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Nachwort zur Neuausgabe 1918

Wenn die Seele sich die Fähigkeit erwerben will, in die übersinnliche Welt erkennend einzudringen, so muss sie zunächst ihre Kräfte dadurch erstarken, dass sie von innen heraus eine Tätigkeit entfaltet, die im Grunde eine vorstellende ist. Aber dieses Vorstellen darf nicht bloß in der Stärke ausgeübt werden, in welcher es sich im gewöhnlichen Bewusstsein im Anschluss an das sinnliche Wahrnehmen und dieses begleitend entfaltet. Da ist das Vorstellen von einer viel geringeren Stärke als das Wahrnehmen.

Bloß in dieser Stärke geübt, könnte es nie Fähigkeiten zum Eintritte der Seele in die übersinnliche Welt entwickeln. Es muss, obgleich es bloßes Vorstellen bleibt, sich erkraften zu der Stärke des Wahrnehmens selbst. Es muss nicht im Weben schattenhafter Nachbilder des Anschaulichen verbleiben. Es muss sich selbst zur Anschaulichkeit, zur Bildhaftigkeit verdichten. Man schafft lebendige Bilder. Aber es kommt nicht darauf an, mit der Seelenkraft bloß in diesen Bildern zu verweilen. Man lenkt die Aufmerksamkeit von den Bildern ab und der eigenen bilderschaffenden Tätigkeit zu. Dadurch findet man sich in einem innerlich erkrafteten Selbstbewusstsein; man bemerkt aber auch, wenn man diese innere Seelenübung immer wieder aufgenommen hat, nach Wochen, Monaten oder auch nach längerer Zeit, dass man durch diese Erfassung seines erkrafteten Selbstbewusstseins in Zusammenhang mit einer übersinnlichen Welt gekommen ist. Erst ist die Berührung mit dieser eine chaotische, eine, die wie in allgemeinen Gefühlseindrücken erlebt wird. Nach und nach aber gestaltet sich aus dem Chaotischen eine in sich differenzierte objektive Bilderwelt heraus. Man wird gewahr, dass man sich durch die Übung des Bildergestaltens dazu fähig gemacht hat, dass fortan eine äußere geistige Wirklichkeit mit dem erstarkten Selbstbewusstsein Bilder webt, die sich in ihrer eigenen Offenbarung als Abbilder einer objektiven übersinnlichen Welt darstellen. (Dies ist, genauer beschrieben, die Erfahrung der Menschenseele mit den Bildgeweben, welchen die Seele auf ihrem Wege in die geistige Welt begegnet und von denen auf Seite 18 dieser Schrift gesprochen ist.) Indem sich der nach dem übersinnlichen Bewusstsein Strebende diese Vorgange in deutlichem inneren Erleben anschaulich macht, hat er an ihnen die untrügliche Möglichkeit, im Felde des Übersinnlichen die Wirklichkeit zu erkennen und sie von bloßen Illusionen der wähnenden Phantasie zu unterscheiden.

Seite 19 dieser Schrift wird gesagt, die Bilder des im Anfange übersinnlichen Erlebens stehenden Bewusstseins «seien zunächst wie ein Vorhang, welchen sich die Seele vor die übersinnliche Welt hinstellt, wenn sie sich von derselben berührt fühlt». Von einem solchen «Vorhange» muss man sprechen. Denn im Anfange dienen die Bilder nur dazu, das eigene Selbstbewusstsein in die übersinnliche Welt hineinzuheben. Man erfühlt sich durch sie als Geistwesen, aber man schaut durch sie noch keine objektive übersinnliche Außenwelt. Es ist, wie wenn man im Sinnesleibe Augen hätte, die man wohl als Glied des eigenen Organismus fühlt, die aber in sich nicht aufgehellt sind, so dass die Außenwelt nicht ihre Wirkungen in sie hinein entfalten kann. Man muss die in der Seele webenden Bilder gewissermaßen durch das fortdauernde Sich-Betätigen in ihnen geistig durchsichtig werden lassen. Sie werden dieses nach und nach durch ihre eigene Entwicklung. Sie werden so, dass man sie nicht schaut, sondern sie nur als in der Seele lebend fühlt, aber durch sie das Wesenhafte der übersinnlichen Wirklichkeit wahrnimmt.

Beim Eintritt in die übersinnliche Welt ist einer der ersten Wahrnehmungseindrücke der, dass man sich durch sein in diese Welt hinaufgehobenes Selbstbewusstsein in Sympathien und Antipathien mit den Wesenheiten dieser Welt verbunden schaut. (Vgl. S. 54 ff. dieser Schrift.) Man bemerkt bereits an den dadurch gemachten Erlebnissen, dass man auch mit Bezug auf sein Vorstellen die sinnliche Welt verlassen muss, wenn man in die übersinnliche wirklich eintreten will. Man kann, was man im Übersinnlichen schaut, wohl beschreiben durch Vorstellungen, die aus der sinnlichen Welt genommen sind. Man kann zum Beispiel sprechen davon, dass ein Wesen wie durch eine Farbenerscheinung sich offenbare. Allein, wer solche Beschreibungen des übersinnlich Wesenhaften entgegennimmt, sollte nie außer acht lassen, dass der wirkliche Geistesforscher mit der Angabe einer solchen Farbe meint: er erlebe etwas, was von ihm seelisch so erfahren wird, wie die Wahrnehmung der betreffenden Farbe durch das sinnliche Bewusstsein.

Wer mit seiner Schilderung zum Ausdruck bringen will: er habe vor dem Bewusstsein etwas, das gleich ist der sinnlichen Farbe, der ist nicht ein Geistesforscher, sondern ein Visionär oder ein Halluzinierender. Aber mit den Erlebnissen der Sympathie und Antipathie hat man die ersten übersinnlichen Wahrnehmungseindrücke der übersinnlichen Welt wirklich vor sich.

Es gibt Menschen, die gerade dadurch enttäuscht sind, dass der Geistesforscher ihnen sagen muss, wenn er sich durch Vorstellungen ausspricht, die vom sinnlichen Erleben hergenommen sind, so meine er nur Veranschaulichungen des von ihm Geschauten. Denn solche Menschen streben eigentlich nicht darnach, eine von der sinnlichen unterschiedene übersinnliche Welt kennenzulernen, sondern sie wollen eine Art Doppelgänger der sinnlichen als übersinnliche Welt anerkennen. Diese übersinnliche soll feiner, «ätherischer» sein als die sinnliche; aber im übrigen soll sie nur ja nicht die Anforderung erheben, auch durch andere Vorstellungen ergriffen werden zu müssen als die sinnliche. Wer aber wirklich der geistigen Welt sich nähern will, der muss sich auch dazu bequemen, neue Vorstellungen zu erwerben. Wer nur ein verdünntes, dunstartiges Abbild der sinnlichen Welt vorstellen will, der kann die übersinnliche nicht erfassen.

Die Erinnerungskraft, welche in dem Seelenleben des gewöhnlichen Bewusstseins eine hervorragende Rolle spielt, kommt als ausgeübte menschliche Fähigkeit beim Wahrnehmen der übersinnlichen Welt nicht in Betracht. (Man muss dies berücksichtigen, damit man das auf Seite 57 f. dieser Schrift Gesagte nicht missverstehe.) Diese Erinnerungskraft hat die menschliche Seele in ihrem Leben in der physischen Welt, indem sie ihre Tätigkeiten in dieser durch ihre Leibesorganisation ausübt Steht die in die übersinnliche Welt hineingehobene Seele den Wesen und Vorgängen dieser Welt gegenüber, so übt sie die Erinnerungskraft nicht aus. Sie wurde zunächst, was in dieser Welt vor ihr steht, nur anschauen, ohne dass eine Erinnerung verbliebe an die Eindrücke, wenn sie wieder in ihren Leib untertaucht. Aber es bleibt dabei doch nicht. Die Seele nimmt aus ihrem Erleben in der physischen Welt einen Nachklang der Erinnerungsfähigkeit mit, und dadurch vermag sie im übersinnlichen Erleben zu wissen: ich bin hier im Geistigen dieselbe, die ich dort im Sinnlichen bin. Diese Erinnerungsfähigkeit ist ihr notwendig, weil ihr sonst der Zusammenhang im Selbstbewusstsein verlorenginge. Außerdem aber erlangt das in die übersinnliche Welt hinaufgehobene Selbstbewusstsein auch noch die Fähigkeit, die in dieser Welt erlebten Eindrücke so umzuwandeln, dass sie im Leibe Eindrücke machen von der gleichen Art wie die sinnlichen Eindrücke der physischen Welt. Und dadurch ist es möglich, dass die Seele sich eine Art Erinnerung an das im Übersinnlichen Erlebte bewahrt. Sonst würde dieses Erlebte stets vergessen werden.

Während aber die Eindrücke der physischen Welt so auf den Menschen wirken, dass er sie später erinnern kann durch dasjenige, was sie selbst in ihm bewirkt haben, muss er im Bereich des Übersinnlichen mit den Erlebnissen selbst eine solche Verrichtung vornehmen, die es ermöglicht, dass er später auch im gewöhnlichen Bewusstsein von ihnen weiß. In den übersinnlichen Erlebnissen muss eben alles im vollen Lichte des Bewusstseins ablaufen. Immerhin hat der Geistesforscher Schwierigkeit mit dem erinnerungsmäßigen Behalten seiner im Übersinnlichen gemachten Erfahrungen. Er kann nicht leicht anderen Menschen «bloß aus dem Gedächtnisse» erzählen, was er weiß; er ist oft genötigt, wenn dies von ihm verlangt wird, in seiner Seele die Bedingungen wiederherzustellen, unter denen er die zu schildernde Erfahrung gemacht hat, um das Geschaute wieder zu schauen, wenn er sich darüber aussprechen soll.

Auch die Beziehung der im Übersinnlichen erlebten Bildet auf die ihnen entsprechende Wirklichkeit (vgl. S. 63 f dieser Schrift) ist kein solch einfacher Vorgang wie die Beziehungen eines seelischen Eindruckes auf einen sinnlichen Gegenstand oder Vorgang. Im Übersinnlichen muss das Bewusstsein diese Beziehung voll durchschauen. Es ist nicht so, wie wenn man einen Tisch vor sich hat.

Da steht der Tisch vor der Seele; was dabei in ihr vorgeht, das lebt gar nicht oder ganz abgeschattet in dem Bewusstsein. Beim Wahrnehmen einer übersinnlichen Wesenheit hat man - auch wenn man in der oben geschilderten Art das Bild «durchsichtig» gemacht hat - das gefühlsartige Erlebnis dieses Bildes im Selbstbewusstsein. Und eben dadurch, dass man sich in dieses gefühlsartige Erlebnis mit dem übersinnlichen Bewusstsein ganz hineinversenkt, tritt die Wirklichkeit vor der Seele auf, deren Erleben ganz deutlich von dem Erleben des Bildes unterschieden werden kann und muss. Es dürfen diese beiden Erlebnisse nicht ineinander verschwimmen. Denn darin läge die Quelle von Illusionen über das, was man erlebt.

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