suche | spenden | impressum | datenschutz

Einleitende Bemerkungen zur Neuauflage 1914 (Band 2)

Die Schilderung des philosophischen Geisteslebens von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis zur Gegenwart, welche in diesem zweiten Bande der «Rätsel der Philosophie» versucht worden ist, kann nicht das gleiche Gepräge tragen wie die Überschau über die vorangehenden Denkerarbeiten, die man im ersten Bande findet.

Diese Überschau hat sich im engsten Kreise der philosophischen Fragen gehalten. Die letzten sechzig Jahre sind das Zeitalter, in dem die naturwissenschaftliche Vorstellungsart, von verschiedenen Gesichtspunkten aus, den Boden zu erschüttern beabsichtigt, auf dem vorher die Philosophie stand. Die Anschauung trat in dieser Zeit hervor, dass über das Wesen des Menschen, über sein Verhältnis zur Welt und über andere Daseinsrätsel die Ergebnisse des naturwissenschaftlichen Forschens das Licht verbreiten, das früher durch die philosophische Geistesarbeit gesucht worden ist. Viele Denker, welche der Philosophie jetzt dienen wollten, bemühten sich, die Art ihres Forschens der Naturwissenschaft nachzubilden; andere gestalteten Grundlegendes für ihre Weltanschauung nicht nach Art der alten philosophischen Denkungsart, sondern entnahmen es aus den Anschauungen der Naturforschung, der Biologie, Physiologie. Und diejenigen, welche der Philosophie ihre Selbständigkeit wahren wollten, glaubten das Richtige zu tun, indem sie die Ergebnisse der Naturwissenschaft einer gründlichen Betrachtung unterwarfen, um ihr Eindringen in die Philosophie zu verhindern.

Man hat deshalb für die Darstellung des philosophischen Lebens in diesem Zeitalter nötig, die Blicke auf die Ansichten zu richten, die aus der Naturwissenschaft heraus in die Weltanschauungen eingetreten sind. Die Bedeutung dieser Ansichten für die Philosophie tritt nur hervor, wenn man die wissenschaftlichen Unterlagen betrachtet, aus denen sie fließen, und wenn man sich in die Atmosphäre der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart versetzt, in der sie zur Entwicklung kommen. Diese Verhältnisse kommen in den Ausführungen dieses Buches dadurch zum Ausdruck, dass manches in demselben fast so gestaltet ist, als ob eine Darstellung allgemeiner naturwissenschaftlicher Ideen und nicht eine solche der philosophischen Arbeiten beabsichtigt wäre. Es kann die Meinung berechtigt erscheinen, dass durch solche Art der Darstellung zum deutlichen Ausdruck komme, wie einflussreich die Naturwissenschaft für das philosophische Leben der Gegenwart geworden ist.

Wer es mit seiner Denkungsart vereinbar findet, die Entwicklung des philosophischen Lebens so vorzustellen, wie es die orientierende Einleitung über die «Leitlinien der Darstellung» im ersten Bande dieses Buches andeutet und wie es dessen weitere Ausführungen zu begründen versuchen, der wird in dem charakterisierten Verhältnis zwischen Philosophie und Naturerkenntnis im gegenwärtigen Zeitalter ein notwendiges Glied dieser Entwicklung sehen können. Durch die Jahrhunderte hindurch, seit dem Aufkommen der griechischen Philosophie, drängte diese Entwicklung dahin, die Menschenseele zum Erleben ihrer inneren Wesenskräfte zu führen. Mit diesem ihrem inneren Erleben wurde die Seele fremd und fremder in der Welt, welche sich die Erkenntnis der äußeren Natur aufbaute. Es entstand eine Naturanschauung, die so ausschließlich auf die Beobachtung der Außenwelt gerichtet ist, dass sie keinen Trieb fühlt, in ihr Weltbild das aufzunehmen, was die Seele in ihrer inneren Welt erlebt. Dieses Weltbild so zu malen, dass sich in demselben auch diese inneren Erlebnisse der Menschenseele ebenso finden wie die Forschungsergebnisse der Naturwissenschaft, hält diese Anschauung für unberechtigt.

Damit ist die Lage gekennzeichnet, in der sich die Philosophie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts befunden hat, und in welcher viele Gedankenrichtungen in der Gegenwart noch stehen. Man braucht das hier Gekennzeichnete nicht künstlich in die Betrachtung der Philosophie dieses Zeitalters hineinzutragen. Man kann es aus den Tatsachen ablesen, welche dieser Betrachtung vorliegen. Im zweiten Band dieses Buches ist dies versucht worden.

Dass ein solcher Versuch unternommen wurde, hat dazu geführt, der zweiten Auflage dieses Buches das Schlusskapitel hinzuzufügen, das eine «skizzenhafte Darstellung des Ausblickes auf eine Anthroposophie» enthält. Man kann die Meinung haben, dass diese Darstellung ganz aus dem Rahmen des in diesem Buche Dargestellten herausfällt. Doch wurde schon in der Vorrede des ersten Bandes gesagt, dass das Ziel dieser Darstellung «nicht nur ist, einen kurzen Abriss der Geschichte der philosophischen Fragen zu geben, sondern über diese Fragen und ihre Lösungsversuche selbst durch ihre geschichtliche Betrachtung zu sprechen». Nun versucht die Betrachtung, die in dem Buche zum Ausdruck kommt, zu erweisen, dass manche Lösungsverhältnisse in der Philosophie der Gegenwart dahin arbeiten, in dem inneren Erleben der Menschenseele etwas zu finden, das in solcher Art sich offenbart, dass ihm im neueren Weltbilde der Platz von der Naturerkenntnis nicht streitig gemacht werden kann. Wenn es des Verfassers dieses Buches philosophische Anschauung ist, dass das in dem Schlusskapitel Dargestellte von Seelenerlebnissen spricht, welche diesem Suchen der neueren Philosophien Erfüllung bringen können, so durfte er wohl dieses Kapitel seiner Darstellung anfügen. Ihm scheint die Beobachtung zu ergehen, dass es zum Grundcharakter dieser Philosophien und zu ihrem geschichtlichen Gepräge gehört; in ihrem Suchen die eigene Richtung nach dem Gesuchten nicht einzuhalten, und dass diese Richtung in die Weltanschauung führen müsse, die am Ende des Buches skizziert ist. Sie will eine wirkliche «Wissenschaft des Geistes» sein. Wer dieses richtig findet, dem wird diese Weltanschauung als das sich zeigen, was die Antwort gibt auf Fragen, welche die Philosophie der Gegenwart stellt, obwohl sie diese Antwort nicht selbst ausspricht. Und ist dieses richtig, dann fällt durch das im Schlusskapitel Gesagte auch Licht auf die geschichtliche Stellung der neueren Philosophie.

Der Verfasser dieses Buches stellt sich nicht vor, dass, wer sich zu dem im Schlusskapitel Gesagten bekennen kann, der Ansicht sein müsse, es sei eine Weltanschauung notwendig, welche die Philosophie ersetzt durch etwas, was diese selbst nicht mehr als Philosophie ansehen kann. Die Ansicht, die in dem Buche sich aussprechen will, ist vielmehr die, dass die Philosophie, wenn sie dazu kommt, sich wirklich selbst zu verstehen, mit ihrem Geistesfahrzeug landen müsse bei einem seelischen Erleben, das wohl die Frucht ihrer Arbeit ist, das aber über diese Arbeit hinauswächst. Philosophie behält damit ihre Bedeutung für jeden Menschen, der eine sichere geistige Grundlage für die Ergebnisse dieses seelischen Erlebens durch seine Denkungsart fordern muss. Wer sich durch das natürliche Wahrheitsgefühl die Überzeugung von diesen Ergebnissen verschaffen kann, der ist berechtigt, sich auf einem sicheren Boden zu fühlen, auch wenn er einer philosophischen Grundlegung dieser Ergebnisse keine Aufmerksamkeit widmet. Wer die wissenschaftliche Rechtfertigung der Weltanschauung sucht, von der am Ende dieses Buches gesprochen wird, der muss den Weg durch die philosophische Grundlegung nehmen.

Dass dieser Weg, wenn er zu Ende gegangen wird, zum Erleben in einer geistigen Welt führt, und dass die Seele durch dieses Erleben ihre eigene geistige Wesenheit sich auf eine Art zum Bewusstsein bringen kann, die unabhängig ist von ihrem Erleben und Erkennen durch die Sinnenwelt: das ist, was die Darstellung dieses Buches zu erweisen versucht. Der Darsteller wollte diesen Gedanken nicht als eine vorgefasste Meinung in die Beobachtung des philosophischen Lebens hineintragen. Er wollte unbefangen die Anschauung aufsuchen, welche aus diesem Leben selbst spricht. Wenigstens war er bestrebt, so zu verfahren. Er glaubt, dieser Gedanke könne in der Darstellung dieses Buches dadurch auf einer ihm angemessenen Grundlage stehen, dass die naturwissenschaftliche Vorstellungsart an manchen Stellen des Buches so ausgesprochen sich findet, als ob sie durch einen Bekenner dieser Vorstellungsart selbst zum Ausdrucke käme. Man wird einer Anschauung nur dann völlige Gerechtigkeit widerfahren lassen können, wenn man sich ganz in sie zu versetzen vermag. Und eben dieses Sichhineinversetzen in eine Weltansicht lässt auch am sichersten die Menschenseele dazu gelangen, wieder aus ihr heraus in Vorstellungsarten zu kommen, welche Gebieten entspringen, die von dieser Weltansicht nicht umfasst werden. (1)

Berlin, am 1. September 1914.


Anmerkungen: (1) Dieser zweite Band der «Rätsel der Philosophie» war bis zur Seite 206 (in der vorliegenden Ausgabe Seite 566) gedruckt vor dem Ausbruch des großen Krieges, den gegenwärtig die Menschheit erlebt. Die Beendigung des Buches fällt in die Zeit dieses Ereignisses. Ich wollte damit nur hindeuten auf dasjenige, was meine Seele von der äußeren Welt her tief bewegt und mich beschäftigt, während die letzten Gedanken vom Inhalte dieses Buches mir durch das Innere ziehen mussten.

nach Oben