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Darwinismus und Weltanschauung

Sollte der Zweckmäßigkeitsgedanke eine Reform im Sinne einer naturgemäßen Weltanschauung erfahren, so mussten die zweckmäßigen Gebilde der belebten Natur in derselben Art erklärt werden, wie der Physiker, der Chemiker die unbelebten Vorgänge erklären. Wenn ein Magnetstab Eisenspäne an sich zieht, so denkt kein Physiker daran, dass in dem Stab eine auf das Ziel, den Zweck des Anziehens hinarbeitende Kraft wirke. Wenn Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser sich verbinden, so deutet das der Chemiker nicht so, als wenn in den beiden Materien etwas wirkte, dem der Zweck der Wasserbildung vorschwebt.

Eine von eben solcher naturgemäßen Sinnesart beherrschte Erklärung der Lebewesen muss sich sagen: Die Organismen werden zweckmäßig, ohne dass etwas in der Natur auf diese Zweckmäßigkeit abzielt. Die Zweckmäßigkeit entsteht, ohne dass sie irgendwo als solche veranlagt wäre. Eine solche Erklärung des Zweckmäßigen hat Charles Darwin gegeben. Er stellte sich auf den Standpunkt, anzuerkennen, dass nichts in der Natur das Zweckmäßige will. Es kommt für die Natur gar nicht in Betracht, ob das, was in ihr entsteht, zweckmäßig ist oder nicht. Sie bringt also wahllos das Unzweckmäßige und das Zweckmäßige hervor.

Was ist überhaupt zweckmäßig? Doch das, was so eingerichtet ist, dass seinen Bedürfnissen, seinen Lebensbedingungen die äußeren Verhältnisse des Daseins entsprechen. Unzweckmäßig dagegen ist, bei dem solches nicht der Fall ist.

Was wird geschehen, wenn bei der vollständigen Planlosigkeit der Natur von dem Zweckmäßigsten bis zu dem Unzweckmäßigsten alle Grade von mehr oder minder Zweckmäßigem entstehen? Jedes Wesen wird suchen, sein Dasein in Gemäßheit der gegebenen Verhältnisse zu gestalten. Dem Zweckmäßigen gelingt das ohne weiteres, dem mehr oder weniger Zweckmäßigen nur in geringem Grade.

Nun kommt eines hinzu: die Natur ist keine sparsame Wirtin in bezug auf die Hervorbringung der Lebewesen. Die Zahl der Keime ist eine ungeheure. Dieser Überfülle in der Produktion der Keime steht nur ein beschränktes Maß der Mittel des Lebens gegenüber. Die Folge wird sein, dass diejenigen Wesen ein leichteres Spiel für ihre Entwicklung haben, die zweckmäßiger für die Aneignung der Lebensmittel gebildet sind.

Strebt ein zweckmäßiger eingerichtetes neben einem unzweckmäßiger eingerichteten Wesen nach Erhaltung seines Daseins, so wird das Zweckmäßigere dem Unzweckmäßigeren den Rang ablaufen. Das Letzte muss neben dem Ersten zugrunde gehen. Das Tüchtige, das heißt das Zweckmäßige, erhält sich, das Untüchtige, das heißt das Unzweckmäßige, erhält sich nicht. Das ist der «Kampf ums Dasein». Er bewirkt, dass Zweckmäßiges sich erhält, auch wenn in der Natur wahllos das Unzweckmäßige neben dem Zweckmäßigen entsteht. Durch ein Gesetz, das so objektiv, so weisheitlos ist, wie nur ein mathematisches oder mechanisches Naturgesetz sein kann, erhält der Gang der Naturentwicklung die Tendenz zur Zweckmäßigkeit, ohne dass diese Tendenz irgendwie in die Natur gelegt wäre.

Darwin wurde auf diesen Gedanken durch das Werk des Nationalökonomen Malthus geführt «Über die Bedingungen und die Folgen der Volksvermehrung». In diesem ist ausgeführt, dass innerhalb der menschlichen Gesellschaft ein unaufhörlicher Wettkampf stattfindet, weil die Bevölkerung in viel rascherem Maße wächst als die Nahrungsmittelmenge. Dieses hier für die Menschheitsgeschichte aufgestellte Gesetz verallgemeinerte Darwin zu einem umfassenden Gesetz der ganzen Lebewelt.

Darwin wollte nun zeigen, wie dieser Kampf ums Dasein zum Schöpfer der mannigfaltigen Formen lebender Wesen wird, wie durch ihn der alte Linnésche Grundsatz umgestoßen wird, dass wir «Spezies im Tier- und Pflanzenreich so viele zählen, als verschiedene Formen im Prinzip geschaffen sind».

Die Zweifel an diesem Grundsatz bildeten sich bei Darwin klar aus, als er sich im Sommer 1831 auf einer Reise nach Südamerika und Australien befand. Er teilt mit, wie diese Zweifel bei ihm sich festsetzten:

«Als ich während der Fahrt des Beagle den Galapagosarchipel, der im Stillen Ozean etwa fünfhundert englische Meilen von der südamerikanischen Küste entfernt liegt, besuchte, sah ich mich von eigentümlichen Arten von Vögeln, Reptilien und Schlangen umgeben, die sonst nirgends in der Welt existieren. Doch trugen sie fast alle amerikanisches Gepräge an sich. Im Gesang der Spottdrossel, in dem scharfen Geschrei des Aasgeiers, in den großen, leuchterähnlichen Opuntien bemerkte ich deutlich die Nachbarschaft mit Amerika; und doch waren diese Inseln durch so viele Meilen vom Festlande entfernt und wichen in ihrer geologischen Konstitution, in ihrem Klima weit von ihm ab. Noch überraschender war die Tatsache, dass die meisten Bewohner jeder einzelnen Insel dieses kleinen Archipels spezifisch verschieden waren, wenn auch untereinander nahe verwandt. Ich habe mich damals oft gefragt, wie diese eigentümlichen Tiere und Menschen entstanden seien. Die einfachste Art schien zu sein, dass die Bewohner der verschiedenen Inseln voneinander abstammen und im Verlauf ihrer Abstammung Modifikationen erlitten hätten, und dass alle Bewohner des Archipels von denen des nächsten Festlandes, nämlich Amerika, von welchem die Kolonisation natürlich herrühren würde, abstammen. Es blieb mir aber lange ein unerklärliches Problem, wie der notwendige Modifikationsgrad erreicht worden sein könne.»

In der Antwort auf dieses Wie liegt die naturgemäße Auffassung der Entwicklung des Lebendigen. Wie der Physiker einen Stoff in verschiedene Verhältnisse bringt, um seine Eigenschaften kennen zu lernen, so beobachtete Darwin nach seiner Heimkehr die Erscheinungen, die sich am lebendigen Wesen in verschiedenen Verhältnissen ergeben. Er machte Züchtungsversuche mit Tauben, Hühnern, Hunden, Kaninchen und Kulturgewächsen.

Durch sie zeigte sich, wie die lebenden Formen im Verlaufe ihrer Fortpflanzung sich fortwährend verändern. In gewissen Verhältnissen verändern sich gewisse Lebewesen nach wenigen Generationen so, dass man, falls man die neuentstandenen Formen mit ihren Ahnen vergleicht, von zwei ganz verschiedenen Spezies sprechen könnte, von denen jede nach einem eigenen Organisationsplan sich richtet. Solche Veränderlichkeit der Formen benutzt der Züchter, um Kulturorganismen zur Entwicklung zu bringen, die gewissen Absichten entsprechen. Er kann eine Schafsorte mit besonders feiner Wolle züchten, wenn er nur diejenigen Individuen seiner Herde sich fortpflanzen lässt, die die feinste Wolle haben.

Innerhalb der Nachkommenschaft sucht er wieder die Individuen heraus, die mit der feinsten Wolle ausgestattet sind. Die Feinheit der Wolle steigert sich dann im Laufe der Generationen. Man erlangt nach einiger Zeit eine Schafspezies, die in der Bildung der Wolle sich sehr weit von ihren Vorfahren entfernt. Ein Gleiches ist bei anderen Eigenschaften der Lebewesen der Fall.

Es folgt zweierlei aus dieser Tatsache. Einmal, dass in der Natur die Tendenz liegt, die Lebewesen zu wandeln; und dann, dass eine Eigenschaft, die nach einer gewissen Richtung sich zu wandeln angefangen hat, sich nach dieser Richtung steigert, wenn bei der Fortpflanzung der Lebewesen diejenigen Individuen ferngehalten werden, welche diese Eigenschaft noch nicht haben. Die organischen Formen nehmen also im Laufe der Zeit andere Eigenschaften an und halten sich in der Richtung ihrer einmal eingeschlagenen Verwandlung. Sie verwandeln sich und vererben gewandelte Eigenschaften. auf ihre Nachkommen.

Die natürliche Folgerung aus dieser Beobachtung ist, dass Wandlung und Vererbung zwei in der Entwicklung der Lebewesen treibende Prinzipien sind. Nimmt man nun an, dass in naturgemäßer Weise in der Welt die Wesen sich so wandeln, dass Zweckmäßiges neben Unzweckmäßigem und mehr oder minder Zweckmäßigem entsteht, so muss man auch einen Kampf der mannigfaltigen gewandelten Formen voraussetzen. Dieser Kampf bewirkt planlos, was der Züchter planvoll macht. Wie dieser diejenigen Individuen von der Fortpflanzung ausschließt, die in die Entwicklung dasjenige hineinbringen würden, was er nicht will, so beseitigt der Kampf ums Dasein das Unzweckmäßige. Es bleibt nur das Zweckmäßige für die Entwicklung. In diese wird dadurch, wie ein mechanisches Gesetz, die Tendenz zur steten Vervollkommnung gelegt.

Darwin durfte, nachdem er dieses erkannt und damit der naturgemäßen Weltanschauung ein sicheres Fundament gelegt hatte, an das Ende seines eine neue Epoche des Denkens einleitenden Werkes «Die Entstehung der Arten» die enthusiastischen Worte setzen:

«Aus dem Kampf der Natur, aus Hunger und Tod geht daher das Höchste, was wir zu erfassen vermögen, die Produktion der höheren Tiere hervor. Es liegt etwas Großartiges in dieser Ansicht vom Leben, wonach es mit allen seinen verschiedenen Kräften von dem Schöpfer aus wenig Formen, oder vielleicht nur einer, ursprünglich erschaffen wurde; und dass, während dieser Planet gemäß den bestimmten Gesetzen der Schwerkraft im Kreise sich bewegt, aus einem schlichten Anfang eine endlose Zahl der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt wurden und noch entwickelt werden.»

Zugleich ist aus diesem Satze zu ersehen, dass Darwin nicht durch irgendwelche antireligiöse Empfindungen, sondern allein aus den Folgerungen heraus, die sich ihm aus den deutlich sprechenden Tatsachen ergeben haben, zu seiner Anschauung gelangt ist.

Bei ihm war es gewiss nicht der Fall, dass Feindseligkeit gegen die Bedürfnisse des Gefühls ihn zu einer vernünftigen Naturansicht bestimmte, denn er sagt uns in seinem Buche deutlich, wie die gewonnene Ideenwelt zu seinem Herzen spricht:

«Sehr hervorragende Schriftsteller scheinen von der Ansicht, dass jede der Arten unabhängig erschaffen wurde, völlig befriedigt zu sein. Meiner Meinung nach stimmt es besser mit den, soweit wir es wissen, der Materie vom Schöpfer eingeprägten Gesetzen überein, dass das Hervorbringen und Erlöschen der früheren und jetzigen Bewohner der Erde, ebenso wie die Bestimmungen über Geburt und Tod eines Individuums, von sekundären Ursachen abhängig sind. Betrachte ich alle Wesen nicht als Sonderschöpfungen, sondern als lineare Abkömmlinge einiger weniger Wesen, die schon lange, bevor die jüngeren geologischen Schichten abgelagert waren, lebten, so scheinen sie mir dadurch veredelt zu sein ... Wir dürfen vertrauensvoll einer Zukunft von großer Länge entgegensehen. Und da die natürliche Zuchtwahl nur durch und für das Gute jedes Wesens wirkt, so werden alle körperlichen und geistigen Begabungen der Vollkommenheit zustreben.»

An einer Fülle von Tatsachen zeigte Darwin, wie die Organismen wachsen und sich fortpflanzen, wie sie im Verlaufe ihrer Fortentwicklung einmal angenommene Eigenschaften vererben, wie neue Organe entstehen und sich durch Gebrauch oder Nichtgebrauch wandeln, wie sich also die Geschöpfe an ihre Daseinsbedingungen anpassen; und endlich wie der Kampf ums Dasein eine natürliche Auswahl (Zuchtwahl) trifft, wodurch mannigfaltige, immer vollkommenere Formen entstehen.

Damit scheint eine Erklärung zweckmäßiger Wesen gefunden, die es nicht nötig macht, in der organischen Natur anders zu verfahren als in der unorganischen Solange man eine solche Erklärung nicht geben konnte, musste man, wenn man folgerichtig sein wollte, zugeben, dass überall da, wo innerhalb der Natur ein Zweckmäßiges entsteht, eine der Natur fremde Macht eingreift. Damit war im Grunde für jeden solchen Fall ein Wunder zugegeben.

Diejenigen, die sich jahrzehntelang vor dem Erscheinen des Darwinschen Werkes um eine naturgemäße Welt- und Lebensansicht bemühten, empfanden nunmehr in der allerlebhaftesten Weise, dass eine neue Richtung des Denkens gegeben war. Eine solche Empfindung hat 1872 David Friedrich Strauß in seinem «Alten und neuen Glauben» mit den Worten zum Ausdruck gebracht:

«Man sieht, dahin ... muss es gehen, wo die Fähnlein lustig im Winde flattern. Ja lustig, und zwar im Sinne der reinsten erhabensten Geistesfreude. Wir Philosophen und kritischen Theologen haben gut reden gehabt, wenn wir das Wunder in Abgang dekretierten; unser Machtspruch verhallte ohne Wirkung, weil wir es nicht entbehrlich zu machen, keine Naturkraft nachzuweisen wussten, die es an den Stellen, wo es bisher am meisten für unerlässlich galt, ersetzen konnte. Darwin hat diese Naturkraft, dieses Naturverfahren nachgewiesen, er hat die Tür geöffnet, durch welche eine glücklichere Nachwelt das Wunder auf Nimmerwiederkehr hinauswerfen wird. Jeder, der weiß, was am Wunder hängt, wird ihn dafür als einen der größten Wohltäter des menschlichen Geschlechts preisen.»

Durch Darwins Zweckmäßigkeitsidee ist es möglich, den Begriff der Entwicklung wirklich in naturgesetzlicher Weise zu denken. Der alten Einschachtelungslehre, die annimmt, dass alles, was entsteht, in verborgener Form schon früher vorhanden war (vgl. Seite 286 des ersten Bandes dieses Buches), waren damit ihre letzten Hoffnungen geraubt. Innerhalb eines im Sinne Darwins gedachten Entwicklungsvorgangs ist das Vollkommene in keiner Weise in dem Unvollkommenen schon enthalten.

Denn die Vollkommenheit eines höheren Wesens entsteht durch Vorgänge, die mit den Vorfahren dieses Wesens schlechterdings gar nichts zu tun haben. Man denke: eine gewisse Entwicklungsreihe sei bei den Beuteltieren angelangt. In der Form der Beuteltiere liegt nichts, rein gar nichts von einer höheren, vollkommeneren Form. Es liegt in ihr nur die Fähigkeit, sich im weiteren Verlaufe ihrer Fortpflanzung wahllos zu verwandeln. Es treten nun Verhältnisse ein, die von jeder «inneren» Entwicklungsanlage der Beuteltierform unabhängig sind, die aber solche sind, dass sich von allen möglichen Wandelformen aus den Beuteltieren die Halbaffen erhalten. Es war in der Beuteltierform so wenig die Halbaffenform enthalten, wie in der Richtung einer rollenden Billardkugel der Weg enthalten ist, den sie einschlägt, nachdem sie von einer zweiten Kugel gestoßen worden ist.

Denen, die an eine idealistische Denkweise gewöhnt waren, wurde die Auffassung dieses reformierten Entwicklungsbegriffes nicht leicht. Der aus Hegels Schule hervorgegangene, äußerst scharfsinnige und feine Geist Friedrich Theodor Vischer schreibt noch 1874 in einem Aufsatze:

«Entwicklung ist ein Herauswickeln aus einem Keime, welches von Versuch zu Versuch fortschreitet, bis das Bild, das als Möglichkeit im Keime lag, wirklich geworden ist, dann aber stillstehend die gefundene Form als bleibende festhält. Überhaupt jeder Begriff kommt ins Schwanken, wenn wir die Typen, die nun seit so vielen Jahrtausenden auf unserem Planeten bestehen, und vor allem, wenn wir unseren eigenen Menschentypus für immer noch veränderlich halten sollen. Wir können dann unseren Gedanken, ja unseren Denkgesetzen, unseren Gefühlen, den Idealbildern unserer Phantasie, die doch nichts anderes sind als läuternde Nachbildungen von Formen der uns bekannten Natur: wir können keinem dieser festen Halte unserer Seele mehr trauen. Alles ist in Frage gestellt.» Und an einer anderen Stelle desselben Aufsatzes lesen wir: «Es wird mir zum Beispiel immer noch etwas schwer, zu glauben, dass man das Auge vom Sehen, das Ohr vom Hören bekomme. Das ungemeine Gewicht, das auf die Zuchtwahl gelegt wird, will mir auch nicht einleuchten.»

Wenn Vischer gefragt worden wäre, ob er sich vorstellt, dass im Wasserstoff und Sauerstoff ein Bild des Wassers im Keime liege, damit dieses sich aus ihnen herausentwickeln könne, so würde er ohne Zweifel geantwortet haben: Nein; weder im Sauerstoff noch im Wasserstoff liegt etwas vom Wasser; die Bedingungen zur Entstehung dieses Stoffes sind erst in dem Augenblicke vorhanden, in dem Wasserstoff und Sauerstoff unter gewissen Verhältnissen zusammentreten. Braucht es nun anders zu sein, wenn aus dem Zusammenwirken der Beuteltiere mit den äußeren Daseinsbedingungen die Halbaffen entstehen ? Warum sollen die Halbaffen schon als Möglichkeit als, Bild in den Beuteltieren verborgen liegen, damit sie sich aus ihnen herausentwickeln können? Was durch Entwicklung entsteht, entsteht neu, ohne dass es vorher in irgendeiner Form vorhanden gewesen ist.

Besonnene Naturforscher empfanden das Gewicht der neuen Zweckmäßigkeitslehre nicht weniger als Denker wie Strauß. Ohne Zweifel gehört Hermann Helmholtz zu denen, die in den fünfziger und sechziger Jahren als Repräsentanten solcher besonnenen Naturforscher gelten konnten. Er betont, wie die wunderbare und vor der wachsenden Wissenschaft immer reicher sich entfaltende Zweckmäßigkeit im Aufbau und in den Verrichtungen der Lebewesen geradezu herausfordert die Lebensvorgänge mit menschlichen Handlungen zu vergleichen. Denn diese sind die einzige Reihe von Erscheinungen, die einen ähnlichen Charakter wie die organischen Phänomene tragen. Ja, die zweckmäßigen Einrichtungen in der Organismenwelt übersteigen für unser Beurteilungsvermögen zumeist das weit, was menschliche Intelligenz zu schaffen vermag. Es ist also nicht zu verwundern, wenn man darauf verfallen ist, Bau und Tätigkeit der Lebewelt menschlichen weit überlegene Intelligenz zurückzuführen.

«Man musste daher» - sagt Helmholtz - «vor Darwin nur zwei Erklärungen der organischen Zweckmäßigkeit zugeben, welche aber beide auf Eingriffe freier Intelligenz in den Ablauf der Naturerscheinungen zurückführten.

Entweder betrachtete man, der vitalistischen Theorie gemäß, die Lebensprozesse als fortdauernd geleitet durch eine Lebensseele; oder man griff für jede lebende Spezies auf einen Akt übernatürlicher Intelligenz zurück, durch den sie entstanden sein sollte ... Darwins Theorie enthält einen wesentlich neuen schöpferischen Gedanken. Sie zeigt, wie eine Zweckmäßigkeit der Bildung in den Organismen auch ohne alle Einmischung von Intelligenz durch das blinde Walten eines Naturgesetzes entstehen kann. Es ist dies das Gesetz der Forterbung der individuellen Eigentümlichkeiten von den Eltern auf die Nachkommen; ein Gesetz, was längst bekannt und anerkannt war und nur eine bestimmte Abgrenzung zu erhalten brauchte.»

Helmholtz ist nun der Ansicht, dass durch das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl im Kampf ums Dasein eine solche Abgrenzung des Gesetzes gegeben worden sei.

Und ein Forscher, der nicht weniger als Helmholtz zu den vorsichtigsten gehörte, J. Henle, führt in einem Vortrag aus:

«Sollten die Erfahrungen der künstlichen Züchtung auf die Oken-Lamarcksche Hypothese Anwendung finden, so musste gezeigt werden, wie die Natur es anfängt, um von sich aus die Veranstaltungen zu treffen, mittels deren der Experimentator sein Ziel erreicht. Dies ist die Aufgabe, welche Darwin sich gestellt und mit bewundernswertem Eifer und Scharfsinn verfolgt hat.»

Die größte Begeisterung unter allen empfanden die Materialisten über Darwins Tat. Ihnen war ja längst klar, dass ein solcher Mann über kurz oder lang kommen musste, der das aufgehäufte, nach einem leitenden Gedanken drängende Tatsachengebiet philosophisch beleuchtete. Nach ihrer Meinung konnte, nach Darwins Entdeckung, der Weltanschauung, für die sie sich eingesetzt hatten, der Sieg nicht ausbleiben.

Darwin ist als Naturforscher an seine Aufgabe herangetreten. Er hat sich zunächst innerhalb der Grenzen eines solchen gehalten. Dass seine Gedanken auf die Grundfragen der Weltanschauung, auf das Verhältnis des Menschen zur Natur, ein helles Licht werfen können, das wird in seinem grundlegenden Buch nur gestreift:

«In der Zukunft sehe ich ein offenes Feld für weit wichtigere Forschungen. Die Psychologie wird sich sicherlich auf ... die Grundlage stützen: die Notwendigkeit, jede geistige Kraft und Fähigkeit stufenweise zu erwerben. Viel Licht mag auch noch über den Ursprung des Menschen und seine Geschichte verbreitet werden.»

Diese Frage nach dem Ursprung des Menschen wurde den Materialisten, nach Büchners Ausdruck, geradezu zur Herzensangelegenheit. Er sagte in den Vorlesungen, die er in dem Winter 1866/67 in Offenbach hielt:

«Muss die Umwandlungstheorie auch auf unser eigenes Geschlecht, auf den Menschen oder auf uns selbst angewendet werden? Müssen wir uns gefallen lassen, dass dieselben Prinzipien oder Regeln, welche die übrigen Organismen in das Leben gerufen haben, auch für unsere eigene Entstehung und Herkunft gelten sollen? Oder machen wir - die Herren der Schöpfung - eine Ausnahme?»

Die Naturwissenschaft lehrte deutlich, dass der Mensch keine Ausnahme machen könne. Auf Grund genauer anatomischer Untersuchungen konnte der englische Naturforscher Huxley 1863 in seinen «Zeugnissen für die Stellung des Menschen in der Natur» den Satz aussprechen:

«Die kritische Vergleichung aller Organe und ihrer Modifikationen innerhalb der Affenreihe führt uns zu diesem einen und demselben Resultate, dass die anatomischen Verschiedenheiten, welche den Menschen vom Gorilla und Schimpansen trennen, nicht so groß sind, als die Unterschiede, welche diese Menschenaffen von den niedrigeren Affenarten scheiden.»

Konnte man solchen Tatsachen gegenüber noch zweifeln, dass die naturgemäße Entwicklung, die durch Wachstum und Fortpflanzung, durch Erblichkeit, Veränderlichkeit der Formen und Kampf ums Dasein die Reihe der organischen Wesen bis zum Affen herauf hat entstehen lassen, zuletzt auf dem ganz gleichen Wege auch den Menschen erzeugt hat?

Die Grundanschauung drang eben im Laufe des Jahrhunderts immer tiefer ein in den Bestand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, von der Goethe - allerdings auf seine Art - durchdrungen war, und wegen welcher er mit aller Energie daran ging, die Meinung seiner Zeitgenossen zu berichtigen, dass dem Menschen in der oberen Kinnlade ein sogenannter Zwischenkieferknochen fehle. Alle Tiere sollen diesen Knochen haben, nur der Mensch nicht, dachte man. Und darin sah man den Beweis, dass der Mensch anatomisch von den Tieren sich unterscheide, dass. er, seinem Bauplan nach, anders gedacht sei. Die naturgemäße Denkart Goethes forderte von ihm, dass er zur Hinwegschaffung dieses Irrtums emsige anatomische Studien betrieb. Und als ihm sein Ziel gelungen war, schrieb er im Vollgefühl davon, dass er etwas getan, was der Erkenntnis der Natur im höchsten Maße förderlich sei, an Herder:

«Ich verglich ... Menschen- und Tierschädel, kam auf die Spur, und siehe, da ist es! Nun bitt' ich dich, lass dich nichts merken; denn es muss geheim behandelt werden. Es soll dich auch recht herzlich freuen; denn es ist wie der Schlussstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber wie!»

Unter dem Einflusse solcher Vorstellungen wurde die große Weltanschauungsfrage nach dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zur Außenwelt zu der Aufgabe, auf naturwissenschaftlichem Wege zu zeigen, welches die tatsächlichen Vorgänge sind, die im Laufe der Entwicklung zur Bildung des Menschen geführt haben. Damit änderte sich der Gesichtspunkt, von dem aus man die Naturerscheinungen zu erklären suchte. Solange man in jedem Organismus, und damit auch im Menschen, einen zweckmäßigen Bauplan verwirklicht sah, musste man bei der Erklärung der Wesen diesen Zweck ins Auge fassen. Man musste eben darauf Bedacht nehmen, dass im Embryo sich der spätere Organismus in der Anlage vorher verkündigt. Aufs ganze Weltall ausgedehnt, bedeutete dies, dass diejenige Naturerklärung ihre Aufgabe am besten erfülle, die zeigt, wie die Natur auf den früheren Stufen ihrer Entwicklung sich darauf vorbereitet, die späteren, und, auf dem Gipfel, den Menschen zu erzeugen.

Die moderne Entwicklungsidee verwarf alle Neigung der Erkenntnis, in dem Früheren bereits das Spätere zu sehen. Für sie war ja in keiner Weise das Spätere im Früheren enthalten. Dagegen bildete sich in ihr immer mehr der Grundsatz aus, in dem Späteren das Frühere zu suchen. Dieser Grundsatz bildete ja ein Bestandstück des Prinzips der Vererbung. Man darf geradezu von einer Umkehrung der Richtung des Erklärungsbedürfnisses sprechen.

Wichtig wurde diese Umkehrung für die Ausbildung der Gedanken über die Entwicklung des einzelnen organischen Individuums vom Ei bis zum reifen Zustande, für die sogenannte Keimesgeschichte (Ontogenie). Statt sich vorzuhalten, dass sich im Embryo die späteren Organe vorbereiten, ging man daran, die Formen, die der Organismus im Laufe seiner individuellen Entwicklung vom Ei bis zur Reife annimmt, mit anderen Organismenformen zu vergleichen.

Schon Lorenz Oken verfolgte eine solche Spur. Er schrieb im vierten Band seiner «Allgemeinen Naturgeschichte für alle Stände» (S. 468):

«Ich bin durch meine physiologischen Untersuchungen schon vor einer Reihe von Jahren auf die Ansicht gekommen, dass die Entwicklungszustände des Küchelchens im Ei Ähnlichkeit haben mit den verschiedenen Tierklassen, so dass es Anfangs gleichsam nur die Organe der Infusorien besitze, dann allmählich die der Polypen, Quallen, Muscheln, Schnecken usw. erhalte. Umgekehrt musste ich dann auch die Tierklassen als Entwicklungsstufen betrachten, welche denen des Küchelchens parallel gingen. Diese Ansicht von der Natur forderte die genaueste Vergleichung derjenigen Organe, welche in einer jeden höheren Tierklasse neu zu den andern hinzukommen, und ebenso derjenigen, welche im Küchelchen sich während des Brütens nacheinander entwickeln. Ein vollkommener Parallelismus ist natürlich nicht so leicht bei einem so schwierigen und noch lange nicht hinlänglich beobachteten Gegenstande herzustellen.

Zu beweisen aber, dass er wirklich vorhanden sei, ist in der Tat nicht schwer: dieses zeigt am deutlichsten die Verwandlung der Insekten, welche nichts weiter ist, als eine Entwicklung der Jungen, die außerhalb dem Ei vor unsern Augen vorgeht, und zwar so langsam, dass wir jeden embryonischen Zustand mit Muße betrachten und untersuchen können.»

Oken vergleicht die Verwandlungszustände der Insekten mit anderen Tieren und findet, dass die Raupen die größte Ähnlichkeit mit den Würmern haben, die Puppen mit den Krebsen. Aus solchen Ähnlichkeiten schließt der geniale Denker:

«Es ist daher kein Zweifel, dass hier eine auffallende Ähnlichkeit besteht, welche die Idee rechtfertigt, dass die Entwicklungsgeschichte im Ei nichts anderes sei, als eine Wiederholung der Schöpfungsgeschichte der Tierklassen.»

Es lag in der Natur dieses geistvollen Mannes, eine große Idee auf Grund eines glücklichen Aperçus zu ahnen. Er brauchte zu einer solchen Ahnung nicht einmal die entsprechend vollrichtigen Tatsachen. Aber es liegt auch in der Natur solcher geahnten Ideen, dass sie auf die Arbeiter im Felde der Wissenschaft keinen großen Eindruck machen. Wie ein Komet blitzt Oken am deutschen Weltanschauungshimmel auf. Eine Fülle von Licht entwickelt er. Aus einem reichen Ideenbesitz heraus gibt er Leitbegriffe für die verschiedensten Tatsachengebiete. Doch hatte die Art, wie er sich Tatsachenzusammenhänge zurechtlegte, zumeist etwas Gewaltsames. Er arbeitete auf die Pointe los. Das war auch bei dem oben genannten Gesetze der Wiederholung gewisser Tierformen in der Keimentwicklung anderer der Fall.

Im Gegensatz zu Oken hielt sich Carl Ernst von Baer möglichst an das rein Tatsächliche, als er 1828 in seiner «Entwicklungsgeschichte der Tiere» von dem sprach, was Oken zu seiner Idee geführt hat.

«Die Embryonen der Säugetiere, Vögel, Eidechsen und Schlangen, wahrscheinlich auch der Schildkröten, sind in frühen Zuständen einander ungemein ähnlich im Ganzen sowie in der Entwicklung der einzelnen Teile; so ähnlich, dass man oft die Embryonen nur nach der Größe unterscheiden kann. Ich besitze zwei kleine Embryonen in Weingeist, für die ich versäumt habe, die Namen zu notieren; und ich bin jetzt durchaus nicht imstande, die Klasse zu bestimmen, der sie angehören. Es können Eidechsen, kleine Vögel oder ganz junge Säugetiere sein. So übereinstimmend ist Kopf- und Rumpfbildung in diesen Tieren. Die Extremitäten fehlen aber jenen Embryonen noch. Wären sie auch da, auf der ersten Stufe der Ausbildung begriffen, so würden sie doch nichts lehren, da die Füße der Eidechsen und Säugetiere, die Flügel und Füße der Vögel, sowie die Hände und Füße der Menschen sich aus derselben Grundform entwickeln.»

Solche Tatsachen der Keimesgeschichte mussten bei denjenigen Denkern, die zum Darwinismus mit ihren Überzeugungen neigten, das größte Interesse hervorrufen. Darwin hatte die Möglichkeit erwiesen, dass die organischen Formen sich wandeln, und dass auf dem Wege der Umwandlung die heute lebenden Arten von wenigen, vielleicht nur von einer ursprünglichen abstammen. Nun zeigen sich die mannigfaltigen Lebewesen auf ihren ersten Entwicklungsstufen so ähnlich, dass man sie kaum oder gar nicht unterscheiden kann.

Beides, diese Tatsache der Ähnlichkeit und jene Abstammungsidee, brachte 1864 Fritz Müller in einer gedankenvollen Schrift «Für Darwin» in organische Verbindung. Müller ist eine von denjenigen hochsinnigen Persönlichkeiten, deren Seelen eine naturgemäße Weltanschauung zum geistigen Atmen unbedingt brauchen. Er empfand auch an seinem eigenen Handeln allein Befriedigung, wenn er nur den Motiven gegenüber das Gefühl haben konnte, dass sie notwendig wie eine Naturkraft sind. Im Jahre 1852 übersiedelte Müller nach Brasilien. Er bekleidete zwölf Jahre lang eine Gymnasiallehrerstelle in Desterro (auf der Insel Santa Catharina unweit der Küste von Brasilien). 1867 musste er auch diese Stellung aufgeben. Der Mann der neuen Weltanschauung musste der Reaktion weichen, die sich unter dem Einflusse der Jesuiten seiner Lehranstalt bemächtigte. Ernst Haeckel hat in der «Jenaischen Zeitschrift für Naturwissenschaft» (XXXI. Band N. F. XXIV, 1897) das Leben und die Wirksamkeit Fritz Müllers beschrieben. Von Darwin wurde dieser als «Fürst der Beobachter» bezeichnet.

Und aus einer Fülle von Beobachtungen heraus ist die kleine, aber bedeutungsvolle Schrift «Für Darwin» entstanden. Sie behandelte eine einzelne Gruppe von organischen Formen, die Krebse, in dem Geiste, von dem Fritz Müller glaubte, dass er sich aus der Darwinschen Anschauung ergeben müsse. Er zeigte, dass die in ihren reifen Zuständen voneinander verschiedenen Krebsformen einander vollkommen ähnlich sind in der Zeit, in der sie aus dem Ei schlüpfen.

Setzt man voraus, dass im Sinne der Darwinschen Abstammungslehre die Krebsformen aus einer Ur-Krebsform sich entwickelt haben, und nimmt man an, dass die Ähnlichkeit in Jugendzuständen dieser Tiere ein Erbstück von ihrer gemeinsamen Ahnenform her ist, so hat man die Ideen Darwins vereinigt mit denen Okens von der Wiederholung der Schöpfungsgeschichte der Tierklassen in der Entwicklung der einzelnen Tierform.

Diese Vereinigung hat Fritz Müller auch vollzogen. Er brachte dadurch die frühen Formen einer Tierklasse in eine bestimmte gesetzmäßige Verbindung mit den späteren, die sich durch Umwandlung aus ihnen gebildet haben. Dass einmal eine Ahnenform eines heute lebenden Wesens so und so ausgesehen hat, das hat bewirkt, dass dieses heute lebende Wesen in einer Zeit seiner Entwicklung so und so aussieht. An den Entwicklungsstadien der Organismen erkennt man ihre Ahnen; und die Beschaffenheit der letzten bewirkt die Charaktere der Keimformen. Stammesgeschichte und Keimesgeschichte (Phylogenie und Ontogenie) sind in Fritz Müllers Buch verbunden wie Ursache und Wirkung. Damit war ein neuer Zug in die Darwinsche Ideenrichtung gekommen. Dieses wird auch dadurch nicht abgeschwächt, dass Müllers Krebsforschungen durch die späteren Untersuchungen Arnold Langs modifiziert wurden.

Es waren erst vier Jahre vergangen seit dem Erscheinen von Darwins Buch «Entstehung der Arten», als Müllers Schrift zu seiner Verteidigung und Bestätigung erschien. Er hatte an einer einzelnen Tierklasse gezeigt, wie man im Geiste der neuen Ideen arbeiten soll.

Sieben Jahre nach der «Entstehung der Arten», im Jahre 1866, erschien bereits ein Buch, das ganz durchdrungen von diesem neuen Geiste war, das von hoher Warte herab mit den Ideen des Darwinismus den Zusammenhang der Lebenserscheinungen beleuchtete: Ernst Haeckels «Generelle Morphologie der Organismen». Jede Seite dieses Buches verrät das große Ziel, von den neuen Gedanken aus eine Umschau über die Gesamtheit der Naturerscheinungen zu halten. Aus dem Darwinismus heraus suchte Haeckel eine Weltanschauung.

Nach zwei Richtungen hin war Haeckel bestrebt, für die neue Weltanschauung das Möglichste zu tun: er bereicherte unablässig das Wissen von den Tatsachen, die Aufschluss geben über den Zusammenhang der Naturwesen und Naturkräfte; und er zog mit eiserner Konsequenz aus diesen Tatsachen die Ideen, die das menschliche Erklärungsbedürfnis befriedigen sollen. Er ist von der unerschütterlichen Überzeugung durchdrungen, dass der Mensch für alle seine Seelenbedürfnisse aus diesen Tatsachen und diesen Ideen volle Befriedigung gewinnen kann.

Wie es Goethe auf seine Art klar war, so ist es auch ihm auf die seinige klar, dass die Natur «nach ewigen, notwendigen, dergestalt göttlichen Gesetzen wirkt, dass die Gottheit selbst daran nichts ändern könnte». Und weil ihm dieses klar ist, verehrt er in den ewigen und notwendigen Gesetzen der Natur und in den Stoffen, an denen sich diese Gesetze betätigen, seine Gottheit. Wie die Harmonie der in sich mit Notwendigkeit zusammenhängenden Naturgesetze, nach seiner Anschauung, die Vernunft befriedigt, so bietet sie auch dem fühlenden Herzen, dem ethisch und religiös gestimmten Gemüt, wonach dieses dürstet. In dem Stein, der von der Erde angezogen, zu dieser hinfällt, spricht sich das gleiche Göttliche aus wie in der Pflanzenblüte und in dem menschlichen Geiste, der den «Wilhelm Tell» dramatisch formt.

Wie irrtümlich es ist, zu glauben, dass durch ein vernünftiges Eindringen in das Walten der Natur, durch Erforschung ihrer Gesetze, das Gefühl für die wunderbaren Schönheiten der Natur zerstört wird, das zeigt sich so recht anschaulich an dem Wirken Ernst Haeckels. Man hat der vernunftgemäßen Naturerklärung die Fähigkeit abgesprochen, die Bedürfnisse des Gemütes zu befriedigen. Es darf behauptet werden, dass, wo immer ein Mensch in seiner Gemütswelt durch die Naturerkenntnis beeinträchtigt wird, dies nicht an dieser Erkenntnis, sondern an dem Menschen liegt, dessen Empfindungen sich in einer falschen Richtung bewegen.

Wer unbefangen den Forscherwegen eines Naturbetrachters, wie es Haeckel ist, folgt, der wird bei jedem Schritte in der Naturerkenntnis auch sein Herz höher schlagen fühlen. Die anatomische Zergliederung, die mikroskopische Untersuchung wird ihm keine Naturschönheit zerstören, aber unzählige neue enthüllen.

Es ist zweifellos, dass in unserer Zeit ein Kampf besteht zwischen Verstand und Phantasie, zwischen Reflexion und Intuition. Ellen Key, die geistvolle Essayistin, hat unbedingt recht, wenn sie in diesem Kampfe eine der wichtigsten Erscheinungen in der gegenwärtigen Zeit sieht. (Vgl. Ellen Key: Essays. Berlin, 5. Fischers Verlag, 1899.) Wer, wie Ernst Haeckel, tief hinuntergräbt in den Schacht der Tatsachen und kühn hinaufsteigt mit den Gedanken, die uns aus diesen Tatsachen sich ergeben, zu den Gipfeln menschlicher Erkenntnis, der kann nur in der Naturerklärung die versöhnende Macht finden «zwischen den beiden gleich starken Rennern, der Reflexion und der Intuition, die sich wechselseitig in die Knie zwingen». (Ellen Key, ebd.)

Fast gleichzeitig mit der Veröffentlichung, durch die Haeckel mit rückhaltloser Redlichkeit seine aus der Naturerkenntnis fließende Weltanschauung darlegt, mit dem 1899 erfolgten Erscheinen seiner «Welträtsel», hat er mit der Herausgabe eines Lieferungswerkes begonnen, «Kunstformen der Natur», in dem er Nachbildungen gibt von der unerschöpflichen Fülle der wunderbaren Gestalten, welche die Natur in ihrem Schoße erzeugt, und welche an Schönheit und Mannigfaltigkeit «alle vom Menschen geschaffenen Kunstformen weitaus» übertreffen. Derselbe Mann, der unseren Verstand in die Gesetzmäßigkeit der Natur führt, lenkt unsere Phantasie auf die Schönheit der Natur.

Das Bedürfnis, die großen Weltanschauungsfragen in unmittelbare Berührung zu bringen mit den wissenschaftlichen Einzeluntersuchungen, hat Haeckel zu einer derjenigen Tatsachen geführt, von denen Goethe sagt, dass sie prägnante Punkte bezeichnen, an denen die Natur die Grundideen zu ihrer Erklärung freiwillig hergibt und uns entgegenträgt. Diese Tatsache bot sich für Haeckel dadurch, dass er untersuchte, inwiefern sich der alte Okensche Gedanke, den Fritz Müller auf die Krebstiere anwendete, für das ganze Tierreich fruchtbar machen lasse. Bei allen Tieren, mit Ausnahme der Protisten, die zeitlebens nur aus einer Zelle bestehen, bildet sich aus der Eizelle, mit der das Wesen seine Keimesentwicklung beginnt, ein becherförmiger oder krugförmiger Körper, der sogenannte Becherkeim oder die Gastrula.

Dieser Becherkeim ist eine tierische Form, die alle Tiere, von den Schwämmen bis herauf zum Menschen, in ihrem ersten Entwicklungsstadium annehmen. Diese Form hat nur Haut, Mund und Magen. Nun gibt es niedere Pflanzentiere, die während ihres ganzen Lebens nur diese Organe haben, die also dem Becherkeim ähnlich sind. Diese Tatsache deutete Haeckel im Sinne der Entwicklungstheorie. Die Gastrulaform ist ein Erbstück, das die Tiere von ihrer gemeinsamen Ahnenform überkommen haben. Es hat eine wahrscheinlich vor Jahrmillionen ausgestorbene Tierart gegeben, die Gastraea, die ähnlich gebaut war wie die heute noch lebenden niederen Pflanzentiere: die Spongien, Polypen usw. Aus dieser Tierart hat sich alles entwickelt, was heute an mannigfaltigen Formen zwischen den Polypen, Schwämmen und Menschen lebt. Alle diese Tiere wiederholen im Verlaufe ihrer Keimesgeschichte diese ihre Stammform.

Eine Idee von ungeheurer Tragweite war damit gewonnen. Der Weg vom Einfachen zum Zusammengesetzten, zum Vollkommenen in der Organismenwelt war vorgezeichnet. Eine einfache Tierform entwickelt sich unter gewissen Umständen. Eines oder mehrere Individuen dieser Form verwandeln sich nach Maßgabe der Lebensverhältnisse, in die sie kommen, in eine andere Form.

Was durch Verwandlung entstanden ist, vererbt sich wieder auf Nachkommen. Es leben bereits zweierlei Formen. Die alte, die auf der ersten Stufe stehen geblieben ist, und eine neue. Beide Formen können sich nach verschiedenen Richtungen und Vollkommenheitsgraden weiterbilden. Nach großen Zeiträumen entsteht durch Vererbung der entstandenen Formen und durch Neubildungen auf dem Wege der Anpassung an die Lebensbedingungen eine Fülle von Arten.

So schließt sich für Haeckel zusammen, was heute in der Organismenwelt geschieht, mit dem, was in Urzeiten geschehen ist. Wollen wir irgendein Organ an einem Tiere unserer Gegenwart erklären, so blicken wir zurück auf die Ahnen, die bei sich dieses Organ unter den Verhältnissen, in denen sie lebten, ausgebildet haben. Was in früheren Zeiten aus natürlichen Ursachen entstanden ist, hat sich bis heute vererbt. Durch die Geschichte des Stammes klärt sich die Entwicklung des Individuums auf. In der Stammesentwicklung (Phylogenesis) liegen somit die Ursachen der Individualentwicklung (Ontogenesis).

Haeckel drückt diese Tatsache in seinem biogenetischen Grundgesetze mit den Worten aus, die kurze Ontogenesis oder die Entwicklung des Individuums ist eine schnelle und zusammengezogene Wiederholung, eine gedrängte Rekapitulation der langen Phylogenese oder Entwicklung der Art.

Damit ist aus dem Reiche des Organischen alle Erklärung im Sinne besonderer Zwecke, alle Teleologie im alten Sinne, entfernt. Man sucht nicht mehr nach dem Zweck eines Organs, man sucht nach den Ursachen, aus denen es sich entwickelt hat; eine Form weist nicht nach dem Ziel hin, dem sie zustrebt, sondern nach dem Ursprunge, aus dem sie hervorgegangen ist. Die Erklärungsweise des Organischen ist der des Unorganischen gleich geworden. Man sucht das Wasser nicht als Ziel im Sauerstoff und man sucht auch nicht den Menschen als Zweck in der Schöpfung. Man forscht nach dem Ursprunge, nach den tatsächlichen Ursachen der Wesen. Die dualistische Anschauungsweise, die erklärt, dass Unorganisches und Organisches nach zwei verschiedenen Prinzipien erklärt werden müssen, verwandelt sich in eine monistische Vorstellungsart, in den Monismus, der für die ganze Natur nur eine einheitliche Erklärungsweise hat.

Haeckel weist mit bedeutsamen Worten darauf hin, dass durch seine Entdeckung der Weg gefunden ist, auf dem aller Dualismus in dem oben gemeinten Sinne überwunden werden muss.

«Die Phylogenesis ist die mechanische Ursache der Ontogenesis. Mit diesem einen Satz ist unsere prinzipielle monistische Auffassung der organischen Entwicklung klar bezeichnet, und von der Wahrheit dieses Grundsatzes hängt in erster Linie die Wahrheit der Gastraeatheorie ab ... Für und wider diesen Grundsatz wird in Zukunft jeder Naturforscher sich entscheiden müssen, der in der Biogenie sich nicht mit der bloßen Bewunderung merkwürdiger Erscheinungen begnügt, sondern darüber hinaus nach dem Verständnis ihrer Bedeutung strebt. Mit diesem Satz ist zugleich die unausfüllbare Kluft bezeichnet, welche die ältere teleologische und dualistische Morphologie von der neueren mechanischen und monistischen trennt.

Wenn die physiologischen Funktionen der Vererbung und Anpassung als die alleinigen Ursachen der organischen Formbildung nachgewiesen sind, so ist damit zugleich jede Art von Teleologie, von dualistischer und metaphysischer Betrachtungsweise aus dem Gebiete der Biogenie entfernt; der scharfe Gegensatz zwischen den leitenden Prinzipien ist damit klar bezeichnet. Entweder existiert ein direkter und kausaler Zusammenhang zwischen Ontogenie und Phylogenie oder er existiert nicht.

Entweder ist die Ontogenese ein gedrängter Auszug der Phylogenese oder sie ist dies nicht. Zwischen diesen beiden Annahmen gibt es keine dritte! Entweder Epigenesis und Deszendenz - oder Präformation und Schöpfung.» (Vgl. auch Band 1, S. 286 ff. dieses Buches.)

Haeckel ist eine philosophische Denkerpersönlichkeit. Deshalb trat er, bald nachdem er die Darwinsche Anschauung in sich aufgenommen hatte, mit aller Energie für die wichtige Schlussfolgerung ein, die sich aus dieser Anschauung für den Ursprung des Menschen ergibt. Er konnte sich nicht damit begnügen, schüchtern wie Darwin auf diese «Frage aller Fragen» hinzudeuten. Der Mensch unterscheidet sich anatomisch und physiologisch nicht von den höheren Tieren, folglich muss ihm auch der gleiche Ursprung wie diesen zugeschrieben werden.

Mit großer Kühnheit trat er sogleich für diese Meinung und für alle Folgen ein, die sich in bezug auf die Weltanschauung daraus ergeben. Es war für ihn nicht zweifelhaft, dass fortan die höchsten Lebensäußerungen des Menschen, die Taten seines Geistes, unter einem gleichen Gesichtspunkt zu betrachten sind wie die Verrichtungen der einfachsten Lebewesen. Die Betrachtung der niedersten Tiere, der Urtiere, Infusorien und Rhizopoden, lehrte ihn, dass auch diese Organismen eine Seele haben. In ihren Bewegungen, in den Andeutungen von Empfindungen, die sie erkennen lassen, erkannte er Lebensäußerungen, die nur gesteigerter, vollkommener zu werden brauchen, um zu den komplizierten Vernunft- und Willenshandlungen des Menschen zu werden.

Welche Schritte vollführt die Natur, um von der Gastraea, dem Urdarmtiere, das vor Jahrmillionen gelebt hat, zum Menschen zu gelangen? Das war die umfassende Frage, die sich Haeckel vorlegte. Die Antwort gab er in seiner 1874 erschienenen «Anthropogenie». Sie behandelt in einem ersten Teil die Keimesgeschichte des Menschen, und in einem zweiten die Stammesgeschichte. Von Punkt zu Punkt wurde gezeigt, wie in der letzteren die Ursachen für die erstere liegen.

Die Stellung des Menschen in der Natur war damit nach den Grundsätzen der Entwicklungslehre bestimmt. Auf Werke, wie Haeckels «Anthropogenie» eines ist, darf man das Wort anwenden, dass der große Anatom Karl Gegenbaur in seiner «Vergleichenden Anatomie» (2. Aufl., 1870) ausgesprochen hat, dass der Darwinismus als Theorie reichlich das von der Wissenschaft zurückempfängt, was er dieser an Methode gegeben hat: Klarheit und Sicherheit. Mit der darwinistischen Methode ist für Haeckel auch die Theorie von der Herkunft des Menschen der Wissenschaft geschenkt.

Was damit getan war, wird man, seinem vollen Umfange nach, nur ermessen, wenn man auf die Opposition blickt, mit der Haeckels umfassende Anwendung der darwinistischen Grundsätze von den Anhängern idealistischer Weltauffassungen aufgenommen worden sind. Man braucht dabei gar nicht auf diejenigen zu sehen, die sich in dem blinden Glauben an eine überlieferte Meinung gegen die «Affentheorie» wandten, oder auf diejenigen, die alle feinere, höhere Sittlichkeit gefährdet glauben, wenn die Menschen nicht mehr der Ansicht sind, dass sie einen «reineren, höheren Ursprung» haben. Man kann sich auch an solche halten, die durchaus geneigt sind, neue Wahrheiten in sich aufzunehmen.

Aber auch solchen wurde es schwer, sich in diese neue Wahrheit zu finden. Sie fragten sich: Verleugnen wir nicht unser vernunftgemäßes Denken, wenn wir seinen Ursprung nicht mehr in einer allgemeinen Weltvernunft über uns, sondern in dem tierischen Reiche unter uns suchen? Solche Geister wiesen mit großem Eifer auf die Punkte hin, an denen die Haeckelsche Auffassung durch die Tatsachen noch im Stich gelassen zu werden schien. Und diese Geister haben mächtige Bundesgenossen in einer Anzahl von Naturforschern, die, aus einer merkwürdigen Befangenheit heraus, ihre Tatsachenkenntnis dazu benützen, fortwährend zu betonen, wo die Erfahrung noch nicht ausreiche, um Haeckels Schlussfolgerungen zu ziehen.

Der typische Repräsentant und zugleich der eindrucksvollste Vertreter dieses Naturforscherstandpunktes ist Rudolf Virchow. Man darf den Gegensatz Haeckels und Virchows etwa so charakterisieren: Haeckel vertraut auf die innere Konsequenz der Natur, von der Goethe meint, dass sie über die Inkonsequenz der Menschen hinwegtröste, und sagt sich: Wenn sich für gewisse Fälle ein Naturprinzip als richtig ergeben hat und uns die Erfahrung fehlt, seine Richtigkeit in andern Fällen nachzuweisen, so ist kein Grund vorhanden, dem Fortgang unserer Erkenntnis Fesseln anzulegen; was uns heute noch die Erfahrung versagt, kann uns morgen gebracht werden.

Virchow ist anderer Meinung. Er will ein umfassendes Prinzip so wenig wie möglich Boden gewinnen lassen. Er scheint zu glauben, dass man einem solchen Prinzip das Leben nicht sauer genug machen kann. Scharf spitzte sich der Gegensatz beider Geister auf der fünfzigsten Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte, im September 1877, zu. Haeckel hielt einen Vortrag über «Die heutige Entwicklung im Verhältnisse zur Gesamtwissenschaft.» Im Jahre 1894 fand sich Virchow genötigt, zu sagen: «Auf dem Wege der Spekulation ist man zu der Affentheorie gekommen; man hätte ebenso gut zu einer Elefanten- oder einer Schaftheorie kommen können.» Virchow fordert unumstößliche Beweise für diese Anschauung. Sobald aber etwas in die Erscheinung tritt, was sich als ein Glied in der Beweiskette ergibt, sucht Virchow seinen Wert auf jede mögliche Art zu entkräften.

Ein solches Glied in der Beweiskette bilden die Knochenreste, die Eugen Dubois 1894 in Java gefunden hat. Sie bestehen aus einem Schädeldach, einem Oberschenkel und einigen Zähnen. Über diesen Fund entspann sich auf dem Leydener Zoologenkongreß eine interessante Diskussion. Von zwölf Zoologen waren drei der Meinung, dass die Knochenreste von einem Affen, drei, dass sie von einem Menschen stammen; sechs vertraten aber die Meinung, dass man es mit einer Übergangsform zwischen Mensch und Affen zu tun habe.

Dubois hat in einleuchtender Weise gezeigt, in welchem Verhältnis das Wesen, dessen Reste man vor sich hatte, einerseits zu den gegenwärtigen Affen, anderseits zu den gegenwärtigen Menschen stehe. Die naturwissenschaftliche Entwicklungslehre muss solche Zwischenformen in besonderem Maße für sich in Anspruch nehmen. Sie füllen die Lücken aus, die zwischen den zahlreichen Formen der Organismen bestehen. Jede solche Zwischenform liefert einen neuen Beweis für die Verwandtschaft alles Lebendigen. Virchow widersetzte sich der Auffassung, dass die Knochenreste von einer solchen Zwischenform herrühren. Zunächst erklärte er, der Schädel stamme von einem Affen, der Oberschenkel von einem Menschen. Sachkundige Paläontologen sprachen sich aber nach dem gewissenhaften Fundberichte mit Entschiedenheit für die Zusammengehörigkeit der Reste aus.

Virchow suchte seine Ansicht, dass der Oberschenkel nur von einem Menschen herrühren könne, durch die Behauptung zu stützen, eine Knochenwucherung an demselben beweise, dass an ihm eine Krankheit vorhanden gewesen sei, die nur durch sorgfältige menschliche Pflege geheilt worden sein könne. Dagegen sprach sich der Paläontologe Marsch dahin aus, dass ähnliche Knochenwucherungen auch bei wilden Affen vorkommen. Einer weiteren Behauptung Virchows, dass die tiefe Einschnürung zwischen dem Oberrand der Augenhöhlen und dem niederen Schädeldach des vermeintlichen Zwischenwesens für dessen Affennatur spreche, widersprach eine Bemerkung des Naturforschers Nehring, dass sich dieselbe Bildung an einem Menschenschädel von Santos in Brasilien finde. Diese Einwände Virchows kamen aus derselben Gesinnung, die ihn auch in den berühmten Schädeln von Neandertal, von Spy usw. krankhafte, abnorme Bildungen sehen lässt, während sie Haeckels Gesinnungsgenossen für Zwischenformen zwischen Affe und Mensch halten.

Haeckel ließ sich durch keine Einwände das Vertrauen in seine Vorstellungsart rauben. Er behandelt unablässig die Wissenschaft von den gewonnenen Gesichtspunkten aus, und er wirkt durch populäre Darstellung seiner Naturauffassung auf das öffentliche Bewusstsein. In seiner «Systematischen Phylogenie, Entwurf eines natürlichen Systems der Organismen auf Grund der Stammesgeschichte» (1894-1896) suchte er die natürlichen Verwandtschaften der Organismen in streng wissenschaftlicher Weise darzustellen. In seiner «Natürlichen Schöpfungsgeschichte», die von 1868 bis 1908 elf Auflagen erlebt hat, gab er eine allgemeinverständliche Auseinandersetzung seiner Anschauungen. In seinen gemeinverständlichen Studien zur monistischen Philosophie «Welträtsel» lieferte er 1899 einen Überblick über seine naturphilosophischen Ideen, der rückhaltlos nach allen Seiten hin die Folgerungen seiner Grundgedanken darlegt. Zwischen allen diesen Arbeiten veröffentlichte er Studien über die mannigfaltigsten Spezialforschungen, überall den philosophischen Prinzipien und dem wissenschaftlichen Detailwissen in gleicher Weise in seiner Art Rechnung tragend.

Das Licht, das von der monistischen Weltanschauung ausgeht, ist, nach Haeckels Überzeugung, dasjenige, das «die schweren Wolken der Unwissenheit und des Aberglaubens zerstreut, welche bisher undurchdringliches Dunkel über das wichtigste aller Erkenntnisprobleme verbreiteten, über die Frage nach dem Ursprung des Menschen, von seinem wahren Wesen und von seiner Stellung in der Natur». So hat er sich in der Rede ausgesprochen, die er am 26. August 1898 auf dem vierten internationalen Zoologenkongreß in Cambridge «Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen» gehalten hat. Inwiefern seine Weltanschauung ein Band knüpft zwischen Religion und Wissenschaft, hat Haeckel auf eindringliche Weise dargelegt in seiner 1892 erschienenen Schrift «Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntnis eines Naturforschers» .

Wenn man Haeckel mit Hegel vergleicht, so ergibt sich in scharfen Zügen der Unterschied der Weltanschauungsinteressen in den beiden Hälften des neunzehnten Jahrhunderts. Hegel lebt ganz in der Idee und nimmt aus der naturwissenschaftlichen Tatsachenwelt nur so viel auf, als er zur Illustration seines idealen Weltbildes des braucht. Haeckel wurzelt mit allen Fasern seines Seins in der Tatsachenwelt und zieht aus dieser nur die Summe von Ideen, zu denen diese notwendig drängt. Hegel ist immer bestrebt, zu zeigen, wie alle Wesen darauf hinarbeiten, zuletzt im menschlichen Geiste den Gipfel ihres Werdens zu erreichen; Haeckel ist stets bemüht, zu erweisen, wie die kompliziertesten menschlichen Verrichtungen zurückweisen auf die einfachsten Ursprünge des Daseins. Hegel erklärt die Natur aus dem Geist; Haeckel leitet den Geist aus der Natur ab.

Es darf deshalb von einer Umkehrung der Denkrichtung im Laufe des Jahrhunderts gesprochen werden. Innerhalb des deutschen Geisteslebens haben Strauß, Feuerbach und andere diese Umkehrung eingeleitet; in dem Materialismus hat die neue Richtung einen vorläufigen, extremen, in der Gedankenwelt Haeckels einen streng methodisch-wissenschaftlichen Ausdruck gefunden. Denn das ist das Bedeutsame bei Haeckel, dass seine ganze Forschertätigkeit von einem philosophischen Geiste durchdrungen ist. Er arbeitet durchaus nicht nach Resultaten hin, die aus irgendwelchen Motiven als Ziele der Weltanschauung oder des philosophischen Denkens aufgestellt sind; aber sein Verfahren ist philosophisch. Die Wissenschaft tritt bei ihm unmittelbar mit dem Charakter der Weltanschauung auf. Die ganze Art seines Anschauens der Dinge hat ihn zum Bekenner des entschiedensten Monismus bestimmt. Er sieht Geist und Natur mit gleicher Liebe an. Deshalb konnte er den Geist in den einfachsten Lebewesen noch finden. Ja, er geht noch weiter. Er forscht nach den Spuren des Geistes in den unorganischen Massenteilchen.

«Jedes Atom» - sagt er - «besitzt eine inhärente Summe von Kraft und ist in diesem Sinne beseelt. Ohne die Annahme einer Atomseele sind die gewöhnlichsten und die allgemeinsten Erscheinungen der Chemie unerklärlich. Lust und Unlust, Begierde und Abneigung, Anziehung und Abstoßung müssen allen Massenatomen gemeinsam sein; denn die Bewegungen der Atome, die bei Bildung und Auflösung einer jeden chemischen Verbindung stattfinden müssen, sind nur erklärbar, wenn wir ihnen Empfindung und Willen beilegen, und nur hierauf allein beruht im Grunde die allgemein angenommene chemische Lehre von der Wahlverwandtschaft.»

Und wie er den Geist bis ins Atom hinein verfolgt, so das rein materiell-mechanische Geschehen bis in die erhabensten Geistesleistungen herauf.

«Geist und Seele des Menschen sind auch nichts anderes, als Kräfte, die an das materielle Substrat unseres Körpers untrennbar gebunden sind. Wie die Bewegungskraft unseres Fleisches an die Formelemente der Muskeln, so ist die Denkkraft unseres Geistes an die Formelemente des Gehirns gebunden. Unsere Geisteskräfte sind eben Funktionen dieser Körperteile, wie jede Kraft die Funktion eines materiellen Körpers ist.»

Man darf aber diese Vorstellungsweise nicht verwechseln mit derjenigen, die in unklar-mystischer Art in die Naturwesen Seelen hineinträumt und diese der menschlichen mehr oder weniger ähnlich sein lässt. Haeckel ist ein scharfer Gegner der Weltanschauung, die Eigenschaften und Tätigkeiten des Menschen in die Außenwelt verlegt. Seine Verurteilung der Vermenschlichung der Natur, des Anthropomorphismus, hat er wiederholt mit nicht mitzuverstehender Deutlichkeit ausgesprochen. Wenn er der unorganischen Masse oder den einfachsten Organismen eine Beseeltheit zuschreibt, so meint er damit nichts weiter, als die Summe der Kraftäußerungen, die wir an ihnen beobachten. Er hält sich streng an die Tatsachen.

Empfindung und Wille des Atoms sind ihm keine mystischen Seelenkräfte, sondern sie erschöpfen sich in dem, was wir als Anziehung und Abstoßung wahrnehmen. Er will nicht sagen: Anziehung und Abstoßung sind eigentlich Empfindung und Wille, sondern Anziehung und Abstoßung sind auf niedrigster Stufe das, was Empfindung und Wille auf höherer Stufe sind. Die Entwicklung ist ja nicht ein bloßes Herausentwickeln der höheren Stufen des Geistigen aus dem Niedrigen, in denen sie schon verborgen liegen, sondern ein wirkliches Aufsteigen zu neuen Bildungen (vgl. oben S. 403 ff.), eine Steigerung von Anziehung und Abstoßung zu Empfindung und Wille.

Diese Grundanschauung Haeckels stimmt in gewissem Sinne mit der Goethes überein, der sich darüber mit den Worten ausspricht: Die Erfüllung seiner Naturanschauung sei ihm durch die Erkenntnis der «zwei großen Triebräder aller Natur» geworden, der Polarität und der Steigerung, jene «der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen, insofern wir sie geistig denken, angehörig; jene ist in immerwährendem Anziehen und Abstoßen, diese in immerwährendem Aufsteigen. Weil aber die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, so wie sich's der Geist nicht nehmen lässt anzuziehen und abzustoßen.»

Der Bekenner einer solchen Weltanschauung lässt sich daran genügen, die tatsächlich in der Welt vorhandenen Dinge und Vorgänge auseinander abzuleiten. Die idealistischen Weltanschauungen bedürfen zu der Ableitung eines Dinges oder Vorganges Wesenheiten, die nicht innerhalb des Bereiches des Tatsächlichen gefunden werden. Haeckel leitet die Form des Becherkeimes, die im Laufe der tierischen Entwicklung auftritt, aus einem tatsächlich einmal vorhandenen Organismus ab. Ein Idealist sucht nach ideellen Kräften, unter deren Einfluss der sich entwickelnde Keim zur Gastrula wird. Der Monismus Haeckels zieht alles, was er zur Erklärung der wirklichen Welt braucht, auch aus dieser wirklichen Welt heraus. Er hält im Reiche des Wirklichen Umschau, um zu erkennen, wie die Dinge und Vorgänge einander erklären. Seine Theorien sind ihm nicht wie die des Idealisten dazu da, zu dem Tatsächlichen ein Höheres zu suchen, einen ideellen Inhalt, der das Wirkliche erklärt, sondern dazu, dass sie ihm den Zusammenhang des Tatsächlichen selbst begreiflich machen.

Fichte, der Idealist, hat nach der Bestimmung des Menschen gefragt. Er meinte damit etwas, was sich nicht in den Formen des Wirklichen, des Tatsächlichen erschöpft; er meinte etwas, was die Vernunft zu dem tatsächlich gegebenen Dasein hinzufindet; etwas, was mit einem höheren Lichte die reale Existenz des Menschen durchleuchtet. Haeckel, der monistische Weltbetrachter, fragt nach dem Ursprunge des Menschen, und er meint damit den realen Ursprung, die niederen Wesenheiten, aus denen sich der Mensch durch tatsächliche Vorgänge entwickelt hat.

Es ist bezeichnend, wie Haeckel die Beseelung der niederen Lebewesen begründet. Ein Idealist würde sich dabei auf Vernunftschlüsse berufen. Er würde mit Denknotwendigkeiten kommen. Haeckel beruft sich darauf, was er gesehen hat.

«Jeder Naturforscher, der gleich mir lange Jahre hindurch die Lebenstätigkeit der einzelligen Protisten beobachtet hat, ist positiv überzeugt, dass auch sie eine Seele besitzen; auch diese Zellseele besteht aus einer Summe von Empfindungen, Vorstellungen und Willenstätigkeiten; das Empfinden, Denken und Wollen unserer menschlichen Seelen ist nur stufenweise davon verschieden.»

Der Idealist spricht der Materie den Geist zu, weil er sich nicht denken kann, dass aus geistloser Materie Geist entstehen kann. Er glaubt, man müsse den Geist leugnen, wenn man ihn nicht da sein lässt, bevor er da ist, das heißt in all den Daseinsformen, wo noch kein Organ, kein Gehirn für ihn da ist. Für den Monisten gibt es einen solchen Ideengang gar nicht. Er spricht nicht von einem Dasein, das sich als solches nicht auch äußerlich darstellt. Er teilt nicht den Dingen zweierlei Eigenschaften zu: solche, die an ihnen wirklich sind, und sich an ihnen äußern, und solche, die insgeheim in ihnen sind, um sich erst auf einer höheren Stufe, zu der sich die Dinge entwickeln, zu äußern. Für ihn ist da, was er beobachtet, weiter nichts. Und wenn sich das Beobachtete weiter entwickelt, und sich im Laufe seiner Entwicklung steigert, so sind die späteren Formen erst in dem Augenblicke vorhanden, in dem sie sich wirklich zeigen.

Wie leicht der Haeckelsche Monismus nach dieser Richtung hin missverstanden werden kann, das zeigen die Einwände, die der geistvolle Bartholomäus von Carneri gemacht hat, der auf der andern Seite für den Aufbau einer Ethik dieser Weltanschauung Unvergängliches geleistet hat. In seiner Schrift «Empfindung und Bewusstsein. Monistische Bedenken» (1893) meint er, der Satz: «Kein Geist ohne Materie, aber auch keine Materie ohne Geist» würde uns berechtigen, die Frage auf die Pflanze, ja auf den nächsten besten Felsblock auszudehnen, und auch diesen Geist zuzuschreiben. Es sei aber doch zweifellos, dass dadurch eine Verwirrung geschaffen werde. Es sei doch nicht zu übersehen, dass nur durch die Tätigkeit der Zellen der grauen Hirnrinde Bewusstsein entstehe. «Die Überzeugung, dass es keinen Geist ohne Materie gehe, dass heißt, dass alle geistige Tätigkeit an eine materielle Tätigkeit gebunden sei, mit deren Ende auch sie ihr Ende erreicht, fußt auf Erfahrung, während nichts in der Erfahrung dafür spricht, dass mit der Materie überhaupt Geist verbunden sei.» Wer die Materie, die keinen Geist verrät, beseele, gliche dem, der nicht dem Mechanismus der Uhr, sondern schon dem Metalle, aus dem sie verfertigt ist, die Fähigkeit zuschriebe, Zeitangaben zu machen.

Haeckels Auffassung wird, richtig verstanden, von den Bedenken Carneris nicht getroffen. Davor wird sie dadurch geschützt, dass sie sich streng an die Beobachtung hält. In seinen «Welträtseln» sagt Haeckel: «Ich selbst habe die Hypothese des Atombewusstseins niemals vertreten Ich habe vielmehr ausdrücklich betont, dass ich mir die elementaren psychischen Tätigkeiten der Empfindung und des Willens, die man den Atomen zuschreiben kann, unbewusst vorstelle.»

Was Haeckel will, ist nichts anderes, als dass man in der Erklärung der Naturerscheinungen keinen Sprung eintreten lasse, dass man die komplizierte Art, wie durch das Gehirn Geist erscheint, zurückverfolge bis zu der einfachsten Art, wie die Masse sich anzieht und abstößt. Haeckel sieht als eine der wichtigsten Erkenntnisse der modernen Wissenschaft die Entdeckung der Denkorgane durch Paul Flechsig an. Dieser hat betont, dass in der grauen Rindenzone des Hirnmantels vier Gebiete für die zentralen Sinnesorgane liegen, vier «innere Empfindungssphären», die Körperfühlsphäre, die Riechsphäre, die Sehsphäre und die Hörsphäre.

Zwischen diesen vier Sinnesherden liegen die Denkherde, die «realen Organe des Geisteslebens»; sie «sind die höchsten Werkzeuge der Seelentätigkeit, welche das Denken und das Bewusstsein vermitteln ...

Diese vier Denkherde, durch eigentümliche und höchst verwickelte Nervenstruktur von den zwischenliegenden Sinnesherden ausgezeichnet, sind die wahren Denkorgane, die einzigen Organe unseres Bewusstseins. In neuester Zeit hat Flechsig nachgewiesen, dass in einem Teile derselben sich beim Menschen noch ganz besonders verwickelte Strukturen finden, welche den übrigen Säugetieren fehlen, welche die Überlegenheit des menschlichen Bewusstseins erklären.» (Welträtsel, 5. 212 f.)

Solche Ausführungen zeigen deutlich genug, dass es Haeckel nicht wie den idealistischen Welterklärern darauf ankommt, in die niederen Stufen des materiellen Daseins den Geist schon hineinzulegen, um ihn auf den höheren wiederzufinden, sondern darauf, an der Hand der Beobachtung die einfachen Erscheinungen bis zu den komplizierten zu verfolgen, um zu zeigen, wie die Tätigkeit der Materie, die sich auf primitivem Gebiete als Anziehung und Abstoßung äußert, sich zu den höheren geistigen Verrichtungen steigert.

Haeckel sucht nicht ein allgemeines geistiges Prinzip, weil er mit der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Natur- und Geisteserscheinungen nicht ausreicht, sondern er reicht für sein Bedürfnis völlig mit dieser allgemeinen Gesetzmäßigkeit aus. Die Gesetzmäßigkeit, die sich in den geistigen Verrichtungen ausspricht, ist ihm von gleicher Art mit derjenigen, die im Anziehen und Abstoßen der Massenteilchen zum Vorschein kommt. Wenn er die Atome beseelt nennt, so hat das eine ganz andere Bedeutung, als wenn dies ein Bekenner einer idealistischen Weltanschauung tut. Der letztere geht vom Geiste aus, und nimmt die Vorstellungen, die er an der Betrachtung des Geistes gewonnen hat, mit hinunter in die einfachen Verrichtungen der Atome, wenn er diese beseelt denkt. Er erklärt also die Naturerscheinungen aus den Wesenheiten, die er erst selbst in sie hineingelegt hat. Haeckel geht von der Betrachtung der einfachsten Naturerscheinungen aus und verfolgt diese bis in die geistigen Verrichtungen herauf. Er erklärt also die Geisteserscheinungen aus Gesetzen, die er an den einfachsten Naturerscheinungen beobachtet hat.

Haeckels Weltbild kann in einer Seele entstehen, deren Beobachtung sich nur auf Naturvorgänge und Naturwesen erstreckt. Eine solche Seele wird den Zusammenhang innerhalb dieser Vorgänge und Wesen verstehen wollen. Ihr Ideal kann werden, zu durchschauen, was die Vorgänge und Wesenheiten über ihr Werden und Zusammenwirken selbst sagen und alles streng abzulehnen, was zu einer Erklärung des Geschehens und Wirkens von außen hinzugedacht wird.

Ein solches Ideal verfährt mit der ganzen Natur so, wie man etwa bei Erklärung des Mechanismus einer Uhr verfährt. Man braucht nichts zu wissen über den Uhrmacher, über dessen Geschicklichkeiten und über die Gedanken, welche er sich bei dem Verfertigen der Uhr gemacht hat. Man versteht den Gang der Uhr, wenn man die mechanischen Gesetze des Zusammenwirkens der Teile durchschauen kann. Innerhalb gewisser Grenzen hat man mit einem solchen Durchschauen alles getan, was zur Erklärung des Ganges der Uhr zulässig ist. Ja, man muss sich klar darüber sein, dass die Uhr selbst - als solche - nicht erklärt werden kann, wenn man eine andere Erklärungsweise zulässt.

Wenn man zum Beispiel außer den mechanischen Kräften und Gesetzen noch besondere geistige Kräfte ersinnen würde, welche die Zeiger der Uhr in Gemäßheit des Ganges der Sonne vorwärts rückten. Als solche zu den Naturvorgängen hinzuersonnene Kräfte erscheint Haeckel alles, was einer besonderen Lebenskraft ähnlich ist, oder eine Macht, die auf eine «Zweckmäßigkeit» in den Wesen hinarbeitet. Er will über die Naturvorgänge nichts anderes denken, als was diese selbst für die Beobachtung aussprechen. Sein Gedankengebäude soll das der Natur abgelauschte sein.

Für die Betrachtung der Weltanschauungsentwicklung stellt sich dieses Gedankengebäude gewissermaßen als Gegengabe von seiten der Naturwissenschaft an die Hegelsche Weltanschauung dar, die in ihrem Gedankengemälde nichts aus der Natur, sondern alles aus der Seele geschöpft haben will. Wenn Hegels Weltanschauung sagte: Das selbstbewusste Ich findet sich, indem es das reine Gedankenerlebnis in sich hat, - so könnte die Haeckelsche Naturanschauung erwidern: Dieses Gedankenerlebnis ist ein Ergebnis der Naturvorgänge, ist deren höchstes Erzeugnis. Und wenn sich die Hegelsche Weltanschauung von solcher Erwiderung nicht befriedigt fühlte, so könnte die Haeckelsche Naturanschauung fordern: Zeige mir solche innere Gedankenerlebnisse, die nicht wie ein Spiegel dessen erscheinen, was außer den Gedanken geschieht. Darauf müsste eine Philosophie zeigen, wie der Gedanke in der Seele lebendig werden und wirklich eine Welt zeugen kann, die nicht bloß der gedankliche Widerschein der Außenwelt ist. Der Gedanke, der bloß gedacht ist, kann der Haeckelschen Naturanschauung nichts entgegenstellen. Diese kann zum Vergleich behaupten: Man kann doch auch in der Uhr nichts finden, was auf die Person usw. des Uhrmachers schließen lässt. Haeckels Naturanschauung ist auf dem Wege, zu zeigen, wie man, solange man bloß der Natur gegenübersteht, über diese nichts aussagen kann, als was diese selbst aussagt.

Insofern tritt diese Naturanschauung in dem Gange der Weltanschauungsentwicklung bedeutsam auf. Sie beweist, dass Philosophie sich ein Feld schaffen muss, das, über die an der Natur gewonnenen Gedanken hinaus, in dem selbstschöpferischen Gebiete des Gedankenlebens liegt. Sie muss den in einem vorigen Abschnitt angedeuteten über Hegel hinausgehenden Schritt machen. Sie kann nicht bestehen in einem bloßen Verfahren, das auf demselben Felde stehenbleibt, auf dem die Naturwissenschaft steht. Haeckel hat wohl nicht das mindeste Bedürfnis, auf einen solchen Schritt der Philosophie auch nur im geringsten die Aufmerksamkeit zu wenden. Seine Weltanschauung lässt die Gedanken in der Seele lebendig werden, doch dies nur insoweit, als deren Leben durch die Beobachtung der Naturvorgänge angeregt ist.

Was der Gedanke als Weltbild schaffen kann, wenn er ohne diese Anregung in der Seele lebendig wird, das müsste nun eine höhere Weltanschauung zu dem Haeckelschen Naturbilde hinzufügen. Man muss ja auch über dasjenige hinausgehen, was die Uhr selbst sagt, wenn man zum Beispiel die Gesichtsform des Uhrmachers kennenlernen will. Man hat deshalb kein Recht, zu behaupten, dass die Haeckelsche Naturanschauung über die Natur selbst anders sprechen sollte, als Haeckel da spricht, wo er vorbringt, was er positiv über Naturvorgänge und Naturwesen beobachtet hat.

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