendes Umdrehen des Entschlusses, an ein zu nichts als Zeitverlust führendes Zaudern: «Soll ich, soll ich nicht» gewöhnt, der wird aus diesem gewöhnlichen Leben heraus sich nur in schlechter Art für die Beobachtung der geistigen Welt vorbereiten können. Wer dazu kommt, schon in diesem Leben, wenn es angebracht ist, Geistesgegenwart zu entwickeln, der wird diese in das übersinnliche Erleben hineintragen können, in dem sie ein unbedingtes Erfordernis ist.

Lägen in dem Menschen, so wie er im gewöhnlichen Leben ist, die Fähigkeiten des übersinnlichen Erlebens, er wäre für seine Aufgabe in der Sinneswelt untüchtig. Er kann in heilsamer Art zu übersinnlichen Fähigkeiten nur kommen, wenn er diese aus einem gesunden Leben in der sinnlichen Wirklichkeit heraus entwickelt. Wer durch Abkehr von diesem Leben, durch Sonderlings-Eigenschaften glaubt, der übersinnlichen Welt nahe zu kommen, der ist auf einem Irrwege. Wahres hellseherisches Schauen verhält sich zu den gesunden Verrichtungen des gewöhnlichen Bewusstseins wie dieses sich zu dem Schlafbewusstsein, dessen Inhalt in Träumen vor die Seele tritt, verhält. Wie aber durch ein ungesundes Schlafleben das gewöhnliche Bewusstsein gestört und untergraben wird, so kann auf der Grundlage einer lebensfeindlichen, lebensunpraktischen Haltung in der gewöhnlichen Wirklichkeit kein gesundes hellseherisches Schauen sich aufbauen. Je fester der Mensch im Leben steht, je verständnisvoller er den Aufgaben des gewöhnlichen intellektuellen, gefühlsmäßigen, moralischen und sozialen Daseins gegenüber sich verhält, desto gesünder wird er aus einer solchen Lebensführung die Seelenfähigkeiten hervorgehen lassen können, welche ihn zum Erleben der übersinnlichen Welten bringen.

Von einem solchen gesunden hellseherischen Schauen wollen die vorangehenden «Meditationen» sprechen. Alles Krankhafte, im üblen Sinne Visionäre und Phantastische ist auf dem Wege nicht zu finden, den sie beschreiben und der in das Erkennen der übersinnlichen Welt mündet. 

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