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Vierte Meditation

Der Meditierende versucht eine Vorstellung von dem «Hüter der Schwelle» zu bilden

Wenn die Seele zu der Fähigkeit gekommen ist, außerhalb des Sinnenleibes etwas zu beobachten, können für sie gewisse Schwierigkeiten des Gefühlslebens eintreten. Sie kann sich gezwungen sehen, eine ganz andre Stellung zu sich selbst einzunehmen, als sie vorher gewohnt war. Der Sinnenwelt stand sie so gegenüber, dass sie dieselbe als Außenwelt ansah und die Erlebnisse des Innern als ihr Eigentum. Zur übersinnlichen Außenwelt kann sie sich nicht in dieser Art verhalten. Sobald sie diese Außenwelt wahrnimmt, fließt sie gewissermaßen mit ihr zusammen; sie kann sich nicht so von ihr abgetrennt vorstellen wie von der sinnlichen Außenwelt. Dadurch nimmt alles, was sie dieser übersinnlichen Außenwelt gegenüber als die eigene Innenwelt bezeichnen kann, eine gewisse Eigentümlichkeit an, welche zunächst schwer mit den Vorstellungen von Innerlichkeit zu vereinigen ist. Man kann nicht mehr sagen: ich denke, ich fühle, oder ich habe meine Gedanken und gestalte sie. Man muss sagen: etwas denkt in mir, etwas lässt in mir Gefühle aufleuchten, etwas gestaltet die Gedanken, so dass sie in einer ganz bestimmten Art auftreten und im Bewusstsein sich als anwesend zeigen.

Dieses Gefühl kann nun etwas außerordentlich Bedrückendes dann haben, wenn die Art des übersinnlichen Erlebens sich als eine solche erweist, die Gewissheit darüber gibt, dass man richtig eine Wirklichkeit erlebt, und sich nicht einer Phantasterei oder Illusion hingibt. So wie es auftritt, kann es zeigen, dass sich die übersinnliche Außenwelt wohl erfühlen, sich denken will; dass sie aber an dem, was sie zustande bringen will, gehindert wird. Zugleich erhält man die Empfindung, dass dasjenige, was da in die Seele herein will, die wahre Wirklichkeit ist, und dass sie allein über das aufklären kann, was man bisher als Wirklichkeit erlebt hat. Auch die Form nimmt diese Empfindung an, dass die übersinnliche Wirklichkeit sich als etwas zeigt, was die bisher der Seele bekannte Wirklichkeit an Wert unendlich überstrahlt. Es hat diese Empfindung deshalb etwas Bedrückendes, weil man zu dem Gedanken kommt, den nächsten Schritt, welchen man nun zu machen hat, muss man wollen. Es liegt in der Wesenheit dessen, was man durch sein inneres Erleben geworden ist, diesen Schritt zu machen. Wie eine Verleugnung dessen, was man ist, ja wie eine Selbstvernichtung müsste man es empfinden, wenn man den Schritt nicht täte. Und doch kann auch das Gefühl auftreten, man kann ihn nicht tun, oder wenn man ihn unternimmt, so wie es möglich ist, so bleibt er unvollkommen.

Das alles verwandelt sich in die Vorstellung: so wie die Seele nunmehr ist, so liegt vor ihr eine Aufgabe, die sie nicht bewältigen kann, weil sie so, wie sie ist, von der übersinnlichen Außenwelt nicht aufgenommen wird, weil diese sie nicht in sich haben will. So kommt die Seele dazu, sich im Gegensatze zur übersinnlichen Welt zu fühlen, sie muss sich sagen, du bist nicht so, wie du mit dieser Welt zusammenfließen kannst. Sie aber kann dir nur die wahre Wirklichkeit zeigen, und auch, wie du selbst zu dieser wahren Wirklichkeit dich verhältst; du hast dich also von dem echten Beobachten des Wahren abgetrennt. Dieses Gefühl bedeutet eine Erfahrung, welche immer mehr über den ganzen Wert der eigenen Seele entscheidend wird. Man fühlt sich mit seinem vollen Leben in einem Irrtum drinnen stehend. Doch unterscheidet sich dieser Irrtum von anderen Irrtümern. Diese werden gedacht, er aber wird erlebt. Ein Irrtum, der gedacht ist, wird weggeschafft, wenn man an die Stelle des unrichtigen Gedankens den richtigen setzt. Der erlebte Irrtum ist ein Teil des Seelenlebens selbst geworden; man ist der Irrtum; man kann ihn nicht einfach verbessern, denn man mag denken, wie man will, er ist da, er ist ein Teil der Wirklichkeit, und zwar der eigenen Wirklichkeit. Ein solches Erlebnis hat etwas Vernichtendes für das eigene Selbst. Man empfindet seine Innerlichkeit schmerzvoll zurückgestoßen von allem, was man ersehnt. Dieser Schmerz, der auf einer Stufe der Seelenwanderschaft empfunden wird, überragt weit alles, was man an Schmerzen in der Sinnenwelt empfinden kann. Und deshalb kann er auch alles das überragen, dem man durch das bisherige Seelenleben gewachsen ist. Er kann etwas Betäubendes haben. Die Seele steht vor der bangen Frage, woher soll ich die Kräfte nehmen, um zu ertragen, was mir da auferlegt ist? Und sie muss innerhalb ihres eigenen Lebens diese Kräfte finden. Sie bestehen in etwas, das man als inneren Mut, als innere Furchtlosigkeit bezeichnen kann.

Um nun weiter in der Seelenwanderschaft zu kommen, muss man dazu geführt werden, dass aus dem Innern solche Kräfte des Ertragens seiner Erlebnisse sich erschließen, die inneren Mut und innere Furchtlosigkeit ergeben, wie man sie zum Leben innerhalb des Sinnenleibes nicht nötig hatte. Solche Kräfte ergeben sich nur durch wahre Selbsterkenntnis. Man sieht im Grunde auf dieser Stufe der Entwicklung erst ein, wie wenig man bisher von sich wirklich gewusst hat. Man überließ sich dem inneren Erleben, ohne dieses etwa so zu betrachten, wie man einen Teil der Außenwelt betrachtet. Man erhält aber durch die Schritte, welche zur Fähigkeit geführt haben, außerhalb des Leibes zu erleben, besondere Mittel zur Selbsterkenntnis. Man lernt sich gewissermaßen von einem Gesichtspunkt aus betrachten, der sich nur ergibt, wenn man außerhalb des sinnlichen Leibes ist. Und es ist das geschilderte bedrückende Gefühl selbst schon der Anfang wahrer Selbsterkenntnis. Sich in einem Irrtum erleben in seinem Verhältnis zur Außenwelt, das zeigt ja das eigene Seelenwesen, wie es wirklich ist.

Nun liegt es in der Natur der Menschenseele, solche Aufklärung über sich selbst als peinvoll zu empfinden. Man erfährt erst, wenn man diese Pein empfindet, wie stark die ganz selbstverständliche Sehnsucht ist, sich als Menschen, so wie man ist, als wertvoll, als bedeutungsvoll zu halten. Es mag hässlich aussehen, dass dies so ist; man muss sich dieser Hässlichkeit des eigenen Selbstes frei gegenüberstellen. Man empfand diese Hässlichkeit vorher eben aus dem Grunde nicht, weil man nie mit seinem Bewusstsein in die eigene Wesenheit wirklich eingedrungen ist. Man bemerkt erst in einem solchen Augenblicke, wie man an sich liebt, was man nun als hässlich empfinden soll. Die Gewalt der Eigenliebe zeigt sich in ihrer vollen Größe. Und zugleich zeigt sich, wie wenig Neigung man hat, diese Eigenliebe abzulegen. Wenn es sich um die Eigenschaften der Seele handelt, die für das gewöhnliche Leben, für das Verhältnis zu andern Menschen in Betracht kommen, so stellt sich die Schwierigkeit schon als groß genug heraus. Man erfährt durch wahre Selbsterkenntnis zum Beispiel, dass man bisher geglaubt hat, man stünde einem Menschen wohlwollend gegenüber, und dass man doch in den Seelengründen verborgenen Neid, oder Hass, oder ähnliches hegt. Man erkennt, dass diese bisher nicht zutage getretenen Gefühle sich ganz gewiss einmal werden äußern wollen. Und man wird gewahr, dass es ganz oberflächlich wäre, sich zu sagen: nun hast du doch erkannt, dass es so mit dir stehe, vertilge also in dir den Neid, den Hass. Man entdeckt aber, dass man mit einem solchen Gedanken ganz gewiss einmal sich recht schwach erweisen werde, wenn der Drang, den Hass zu befriedigen, den Neid auszuleben, wie mit Naturgewalt aus der Seele hervorbrechen werden. Solche besonderen Selbsterkenntnisse treten bei diesem oder jenem Menschen je nach der Beschaffenheit seines Seelenwesens auf. Sie stellen sich ein, wenn Erleben außerhalb des Sinnenleibes eintritt, weil dann die Selbsterkenntnis eben eine wahre wird, und nicht mehr getrübt sein kann von dem Wunsche, sich in der einen oder anderen Art zu finden, wie man es doch nur liebt, zu sein.

Diese besonderen Selbsterkenntnisse sind schmerzvoll, sind bedrückend für die Seele. Derjenige, der sich die Fähigkeit erwerben will, außerhalb des Leibes zu erleben, kann sie nicht vermeiden. Denn sie treten notwendig auf durch das ganz besondere Verhältnis, in das er sich zu der eigenen Seele stellen muss. Doch der stärksten Seelenkräfte bedarf es, wenn es sich um eine ganz allgemeine menschliche Selbsterkenntnis handelt. Man beobachtet sich von einem Gesichtspunkte, der außerhalb des bisherigen Seelenlebens liegt. Man sagt zu sich selber: du hast nach deiner menschlichen Wesenheit die Dinge und Vorgänge der Welt betrachtet und über sie geurteilt. Versuche dir einmal vorzustellen, du könntest sie nicht so betrachten, nicht so über sie urteilen. Dann wärest du überhaupt nicht das, was du bist. Du hättest keine inneren Erlebnisse. Du selbst wärest ein Nichts. So zu sich sagen, muss nicht etwa nur der Mensch, der im Alltagsleben drinnen steht, und sich nur selten einmal Vorstellungen über die Welt und das Leben macht. So muss jeder Wissenschafter, jeder Philosoph sagen. Denn auch Philosophie ist nur eine Beobachtung und Beurteilung der Welt nach Maßgabe der Eigenschaften des menschlichen Seelenlebens. Eine solche Beurteilung kann aber mit der übersinnlichen Außenwelt nicht zusammenfließen. Sie wird von derselben zurückgewiesen. Damit wird aber alles zurückgewiesen, was man bisher gewesen ist. Man sieht auf seine ganze Seele, auf sein «Ich» als auf etwas zurück, was man ablegen muss, wenn man die übersinnliche Welt betreten will.

Nun kann aber die Seele gar nicht anders, als dieses «Ich» für ihre eigentliche Wesenheit halten, bevor sie die übersinnliche Welt betritt. Sie muss in ihr die wahre menschliche Wesenheit sehen. Sie muss sich sagen: durch dieses mein Ich muss ich mir Vorstellungen über die Welt machen; dieses mein Ich darf ich nicht verlieren, wenn ich mich nicht als Wesenheit selbst verloren geben will. Der stärkste Trieb ist in ihr, das Ich sich überall zu wahren, um nicht allen Boden unter den Füßen zu verlieren. Was so die Seele im gewöhnlichen Leben berechtigt empfinden muss, das darf sie nicht mehr empfinden, sobald sie in die übersinnliche Außenwelt eintritt. Sie muss da eine Schwelle überschreiten, an der sie nicht den einen oder anderen wertvollen Besitz nur, an welcher sie das zurücklassen muss, was sie sich bisher selbst war. Sie muss sich sagen können, was dir bisher als deine stärkste Wahrheit zu gelten hatte, das muss nun jenseits der Schwelle zur übersinnlichen Welt dir als der stärkste Irrtum erscheinen können.

Gegenüber einer solchen Forderung kann die Seele zurückschaudern. Sie kann, was sie zu tun hätte, so stark als ein Hingeben, eine Nichtigkeitserklärung der eigenen Wesenheit empfinden, dass sie an der bezeichneten Schwelle sich mehr oder weniger die eigne Ohnmacht eingesteht, der Forderung zu genügen. Dieses Eingeständnis kann alle möglichen Formen annehmen. Es kann ganz instinktiv auftreten, und dem Menschen, der in seinem Sinne denkt und handelt, als etwas ganz anderes erscheinen, als es wirklich ist. Er kann zum Beispiel eine tiefe Abneigung gegen alle übersinnlichen Wahrheiten empfinden. Er kann sie für Träumereien, Phantastereien halten. Er tut dies nur aus dem Grunde, weil er in seinen ihm selbst unbekannten Seelengründen eine geheime Furcht vor diesen Wahrheiten hat. Er empfindet, dass er nur mit dem leben kann, was die Sinne und das Verstandesurteil offenbaren. Er vermeidet es deshalb, an die Schwelle zur übersinnlichen Welt heranzukommen. Er kleidet sich dieses Vermeiden so ein, dass er sagt, was jenseits dieser Schwelle liegen soll, ist vor Vernunft und Wissenschaft nicht haltbar. Es handelt sich aber doch nur darum, dass er Vernunft und Wissenschaft, wie er sie kennt, liebt, weil sie an sein Ich gebunden sind. Es handelt sich um eine ganz allgemein menschliche Form von Eigenliebe. Diese aber kann in die übersinnliche Welt nicht mit hineingenommen werden.

Es kann aber auch der Fall eintreten, dass es bei diesem instinktiven Haltmachen vor der Schwelle nicht bleibt. Dass der Mensch bewusst bis zu ihr herantritt, und dann umkehrt, weil er Furcht empfindet vor dem, was ihm bevorsteht. Er wird dann nicht leicht die Wirkungen verwischen können, welche durch sein Herantreten an die Schwelle sich für sein gewöhnliches Seelenleben einstellen. Diese werden in den Folgen liegen, welche die Ohnmacht, die er empfunden hat, über sein ganzes Seelensein ausbreitet.

Was eintreten soll, besteht darin, dass der Mensch sich fähig mache, das, was er im gewöhnlichen Leben als stärkste Wahrheit empfindet, beim Betreten der übersinnlichen Welt abzulegen und sich auf eine andere Art einzurichten, die Dinge zu empfinden und zu beurteilen. Er muss nur sich auch klar darüber sein, dass er, wenn er wieder der Sinnenwelt gegenübersteht, auch wieder die für diese gültige Empfindungs- und Beurteilungsart gebrauchen muss. Er muss nicht nur lernen, in zwei Welten zu leben, sondern auch in beiden auf ganz verschiedene Art zu leben. Er darf sich für das gewöhnliche Stehen in der Sinnes- und Verstandeswelt das gesunde Urteil nicht beeinträchtigen, weil er für eine andre Welt zur Anwendung einer andren Urteilsart gezwungen ist.

Für die menschliche Wesenheit ist eine solche Stellungnahme schwierig. Die Fähigkeit für sie erlangt man nur durch fortgesetzte energische und geduldige Verstärkung des Seelenlebens. Wer die Erfahrungen an der Schwelle macht, der empfindet, dass es für das gewöhnliche menschliche Seelenleben eine Wohltat ist, nicht bis zu dieser Schwelle hingeführt zu werden. Die Empfindungen, welche in ihm auftreten, sind so, dass man gar nicht anders kann, als diese Wohltat von einer wesenhaften Macht herrührend zu denken, welche den Menschen schützt vor der Gefahr, die Schrecken der Selbstvernichtung an der Schwelle zu erleben.

Es liegt hinter der Außenwelt, welche dem gewöhnlichen Leben gegeben ist, eine andre. Vor deren Schwelle steht ein strenger Hüter, welcher bewirkt, dass der Mensch nichts erfährt von dem, was Gesetze der übersinnlichen Welt sind. Denn alle Zweifel, alle Ungewissheit über diese Welt sind doch noch leichter zu ertragen, als das Schauen dessen, was man zurücklassen muss, wenn man sie betreten will.

Der Mensch bleibt geschützt vor den geschilderten Erlebnissen, solange er nicht an diese Schwelle selbst herantritt. Dass er Erzählungen von ihren Erlebnissen von denen entgegennimmt, welche diese Schwelle betreten oder überschritten haben, das ändert nichts daran, dass er geschützt ist. Dagegen kann ihm solche Entgegennahme dienen im guten Sinne, wenn er sich der Schwelle nähert. Es ist auch in diesem Falle so wie in vielen andern, dass eine Verrichtung besser vollzogen wird, wenn man vorher schon eine Vorstellung von ihr sich machen kann, als im entgegengesetzten Falle. An dem aber, was der Wanderer in die übersinnliche Welt an Selbsterkenntnis gewinnen soll, wird durch solches Vorherwissen nichts geändert. Es ist deshalb nicht den Tatsachen entsprechend, wenn manche hellsichtige oder mit dem Wesen der Hellsichtigkeit vertraute Personen behaupten, von solchen Dingen solle überhaupt im Kreise von Menschen nicht gesprochen werden, die nicht vor dem Entschlusse unmittelbar stehen, sich in die übersinnliche Welt selbst hineinzubegeben. Wir leben gegenwärtig in einer Zeit, in welcher die Menschen immer mehr mit dem Wesen der übersinnlichen Welt bekannt werden müssen, wenn sie den Forderungen des Lebens seelisch gewachsen sein wollen. Die Verbreitung der übersinnlichen Erkenntnisse und somit auch derjenigen vom Hüter der Schwelle gehört zu den Aufgaben der Gegenwart und der nächsten Zukunft.

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