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Die Weltanschauung der griechischen Denker

In Pherekydes von Syros, der im sechsten vorchristlichen Jahrhundert lebte, erscheint innerhalb des griechischen Geisteslebens eine Persönlichkeit, an welcher man die Geburt dessen beobachten kann, was in den folgenden Ausführungen «Welt- und Lebensanschauungen» genannt wird.

Was er über die Weltenfragen zu sagen hat, gleicht auf der einen Seite noch den mythischen und bildhaften Darstellungen einer Zeit, die vor dem Streben nach wissenschaftlicher Weltanschauung liegt; auf der anderen Seite ringt sich bei ihm das Vorstellen durch das Bild, durch den Mythus, zu einer Betrachtung durch, die durch Gedanken die Rätsel des Daseins und der Stellung des Menschen in der Welt durchdringen will. Er stellt noch die Erde vor unter dem Bilde einer geflügelten Eiche, welcher Zeus die Oberfläche von Land, Meer, Flüssen usw. wie ein Gewebe umlegt; er denkt sich die Welt durchwirkt von Geistwesen, von welchen die griechische Mythologie spricht. Doch spricht er auch von drei Ursprüngen der Welt: von Chronos, von Zeus und von Chthon.

Es ist in der Geschichte der Philosophie viel darüber verhandelt worden, was unter diesen drei Ursprüngen des Pherekydes zu verstehen sei. Da sich die geschichtlichen Nachrichten über das, was er in seinem Werke «Heptamychos» habe darstellen wollen, widersprechen, so ist begreiflich, dass darüber auch gegenwärtig die Meinungen voneinander abweichen. Wer sich auf das geschichtlich über Pherekydes Überlieferte betrachtend einlässt, kann den Eindruck bekommen, dass allerdings an ihm der Anfang des philosophischen Nachdenkens beobachtet werden kann, dass aber diese Beobachtung schwierig ist, weil seine Worte in einem Sinne genommen werden müssen, welcher den Denkgewohnheiten der Gegenwart ferne liegt und der erst gesucht werden muss.

Den Ausführungen dieses Buches, das ein Bild der Welt- und Lebensanschauungen des neunzehnten Jahrhunderts geben soll, wird bei seiner zweiten Ausgabe eine kurze Darstellung der vorangehenden Welt- und Lebensanschauungen vorgesetzt, insofern diese Weltanschauungen auf gedanklicher Erfassung der Welt beruhen. Es geschieht dies aus dem Gefühle heraus, dass die Ideen des vorigen Jahrhunderts in ihrer inneren Bedeutung sich besser enthüllen, wenn sie nicht nur für sich genommen werden, sondern wenn auf sie die Gedankenlichter der vorangehenden Zeiten fallen.

Naturgemäß kann aber in einer solchen «Einleitung» nicht alles «Beweismaterial» verzeichnet werden, das der kurzen Skizze zur Unterlage dienen muss. (Wenn es dem Schreiber dieser Ausführungen einmal gegönnt sein wird, die Skizze zu einem selbständigen Buche zu machen, dann wird man ersehen, dass die entsprechende «Unterlage» durchaus vorhanden ist. Auch zweifelt der Verfasser nicht, dass andere, welche in dieser Skizze eine Anregung sehen wollen, in dem geschichtlich Überlieferten die «Beweise» finden werden.) Pherekydes kommt zu seinem Weltbilde auf andere Art, als man vor ihm zu einem solchen gekommen ist. Das Bedeutungsvolle bei ihm ist, dass er den Menschen als beseeltes Wesen anders empfindet, als dies vor ihm geschehen ist. Für das frühere Weltbild hat der Ausdruck «Seele» noch nicht den Sinn, welchen er für die späteren Lebensauffassungen erhalten hat. Auch bei Pherekydes ist die Idee der Seele noch nicht in der Art vorhanden wie bei den ihm folgenden Denkern. Er empfindet erst das Seelische des Menschen, wogegen die Späteren von ihm deutlich in Gedanken sprechen und es charakterisieren wollen. Die Menschen früher Zeiten trennen das eigene menschliche Seelen-Erleben noch nicht von dem Naturleben ab. Sie stellen sich nicht als ein besonderes Wesen neben die Natur hin; sie erleben sich in der Natur, wie sie in derselben Blitz und Donner, das Treiben der Wolken, den Gang der Sterne, das Wachsen der Pflanzen er leben. Was die Hand am eigenen Leibe bewegt, was den Fuß auf die Erde setzt und vorschreiten lässt, gehört für den vorgeschichtlichen Menschen einer Region von Weltenkräften an, die auch den Blitz und das Wolkentreiben, die alles äußere Geschehen bewirken. Was dieser Mensch empfindet, lässt sich etwa so aussprechen: Etwas lässt blitzen, donnern, regnen, bewegt meine Hand, lässt meinen Fuß vorwärtsschreiten, bewegt die Atemluft in mir, wendet meinen Kopf. Man muss, wenn man eine derartige Erkenntnis ausspricht, sich solcher Worte bedienen, welche auf den ersten Eindruck hin übertrieben scheinen können. Doch wird nur durch das scheinbar übertrieben klingende Wort die richtige Tatsache voll empfunden werden können. Ein Mensch, welcher ein Weltbild hat, wie es hier gemeint ist, empfindet in dem Regen, der zur Erde fällt, eine Kraft wirkend, die man gegenwärtig «geistig» nennen muss, und die gleichartig ist mit derjenigen, die er empfindet, wenn er sich zu dieser oder jener persönlichen Betätigung anschickt. Von Interesse kann es sein, diese Vorstellungsart bei Goethe, in dessen jüngeren Jahren, wiederzufinden, naturgemäß in jener Schattierung, welche sie bei einer Persönlichkeit des achtzehnten Jahrhunderts haben muss. Man kann in Goethes Aufsatz «Die Natur» lesen: «Sie (die Natur) hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ihr Verdienst.» So, wie Goethe spricht, kann man nur sprechen, wenn man das eigene Wesen innerhalb des Naturganzen fühlt und man dieses Gefühl durch die denkende Betrachtung zum Aus drucke bringt. Wie er dachte, empfand der Mensch der Vorzeit, ohne dass sich sein Seelenerlebnis zum Gedanken bildete. Er erlebte noch nicht den Gedanken; dafür aber gestaltete sich in seiner Seele, anstatt des Gedankens, das Bild (Sinnbild). Die Beobachtung der Menschheitsentwicklung führt in eine Zeit zurück, in welcher die gedanklichen Erlebnisse noch nicht geboren waren, in welcher aber im Innern des Menschen das Bild (Sinnbild) auflebte, wie beim später lebenden Menschen der Gedanke auflebt, wenn er die Weltenvorgänge betrachtet. Das Gedankenleben entsteht für den Menschen in einer bestimmten Zeit; es bringt das vorherige Erleben der Welt in Bildern zum Erlöschen.

Für die Denkgewohnheiten unserer Zeit erscheint es annehmbar, sich vorzustellen: in der Vorzeit haben die Menschen die Naturvorgänge, Wind und Wetter, das Keimen des Samens, den Gang der Sterne beobachtet und sich zu diesen Vorgängen geistige Wesenheiten, als die tätigen Bewirker, hinzuerdichtet; dagegen liegt es dem gegenwärtigen Bewusstsein ferne, anzuerkennen, dass der Mensch der Vorzeit die Bilder so erlebt hat, wie der spätere Mensch die Gedanken erlebte als seelische Wirklichkeit.

Man wird allmählich erkennen, dass im Laufe der Menschheitsentwicklung eine Umwandlung der menschlichen Organisation stattgefunden hat. Es gab eine Zeit, in der die feinen Organe in der menschlichen Natur noch nicht ausgebildet waren, welche ermöglichen, ein inneres abgesondertes Gedankenleben zu entwickeln; in dieser Zeit hatte dafür der Mensch die Organe, die ihm sein Mit-Erleben mit der Welt in Bildern vorstellten.

Wenn man dieses erkennen wird, wird ein neues Licht fallen auf die Bedeutung des Mythus einerseits und auch auf diejenige von Dichtung und Gedankenleben andererseits. Als das innerlich selbständige Gedanken-Erleben auftrat, brachte es das frühere Bild-Erleben zum Erlöschen. Es trat der Gedanke auf als das Werkzeug der Wahrheit. In ihm lebte aber nur ein Ast des alten Bild-Erlebens fort, das sich im Mythus seinen Ausdruck geschaffen hatte. In einem anderen Aste lebte das erloschene Bild-Erleben weiter, allerdings in abgeblasster Gestalt, in den Schöpfungen der Phantasie, der Dichtung.

Dichterische Phantasie und gedankliche Weltanschauung sind die beiden Kinder der einen Mutter, des alten Bild-Erlebens, das man nicht mit dem dichterischen Erleben verwechseln darf.

Das Wesentliche, worauf es ankommt, ist die Umwandlung der feineren Organisation des Menschen. Diese führte das Gedankenleben herbei. In der Kunst, in der Dichtung wirkt naturgemäß nicht der Gedanke als solcher; es wirkt das Bild weiter. Aber es hat nunmehr ein anderes Verhältnis zur menschlichen Seele, als es es hatte in der Gestalt, in welcher es sich auch noch als Erkenntnisbild formte.

Als Gedanke selbst tritt das seelische Erleben nur in der Weltanschauung auf; die anderen Zweige des menschlichen Lebens formen sich in anderer Art entsprechend, wenn im Erkenntnisgebiete der Gedanke herrschend wird.

Mit dem dadurch charakterisierten Fortschritt der menschlichen Entwicklung hängt zusammen, dass sich der Mensch vom Auftreten des Gedanken-Erlebens an in ganz anderem Sinne als abgesondertes Wesen, als «Seele» fühlen musste, als das früher der Fall war. Das «Bild» wurde so erlebt, dass man empfand: es ist in der Außenwelt als Wirklichkeit, und man erlebt diese Wirklichkeit mit, man ist mit ihr verbunden. Mit dem «Gedanken» wie auch mit dem dichterischen Bilde fühlt sich der Mensch von der Natur abgesondert; er fühlt sich im Gedanken-Erlebnis als etwas, was die Natur so nicht miterleben kann, wie er es erlebt. Es entsteht immer mehr die deutliche Empfindung des Gegensatzes von Natur und Seele.

In den verschiedenen Kulturen der Völker hat sich der Übergang von dem alten Bild-Erleben zum Gedanken-Erleben zu verschiedenen Zeitpunkten vollzogen. In Griechenland kann man diesen Übergang belauschen, wenn man den Blick auf die Persönlichkeit des Pherekydes wirft. Er lebt in einer Vorstellungswelt, an welcher das Bild-Erleben und der Gedanke noch gleichen Anteil haben. Es können seine drei Grundideen, Zeus, Chronos, Chthon, nur so vorgestellt werden, dass die Seele, indem sie sie erlebt, sich zugleich dem Geschehen der Außenwelt angehörig fühlt. Man hat es mit drei erlebten Bildern zu tun und kommt diesen nur bei, wenn man sich nicht beirren lässt von allem, was die gegenwärtigen Denkgewohnheiten dabei vorstellen möchten.

Chronos ist nicht die Zeit, wie man sie gegenwärtig vorstellt. Chronos ist ein Wesen, das man mit heutigem Sprachgebrauch «geistig» nennen kann, wenn man sich dabei bewusst ist, dass man den Sinn nicht erschöpft. Chronos lebt, und seine Tätigkeit ist das Verzehren, Verbrauchen des Lebens eines anderen Wesens, Chthon. In der Natur waltet Chronos, im Menschen waltet Chronos; in Natur und Mensch verbraucht Chronos Chthon. Es ist einerlei, ob man das Verzehren des Chthon durch Chronos innerlich erlebt oder äußerlich in den Naturvorgängen ansieht. Denn auf beiden Gebieten geschieht dasselbe.

Verbunden mit diesen beiden Wesen ist Zeus, den man sich im Sinne des Pherekydes ebensowenig als Götterwesen im Sinne der gegenwärtigen Auffassung von Mythologie vorstellen darf, wie als bloßen «Raum» in heutiger Bedeutung, obwohl er das Wesen ist, welches das, was zwischen Chronos und Chthon vorgeht, zur räumlichen, ausgedehnten Gestaltung schafft.

Das Zusammenwirken von Chronos, Chthon, Zeus im Sinne des Pherekydes wird unmittelbar im Bilde erlebt, wie die Vorstellung erlebt wird, dass man isst; es wird aber auch in der Außenwelt erlebt, wie die Vorstellung der blauen oder roten Farbe erlebt wird. Dies Erleben kann man in folgender Art vorstellen.

Man lenke den Blick auf das Feuer, welches die Dinge verzehrt. In der Tätigkeit des Feuers, der Wärme, lebt sich Chronos dar. Wer das Feuer in seiner Wirksamkeit anschaut und noch nicht den selbständigen Gedanken, sondern das Bild wirksam hat, der schaut Chronos. Er schaut mit der Feuerwirksamkeit nicht mit dem sinnlichen Feuer zugleich die «Zeit». Eine andere Vorstellung von der Zeit gibt es vor der Geburt des Gedankens noch nicht. Was man gegenwärtig «Zeit» nennt, ist erst eine im Zeitalter der gedanklichen Weltanschauung ausgebildete Idee. Lenkt man den Blick auf das Wasser, nicht wie es als Wasser ist, sondern wie es sich in Luft oder Dampf verwandelt, oder auf die sich auflösenden Wolken, so erlebt man im Bilde die Kraft des «Zeus», des räumlich wirksamen Verbreiterers; man könnte auch sagen: des sich «strahlig» Ausdehnenden. Und schaut man das Wasser, wie es zum Festen wird, oder das Feste, wie es sich in Flüssiges bildet, so schaut man Chthon. Chthon ist etwas, was dann später im Zeitalter der gedankenmäßigen Weltanschauungen zur «Materie», zum «Stoffe» geworden ist; Zeus ist zum «Äther» oder auch zum «Raum» geworden; Chronos zur «Zeit».

Durch das Zusammenwirken dieser drei Urgründe stellt sich im Sinne des Pherekydes die Welt her. Es entstehen durch dieses Zusammenwirken auf der einen Seite die sinnlichen Stoffwelten: Feuer, Luft, Wasser, Erde; auf der anderen Seite eine Summe von unsichtbaren, übersinnlichen Geistwesen, welche die vier Stoffwelten beleben. Zeus, Chronos, Chthon sind Wesenheiten, denen gegenüber die Ausdrücke «Geist, Seele, Stoff» wohl gebraucht werden können, doch wird die Bedeutung damit nur annähernd bezeichnet. Erst durch die Verbindung dieser drei Urwesen entstehen die mehr stofflichen Weltenreiche, das des Feuers, der Luft, des Wassers, der Erde und die mehr seelischen und geistigen (übersinnlichen) Wesenheiten. Mit einem Ausdruck der späteren Weltanschauungen kann man Zeus als «Raum-Äther», Chronos als «Zeit-Schöpfer» und Chthon als «Stoff-Erbringer» die drei «Urmütter» der Welt nennen. Man sieht sie noch in Goethes «Faust» durchblicken, in der Szene des zweiten Teiles, wo Faust den Gang zu den «Müttern» antritt.

So wie bei Pherekydes diese drei Urwesen auftreten, weisen sie zurück auf Vorstellungen bei Vorgängern dieser Persönlichkeit, auf die sogenannten Orphiker. Diese sind Bekenner einer Vorstellungsart, welche noch ganz in der alten Bildhaftigkeit lebt. Bei ihnen finden sich auch drei Urwesen, Zeus, Chronos und das Chaos. Neben diesen drei «Urmüttern» sind diejenigen des Pherekydes um einen Grad weniger bildhaft. Pherekydes versucht eben schon mehr durch das Gedankenleben zu ergreifen, was die Orphiker noch völlig im Bilde hielten. Deshalb erscheint er als die Persönlichkeit, bei welcher man von der «Geburt des Gedankenlebens» sprechen kann. Dies drückt sich weniger durch die gedankliche Fassung der orphischen Vorstellungen bei Pherekydes aus, als durch eine gewisse Grundstimmung seiner Seele, die sich dann in einer ähnlichen Art bei manchem philosophierenden Nachfolger des Pherekydes in Griechenland wiederfindet. Pherekydes sieht sich nämlich gezwungen, den Ursprung der Dinge in dem «Guten» (Arizon) zu sehen. Mit den «mythischen Götterwelten» der alten Zeit konnte er diesen Begriff nicht verbinden. Den Wesen dieser Welt kamen Seeleneigenschaften zu, die mit diesem Begriffe nicht verträglich waren. In seine drei «Urgründe» konnte Pherekydes nur den Begriff des «Guten», des Vollkommenen hineindenken.

Damit hängt zusammen, dass mit der Geburt des Gedankenlebens eine Erschütterung des seelischen Empfindens verbunden war. Man soll dieses seelische Erlebnis da nicht übersehen, wo die gedankliche Weltanschauung ihren Anfang hat. Man hätte in diesem Anfang nicht einen Fortschritt empfinden können, wenn man mit dem Gedanken nicht etwas Vollkommeneres hätte zu erfassen geglaubt, als mit dem alten Bild-Erleben erreicht war. Es ist ganz selbstverständlich, dass innerhalb dieser Stufe der Weltanschauungsentwicklung die hier gemeinte Empfindung nicht klar ausgesprochen wurde.

Empfunden aber wurde, was man jetzt rückblickend auf die alten griechischen Denker klar aussprechen darf. Man empfand: die von den unmittelbaren Vorfahren erlebten Bilder führten nicht zu den höchsten, den vollkommensten Urgründen. In diesen Bildern zeigten sich nur weniger vollkommene Urgründe. Der Gedanke müsse sich erheben zu den noch höheren Urgründen, von denen das in Bildern Geschaute nur die Geschöpfe sind.

Durch den Fortschritt zum Gedankenleben zerfiel die Welt für das Vorstellen in eine mehr natürliche und eine mehr geistige Sphäre. In dieser geistigen Sphäre, die man jetzt erst empfand, musste man das fühlen, was ehedem in Bildern erlebt worden war. Dazu kam jetzt noch die Vorstellung eines Höheren, was erhaben über dieser älteren geistigen Welt und über der Natur gedacht wird. Zu diesem Erhabenen wollte der Gedanke dringen. In der Region dieses Erhabenen sucht Pherekydes seine «drei Urmütter». Ein Blick auf die Welterscheinungen kann veranschaulichen, von welcher Art die Vorstellungen waren, die bei einer Persönlichkeit wie Pherekydes Platz griffen. In seiner Umwelt findet der Mensch eine allen Erscheinungen zugrunde liegende Harmonie, wie sie sich in den Bewegungen der Gestirne, in dem Gang der Jahreszeiten mit den Segnungen des Pflanzenwachstums usw. zum Ausdrucke bringt. In diesen segensvollen Lauf der Dinge greifen die hemmenden, zerstörenden Mächte ein, wie sie sich in den schädlichen Wetterwirkungen, in Erdbeben usw. ausdrücken. Wer den Blick auf alles dieses wendet, kann auf eine Zweiheit der waltenden Mächte geführt werden. Doch bedarf die menschliche Seele der Annahme einer zugrunde liegenden Einheit. Sie empfindet naturgemäß: der verheerende Hagel, das zerstörende Erdbeben, sie müssen schließlich aus derselben Quelle stammen wie die segenbringende Ordnung der Jahreszeiten. Der Mensch blickt auf diese Art durch Gutes und Schlechtes hindurch auf ein Urgutes. In dem Erdbeben waltet dieselbe gute Kraft wie in dem Frühlingssegen. In der austrocknenden verödenden Sonnenhitze ist dieselbe Wesenheit tätig, welche das Samenkorn zur Reife bringt. Also auch in den schädlichen Tatsachen sind die «guten Urmütter». Wenn der Mensch dieses fühlt, stellt sich ein gewaltiges Weltenrätsel vor seine Seele hin. Pherekydes blickt, um es sich zu lösen, zu seinem Ophioneus hin. Sich anlehnend an die alten Bildervorstellungen, erscheint ihm Ophioneus wie eine Art «Weltenschlange». In Wirklichkeit ist dies ein Geistwesen, welches wie alle anderen Weltwesen zu den Kindern von Chronos, Zeus und Chthon gehört, jedoch sich nach seiner Entstehung so gewandelt hat, dass seine Wirkungen sich gegen die Wirkungen der «guten Urmütter» richten. Damit aber zerfällt die Welt in eine Dreiheit. Das erste sind die «Urmütter», die als gut, als vollkommen dargestellt werden, das zweite sind die segensreichen Weltvorgänge, das dritte die zerstörenden oder nur unvollkommenen Weltvorgänge, welche sich als Ophioneus in die Segenswirkungen hineinwinden.

Bei Pherekydes ist Ophioneus nicht etwa eine bloße symbolische Idee für die hemmenden, zerstörenden Weltenmächte. Pherekydes steht mit seinem Vorstellen an der Grenze zwischen Bild und Gedanken. Er denkt nicht etwa: es gibt verheerende Mächte, ich stelle sie mir unter dem Bilde des Ophioneus vor. Solch ein Gedankenprozess ist bei ihm auch nicht als Phantasietätigkeit vorhanden. Er blickt auf die hemmenden Kräfte, und unmittelbar steht vor seiner Seele Ophioneus, wie die rote Farbe vor der Seele steht, wenn der Blick auf die Rose geworfen wird.

Wer die Welt nur sieht, wie sie sich der Bildwahrnehmung darbietet, der unterscheidet zunächst im Gedanken nicht die Vorgänge der «guten Urmütter» und diejenigen des Ophioneus. An der Grenze zur gedanklichen Weltanschauung hin wird die Notwendigkeit dieser Unterscheidung empfunden. Denn mit diesem Fortschritte erst fühlt sich die Seele als ein abgesondertes, selbständiges Wesen. Sie fühlt, dass sie sich fragen muss: Woher stamme ich selbst? Und sie muss ihren Ursprung suchen in Weltentiefen, wo Chronos, Zeus und Chthon noch nicht ihren Widersacher neben sich hatten. Doch fühlt die Seele auch, dass sie von diesem ihrem Ursprunge zunächst nichts wissen kann. Denn sie sieht sich inmitten der Welt, in welcher die «guten Urmütter» mit Ophioneus zusammenwirken; sie fühlt sich in einer Welt, in der Vollkommenes und Unvollkommenes miteinander verbunden sind. Ophioneus ist in ihr eigenes Wesen mit hineinverschlungen.

Man fühlt, was in den Seelen einzelner Persönlichkeiten im sechsten vorchristlichen Jahrhundert vorgegangen ist, wenn man die charakterisierten Empfindungen auf sich wirken lässt. Mit den alten mythischen Götterwesen fühlten sich solche Seelen in die unvollkommene Welt hinein verstrickt. Diese Götterwesen gehörten derselben unvollkommenen Welt an wie sie selber. Aus solcher Stimmung heraus entstand ein Geistesbund wie der von Pythagoras aus Samos zwischen den Jahren 540 und 500 v. Chr. in Kroton in Großgriechenland gegründete. Pythagoras wollte die sich zu ihm bekennenden Menschen zum Empfinden der «guten Urmütter» zurückführen, in denen der Ursprung ihrer Seelen vorgestellt werden sollte. In dieser Beziehung kann gesagt werden, dass er und seine Schüler «anderen» Göttern dienen wollten als das Volk. Und damit war gegeben, was als der Bruch erscheinen muss zwischen solchen Geistern wie Pythagoras und dem Volke. Dieses fühlte sich mit seinen Göttern wohl; er musste diese Götter in das Reich des Unvollkommenen verweisen. Darin ist auch das «Geheimnis» zu suchen, von dem im Zusammenhang mit Pythagoras gesprochen wird, und das den nicht Eingeweihten nicht verraten werden durfte. Es bestand darinnen, dass sein Denken der Menschenseele einen anderen Ursprung zusprechen musste als den Götterseelen der Volksreligion. Auf dieses «Geheimnis» sind zuletzt die zahlreichen Angriffe zurückzuführen, welche Pythagoras erfahren hat. Wie sollte er anderen als denen, welche er erst sorgfältig für solche Erkenntnis vorbereitete, klarmachen, dass sie «als Seelen» sich sogar in einem gewissen Sinne als höherstehend ansehen dürften als die Volksgötter stehen. Und wie sollte sich anders als in einem Bunde mit streng geregelter Lebensweise durchführen lassen, dass sich die Seelen ihres hohen Ursprungs bewusst wurden und doch sich verstrickt in die Unvollkommenheit fühlten. Durch letzteres Fühlen sollte ja das Streben erzeugt werden, das Leben so einzurichten, dass es durch Selbstvervollkommnung zu seinem Ursprunge zurückführte. Dass um solches Streben des Pythagoras sich Legenden und Mythen bilden mussten, ist verständlich. Und auch, dass über die wahre Bedeutung dieser Persönlichkeit so gut wie nichts geschichtlich überliefert ist. Wer jedoch die Legenden und sagenhaften Überlieferungen des Altertums über Pythagoras im Zusammenhange beobachtet, der wird aus ihnen das eben gegebene Bild doch erkennen.

In dem Bilde des Pythagoras fühlt das gegenwärtige Denken auch noch störend die Idee der sogenannten «Seelenwanderung». Man empfindet es als kindlich, wenn Pythagoras sogar gesagt haben soll, er wisse, dass er in früheren Zeiten als anderes Menschenwesen bereits auf Erden war. Es darf erinnert werden daran, dass der große Vertreter der neueren Aufklärung, Lessing, in seiner «Erziehung des Menschengeschlechtes» aus einem ganz anderen Denken heraus, als das des Pythagoras war, diese Idee der wiederholten Erdenleben des Menschen erneuert hat. Lessing konnte sich den Fortschritt des Menschengeschlechtes nur so vorstellen, dass die menschlichen Seelen an dem Leben in den aufeinanderfolgenden Erdenzeiträumen wiederholt teilnehmen. Eine Seele bringt als Anlage usw. in das Leben eines späteren Zeitraumes mit, was ihr von dem Erleben in früheren Zeiträumen geblieben ist.

Lessing findet es naturgemäß, dass die Seele schon oft im Erdenleibe da war und in Zukunft oft da sein werde und sich so von Leben zu Leben zu der ihr möglichen Vollkommenheit durchringt. Er macht darauf aufmerksam, dass diese Idee von den wiederholten Erdenleben nicht deshalb für unglaubwürdig angesehen werden müsse, weil sie in den ältesten Zeiten vorhanden war, «weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel».

Bei Pythagoras ist diese Idee vorhanden. Doch wäre es ein Irrtum, zu glauben, dass er sich ihr wie auch Pherekydes, der im Altertum als sein Lehrer genannt wird hingegeben habe, weil er etwa logisch schließend gedacht habe, dass der oben angedeutete Weg, welchen die Menschenseele zu ihrem Ursprunge durchzumachen habe, nur in wiederholten Erdenleben zu erreichen sei. Ein solch verstandesmäßiges Denken dem Pythagoras zuzumuten, hieße ihn verkennen. Es wird von seinen weiten Reisen erzählt. Davon, dass er mit Weisen zusammengetroffen sei, welche Überlieferungen ältester menschlicher Einsicht aufbewahrten. Wer beobachtet, was von ältesten menschlichen Vorstellungen überliefert ist, der kann zu der Anschauung kommen, dass die Ansicht von den wiederholten Erdenleben in den Urzeiten weite Verbreitung gehabt hat. An Ur-Lehren der Menschheit knüpfte Pythagoras an. Die mythischen Bilderlehren seiner Umgebung mussten ihm wie verfallene Anschauungen erscheinen, welche von älteren, besseren herkamen. Diese Bilderlehren mussten sich in seinem Zeitalter umwandeln in gedankenmäßige Weltanschauung. Doch erschien ihm diese gedankliche Weltanschauung nur als ein Teil des Seelenlebens. Dieser Teil musste vertieft werden; dann führte er die Seele zu ihren Ursprüngen. Aber indem die Seele so vordringt, entdeckt sie in ihrem inneren Erleben die wiederholten Erdenleben wie eine seelische Wahrnehmung. Sie kommt nicht zu ihren Ursprüngen, wenn sie den Weg dazu nicht durch wiederholte Erdenleben hindurch findet. Wie ein Wanderer, der nach einem entfernten Orte gehend auf seinem Wege naturgemäß durch andere Orte hindurchkommt, so kommt die Seele, wenn sie zu den «Müttern» geht, durch ihre vorangehenden Leben hindurch, durch welche schreitend sie herabgestiegen ist von ihrem Sein im «Vollkommenen» zu ihrem gegenwärtigen Leben im «Unvollkommenen». Man kann, wenn man alles in Betracht Kommende berücksichtigt, gar nicht anders, als die Ansicht von den wiederholten Erdenleben dem Pythagoras in diesem Sinne, als seine innere Wahrnehmung, und nicht als begrifflich Erschlossenes, zuschreiben. Nun wird als besonders charakteristisch bei dem Bekennertum des Pythagoras von der Ansicht gesprochen, dass alle Dinge auf «den Zahlen» beruhen. Wenn dies angeführt wird, so muss berücksichtigt werden, dass sich das Pythagoreertum auch nach dem Tode des Pythagoras bis in spätere Zeiten fortgesetzt hat. Von späteren Pythagoreern werden genannt Philolaus, Archytas u. a. Von ihnen wusste man im Altertum insbesondere, dass sie die «Dinge als Zahlen angesehen haben». Doch darf, wenn dies auch geschichtlich nicht möglich scheint, diese Anschauung bis Pythagoras zurückverfolgt werden. Man wird nur die Voraussetzung machen dürfen, dass sie bei ihm tief und organisch in seiner ganzen Vorstellungsart begründet war, dass sie aber bei seinen Nachfolgern eine veräußerlichte Gestalt angenommen habe. Man denke sich Pythagoras im Geiste vor dem Entstehen der gedanklichen Weltanschauung stehend. Er sah, wie der Gedanke seinen Ursprung in der Seele nimmt, nachdem diese, von den «Urmüttern» ausgehend, durch aufeinanderfolgende Leben zu ihrer Unvollkommenheit herabgestiegen war. Indem er dieses empfand, konnte er nicht durch den bloßen Gedanken zu den Ursprüngen hinaufsteigen wollen. Er musste die höchste Erkenntnis in einer Sphäre suchen, in welcher der Gedanke noch nichts zu tun hat. Da fand er denn ein übergedankliches Seelenleben. Wie die Seele in den Tönen der Musik Verhältniszahlen erlebt, so lebte sich Pythagoras in ein seelisches Zusammenleben mit der Welt hinein, das der Verstand in Zahlen aussprechen kann; doch sind die Zahlen für das Erlebte nichts anderes, als was die vom Physiker gefundenen Tonverhältniszahlen für das Erleben der Musik sind. An die Stelle der mythischen Götter hat für Pythagoras der Gedanke zu treten; doch durch entsprechende Vertiefung findet die Seele, die sich mit dem Gedanken von der Welt abgesondert hat, sich wieder in eins mit der Welt zusammen. Sie erlebt sich als nicht abgesondert von der Welt. Es ist das aber nicht in einer Region, in der das Welt-Miterleben zum mythischen Bilde wird, sondern in einer solchen, in der die Seele mit den unsichtbaren, sinnlich unwahrnehmbaren Weltenharmonien mitklingt und in sich das zum Bewusstsein bringt, was nicht sie, sondern die Weltenmächte wollen und in ihr Vorstellung werden lassen.

An Pherekydes und Pythagoras enthüllt sich, wie die gedanklich erlebte Weltanschauung in der Menschenseele ihren Ursprung nimmt. Im Herausringen aus älteren Vorstellungarten kommen diese Persönlichkeiten zu innerem, selbständigem Erfassen der «Seele», zum Unterscheiden derselben von der äußeren «Natur». Was an diesen beiden Persönlichkeiten anschaulich ist, das Sich-Herausringen der Seele aus den alten Bildvorstellungen, das spielt sich mehr im Seelen-Untergrunde ab bei den anderen Denkern, mit denen gewöhnlich der Anfang gemacht wird in der Schilderung der griechischen Weltanschauungsentwicklung. Es werden zunächst gewöhnlich genannt Thales von Milet (624-546 v. Chr.), Anaximander (611-550 v. Chr.), Anaximenes (der zwischen 585 und 525 v. Chr. seine Blütezeit hatte) und Heraklit (etwa 540-480 v. Chr. zu Ephesus).

Wer die vorangehenden Ausführungen anerkennt, wird eine Darstellung dieser Persönlichkeiten billigen können, welche von der in den geschichtlichen Schilderungen der Philosophie gebräuchlichen abweichen muss. Diesen Darstellungen liegt ja doch stets die unausgesprochene Voraussetzung zugrunde, dass diese Persönlichkeiten durch eine unvollkommene Naturbeobachtung zu den von ihnen überlieferten Behauptungen gekommen seien: Thales, dass im «Wasser», Anaximander in dem «Unbegrenzten», Anaximenes in der «Luft», Heraklit im «Feuer» das Grund- und Ursprungswesen aller Dinge zu suchen sei.

Dabei wird nicht bedacht, dass diese Persönlichkeiten durchaus noch in dem Vorgange der Entstehung der gedanklichen Weltanschauung drinnen leben; dass sie zwar in höherem Grade als Pherekydes die Selbständigkeit der menschlichen Seele empfinden, doch aber noch die völlig strenge Absonderung des Seelenlebens von dem Naturwirken nicht vollzogen haben. Man wird sich zum Beispiel das Vorstellen des Thales ganz sicherlich irrtümlich zurechtlegen, wenn man denkt, dass er als Kaufmann, Mathematiker, Astronom über Naturvorgänge nachgedacht habe und dann in unvollkommener Art, aber doch so wie ein moderner Forscher seine Erkenntnisse in den Satz zusammengefasst habe: «Alles stammt aus dem Wasser». Mathematiker, Astronom usw. sein, bedeutete in jener alten Zeit praktisch mit den entsprechenden Dingen zu tun haben, ganz nach Art des Handwerkers, der sich auf Kunstgriffe stützt, nicht auf ein gedanklich-wissenschaftliches Erkennen.

Dagegen muss für einen Mann wie Thales vorausgesetzt werden, dass er die äußeren Naturprozesse noch ähnlich erlebte wie die inneren Seelenprozesse. Was sich ihm in den Vorgängen mit und an dem Wasser dem flüssigen, schlammartigen, erdig-bildsamen -, als Naturvorgänge darstellte, das war ihm gleich dem, was er seelisch-leiblich innerlich erlebte. In minderem Grade als die Menschen der Vorzeit erlebte er aber doch erlebte er so die Wasserwirkung in sich und in der Natur, und beide waren ihm eine Kraftäußerung. Man darf darauf hinweisen, dass noch eine spätere Zeit die äußeren Naturwirkungen in ihrer Verwandtschaft mit den innerlichen Vorgängen dachte, so dass von einer «Seele» im gegenwärtigen Sinne, die abgesondert vom Leibe vorhanden ist, nicht die Rede war. In der Ansicht von den Temperamenten ist dieser Gesichtspunkt noch in einem Nachklange festgehalten in die Zeiten der gedanklichen Weltanschauung hinein. Man nannte das melancholische Temperament das erdige, das phlegmatische das wässerige, das sanguinische luftartig, das cholerische feurig. Das sind nicht bloße Allegorien. Man empfand nicht ein völlig abgetrenntes Seelisches; man erlebte in sich ein Seelisch-Leibliches als Einheit, und in dieser Einheit den Strom der Kräfte, welche zum Beispiel durch eine phlegmatische Seele gehen, wie dieselben Kräfte außen in der Natur durch die Wasserwirkungen gehen.

Und diese äußeren Wasserwirkungen schaute man als dasselbe, was man in der Seele erlebte, wenn man phlegmatisch gestimmt war. Die gegenwärtigen Denkgewohnheiten müssen den alten Vorstellungsarten sich anpassen, wenn sie in das Seelenleben früherer Zeiten eindringen wollen.

Und so wird man in der Weltanschauung des Thales den Ausdruck finden dessen, was ihn sein dem phlegmatischen Temperament verwandtes Seelenleben innerlich erleben lässt. Er erlebte das, was ihm als das Weltgeheimnis vom Wasser erschien, in sich. Man verbindet mit dem Hinweis auf das phlegmatische Temperament eines Menschen eine schlimme Nebenbedeutung. So gerechtfertigt dies in vielen Fällen ist, so wahr ist auch, dass das phlegmatische Temperament, wenn es mit Energie des Vorstellens zusammen auftritt, durch seine Gelassenheit, Affektfreiheit, Leidenschaftlosigkeit den Menschen zum Weisen macht. Eine solche Sinnesart bei Thales hat wohl bewirkt, dass er von den Griechen als einer ihrer Weisen gefeiert worden ist.

In anderer Art formte sich das Weltbild für Anaximenes, der die Stimmung des Sanguinischen in sich erlebte. Von ihm ist ein Ausspruch überliefert, der unmittelbar zeigt, wie er das innere Erleben mit dem Luftelement als Ausdruck des Weltgeheimnisses empfand: «Wie unsere Seele, die ein Hauch ist, uns zusammenhält, so umfangen Luft und Hauch das All.» Heraklits Weltanschauung wird eine unbefangene Betrachtung ganz unmittelbar als Ausdruck seines cholerischen Innenlebens empfinden müssen. Ein Blick auf sein Leben wird gerade bei diesem Denker manches Licht bringen. Er gehörte einem der vornehmsten Geschlechter von Ephesus an. Er wurde ein heftiger Bekämpfer der demokratischen Partei. Er wurde dies, weil sich ihm gewisse Anschauungen ergaben, deren Wahrheit sich ihm im unmittelbaren inneren Erleben darstellte. Die Anschauungen seiner Umgebung, an den seinigen gemessen, schienen ihm ganz naturgemäß unmittelbar die Torheit dieser Umgebung zu beweisen. Er kam dadurch in so große Konflikte, dass er seine Vaterstadt verließ und ein einsames Leben bei dem Artemistempel führte. Man nehme dazu einige Sätze, die von ihm überliefert sind: «Gut wäre es, wenn alle Ephesier, die erwachsen sind, sich erhenkten und ihre Stadt den Unmündigen übergäben ... », oder das andere, wo er von den Menschen sagt: «Toren in ihrer Unverständigkeit gleichen, auch wenn sie das Wahre hören, den Tauben, von ihnen gilt: sie sind abwesend, wenn sie anwesend sind.» Ein inneres Erleben, das sich in solcher Cholerik ausspricht, findet sich verwandt dem verzehrenden Wirken des Feuers; es lebt nicht im bequemen ruhigen Sein; es fühlt sich eins mit dem «ewigen Werden». Stillstand erlebt solche Seelenart als Widersinn; «Alles fließt» ist daher der berühmte Satz des Heraklit. Es ist nur scheinbar, wenn irgendwo ein beharrendes Sein auftritt; man wird eine Heraklitische Empfindung wiedergeben, wenn man das Folgende sagt: Der Stein scheint ein abgeschlossenes, beharrendes Sein darzustellen; doch dies ist nur scheinbar: er ist im Innern wild bewegt, alle seine Teile wirken aufeinander. Es wird die Denkweise des Heraklit gewöhnlich mit dem Satze charakterisiert: man könne nicht zweimal in denselben Strom steigen; denn das zweitemal ist das Wasser ein anderes. Und ein Schüler Heraklits, Kratylus, steigerte den Ausspruch, indem er sagte: auch einmal könne man nicht in denselben Strom steigen. So ist es mit allen Dingen; während wir auf das scheinbar Beharrende hinblicken, ist es im allgemeinen Strome des Daseins schon ein anderes geworden.

Man betrachtet eine Weltanschauung nicht in ihrer vollen Bedeutung, wenn man nur ihren Gedankeninhalt hinnimmt; ihr Wesentliches liegt in der Stimmung, welche sie der Seele mitteilt; in der Lebenskraft, die aus ihr erwächst. Man muss fühlen, wie sich Heraklit im Strome des Werdens mit der eigenen Seele drinnen empfindet, wie die Weltenseele bei ihm in der Menschenseele pulsiert und dieser ihr eigenes Leben mitteilt, wenn sich die Menschenseele in ihr lebend weiß. Solchem Mit-Erleben mit der Weltenseele entspringt bei Heraklit der Gedanke: Was lebt, hat durch den durchlaufenden Strom des Werdens den Tod in sich; aber der Tod hat wieder das Leben in sich. Leben und Tod ist in unserem Leben und Sterben. Alles hat alles andere in sich; nur so kann das ewige Werden alles durchströmen. «Das Meer ist das reinste und unreinste Wasser, den Fischen trinkbar und heilsam, den Menschen untrinkbar und verderblich.» «Dasselbe ist Leben und Tod, Wachen, Schlafen, Jung, Alt, dieses sich ändernd ist jenes, jenes wieder dies.» «Gutes und Böses sind eins.» «Der gerade Weg und der krumme ... sind eines nur.» Freier von dem Innenleben, mehr dem Elemente des Gedankens selbst hingegeben, erscheint Anaximander. Er sieht den Ursprung der Dinge in einer Art Weltenäther, einem unbestimmten, gestaltlosen Urwesen, das keine Grenzen hat. Man nehme den Zeus des Pherekydes, entkleide ihn alles dessen, was ihm noch von Bildhaftigkeit eigen ist, und man hat das Urwesen des Anaximander: den zum Gedanken gewordenen Zeus. In Anaximander tritt eine Persönlichkeit auf, in welcher aus der Seelenstimmung heraus, die in den vorgenannten Denkern noch ihre Temperamentsschattierung hat, das Gedankenleben geboren wird. Eine solche Persönlichkeit fühlt sich als Seele mit dem Gedankenleben vereint und dadurch nicht mit der Natur so verwachsen wie die Seele, welche den Gedanken noch nicht als selbständig erlebt. Sie fühlt sich mit einer Weltenordnung verbunden, welche über den Naturvorgängen liegt. Wenn Anaximander davon spricht, dass die Menschen als Fische zuerst im Feuchten gelebt haben und dann sich durch Landtierformen hindurchentwickelt haben, so bedeutet das für ihn, dass der Geistkeim, als welchen sich der Mensch durch den Gedanken erkennt, nur wie durch Vorstufen durch die anderen Formen hindurchgegangen ist, um sich zuletzt die Gestalt zu geben, welche ihm von vornherein angemessen ist.

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Auf die genannten Denker folgen für die geschichtliche Darstellung: Xenophanes von Kolophon (geb. im 6. Jahrhundert v. Chr.); mit ihm seelisch verwandt, wenn auch jünger: Parmenides (geb. um 540 v. Chr.; als Lehrer in Athen lebend); Zenon von Elea (dessen Blütezeit um 500 v. Chr. liegt); Melissos von Samos (der um 450 v. Chr. lebte).

In diesen Denkern lebt das gedankliche Element bereits in solchem Grade, dass sie eine Weltanschauung fordern und einer solchen allein Wahrheit zuerkennen, in welcher das Gedankenleben voll befriedigt wird. Wie muss der Urgrund der Welt beschaffen sein, damit er innerhalb des Denkens voll aufgenommen werden kann? so fragen sie. Xenophanes findet, dass die Volksgötter vor dem Denken nicht bestehen können; also lehnt er sie ab. Sein Gott muss gedacht werden können. Was die Sinne wahrnehmen, ist veränderlich, ist mit Eigenschaften behaftet, welche dem Gedanken nicht entsprechen, der das Bleibende suchen muss. Daher ist Gott die im Gedanken zu erfassende, unwandelbare, ewige Einheit aller Dinge. Parmenides sieht in der äußeren Natur, welche die Sinne betrachten, das Unwahre, Täuschende; in der Einheit, dem Unvergänglichen, das der Gedanke ergreift, allein das Wahre. Zenon sucht mit dem Gedanken-Erleben in der Art sich auseinanderzusetzen, dass er auf die Widersprüche hinweist, welche sich einer Weltbetrachtung ergeben, die in dem Wandel der Dinge, in dem Werden, in dem vielen, welches die äußere Welt zeigt, eine Wahrheit sieht. Von den Widersprüchen, auf die er verweist, sei nur einer angeführt. Es könne, meint er, der schnellste Läufer (Achilles) die Schildkröte nicht erreichen; denn so langsam sie auch krieche, wenn Achilles den Ort erreicht habe, den sie noch eben inne hatte, so sei sie ja doch schon etwas weiter. Durch solche Widersprüche deutet Zenon an, wie ein Vorstellen, das sich an die Außenwelt halte, nicht mit sich zurecht komme; er deutet auf die Schwierigkeit hin, welcher der Gedanke begegnet, wenn er es versucht, die Wahrheit zu finden. Man wird die Bedeutung dieser Weltanschauung, die man die eleatische nennt (Parmenides und Zenon sind aus Elea), erkennen, wenn man den Blick darauf lenkt, dass ihre Träger mit der Ausbildung des Gedanken-Erlebens so weit fortgeschritten sind, dass sie dieses Erleben zu einer besonderen Kunst, zur sogenannten Dialektik gestaltet haben. In dieser «Gedanken-Kunst» lernt sich die Seele in ihrer Selbständigkeit und inneren Geschlossenheit erfühlen. Damit wird die Realität der Seele als das empfunden, was sie durch ihr eigenes Wesen ist, und als was sie sich dadurch fühlt, dass sie nicht mehr, wie in der Vorzeit, das allgemeine Welt-Erleben mitlebt, sondern in sich ein Leben – das Gedanken-Erleben – entfaltet, das in ihr wurzelt, und durch das sie sich eingepflanzt fühlen kann in einen rein geistigen Weltengrund. Zunächst kommt diese Empfindung noch nicht in einem deutlich ausgesprochenen Gedanken zum Ausdruck; man kann sie aber als Empfindung lebendig in diesem Zeitalter fühlen an der Schätzung, welche ihr zuteil wird. Nach einem «Gespräche» Platos wurde von Parmenides dem jungen Sokrates gesagt: er solle von Zenon die Gedankenkunst lernen, sonst müsste ihm die Wahrheit ferne bleiben. Man empfand diese «Gedankenkunst» als eine Notwendigkeit für die Menschenseele, die an die geistigen Urgründe des Daseins herantreten will.

Wer in dem Fortschritt der menschlichen Entwicklung zur Stufe der Gedanken-Erlebnisse nicht sieht, wie mit dem Anfang dieses Lebens wirkliche Erlebnisse – die Bild-Erlebnisse – aufhörten, die vorher vorhanden waren, der wird die besondere Eigenart der Denkerpersönlichkeiten vom sechsten und den folgenden vorchristlichen Jahrhunderten in Griechenland in anderem Lichte sehen als in dem, in welchem sie in diesen Ausführungen dargestellt werden müssen. Der Gedanke zog etwas wie eine Mauer um die Menschenseele. Früher war sie, ihrem Empfinden nach, in den Naturerscheinungen drinnen; und was sie mit diesen Naturerscheinungen zusammen so erlebte, wie sie die Tätigkeit des eigenen Leibes erlebte, das stellte sich vor sie in Bild-Erscheinungen hin, welche in ihrer Lebendigkeit da waren; jetzt war das ganze Bildergemälde durch die Kraft des Gedankens ausgelöscht. Wo sich vorher die inhaltvollen Bilder breiteten, da spannte sich jetzt der Gedanke durch die Außenwelt. Und die Seele konnte sich in dem, was außen in Raum und Zeit sich breitet, nur fühlen, indem sie sich mit dem Gedanken verband.

Man empfindet eine solche Seelenstimmung, wenn man auf Anaxagoras aus Klazomenä in Kleinasien (geb. um 500 v.Chr.) blickt. Er fühlt sich in seiner Seele mit dem Gedankenleben verbunden; dieses Gedankenleben umspannt, was im Raume und in der Zeit ausgedehnt ist. So ausgedehnt erscheint es als der Nus, der Weltenverstand. Dieser durchdringt als Wesenheit die ganze Natur. Die Natur aber stellt sich selbst nur als zusammengesetzt aus kleinen Urwesen dar. Die Naturvorgänge, welche durch das Zusammenwirken dieser Urwesen sich ergeben, sind das, was die Sinne wahrnehmen, nachdem das Bildergemälde aus der Natur gewichen ist. Homoiomerien werden diese Urwesen genannt. In sich erlebt die Menschenseele den Zusammenhang mit dem Weltverstand (dem Nus) im Gedanken innerhalb ihrer Mauer; durch die Fenster der Sinne blickt sie auf dasjenige, was der Weltverstand durch das Aufeinanderwirken der «Homoiomerien» entstehen lässt.

In Empedokles (der um 490 v. Chr. in Agrigent geboren ist), lebte eine Persönlichkeit, in deren Seele die alte und die neue Vorstellungsart wie in einem heftigen Widerstreit aufeinanderstoßen. Er fühlt noch etwas von dem Verwobensein der Seele mit dem äußeren Dasein. Hass und Liebe, Antipathie und Sympathie leben in der Menschenseele; sie leben auch außerhalb der Mauer, welche die Menschenseele umschließt; das Leben der Seele setzt sich so außerhalb derselben gleichartig fort und erscheint in Kräften, welche die Elemente der äußeren Natur: Luft, Feuer, Wasser, Erde trennen und verbinden und so das bewirken, was die Sinne in der Außenwelt wahrnehmen.

Empedokles steht gewissermaßen vor der den Sinnen entseelt erscheinenden Natur und entwickelt eine Seelenstimmung, welche sich gegen diese Entseelung auflehnt. Seine Seele kann nicht glauben, dass dies das wahre Wesen der Natur ist, was der Gedanke aus ihr machen will. Am wenigsten kann sie zugeben, dass sie zu dieser Natur in Wahrheit nur in einem solchen Verhältnisse stehe, wie es sich der gedanklichen Weltanschauung ergibt. Man muss sich vorstellen, was in einer Seele vorgeht, die in aller Schärfe solchen inneren Zwiespalt erlebt, an ihm leidet; dann wird man nachfühlen, wie in dieser Seele des Empedokles die alte Vorstellungsart als Kraft des Empfindens aufersteht, aber unwillig ist, sich dies zum vollen Bewusstsein zu bringen, und so in gedanken-bilderhafter Art ein Dasein sucht, in jener Art, von der Aussprüche des Empedokles ein Widerklang sind, die, aus dem hier Angedeuteten heraus verstanden, ihre Sonderbarkeit verlieren. Wird doch von ihm ein Spruch wie dieser angeführt: «Lebt wohl. Nicht mehr ein Sterblicher, sondern ein unsterblicher Gott wandle ich umher; ... und sobald ich in die blühenden Städte komme, werde ich von Männern und Frauen verehrt: sie schließen sich an mich an zu Tausenden, mit mir den Weg zu ihrem Heile suchend, da die einen Weissagungen, die anderen Heilsprüche für mannigfaltige Krankheiten von mir erwarten.» So betäubt sich die Seele, in welcher eine alte Vorstellungsart rumort, die sie ihr eigenes Dasein wie das eines verbannten Gottes empfinden lässt, der aus einem anderen Sein in die entseelte Welt der Sinne versetzt ist, und der deshalb die Erde als «ungewohnten Ort» empfindet, in den er wie zur Strafe geworfen ist. Man kann gewiss auch noch andere Empfindungen in der Seele des Empedokles finden; denn es leuchten aus seinen Aussprüchen Weisheitsblitze bedeutsam heraus; sein Gefühl gegenüber der «Geburt der gedanklichen Weltanschauung» ist durch solche Stimmungen gegeben.

Anders als diese Persönlichkeit sahen diejenigen Denker, welche man die Atomisten nennt, auf das hin, was für die Seele des Menschen aus der Natur durch die Geburt des Gedankens geworden war.

Man sieht den bedeutendsten unter ihnen in Demokrit (geb. um 460 v. Chr. in Abdera). Leukipp ist ihm eine Art Vorläufer.

Bei Demokrit sind die Homoiomerien des Anaxagoras um einen bedeutenden Grad stofflicher geworden. Bei Anaxagoras kann man die Ur-Teil-Wesen noch mit lebendigen Keimen vergleichen; bei Demokrit werden sie zu toten, unteilbaren Stoffteilchen, welche durch ihre verschiedenen Kombinationen die Dinge der Außenwelt zusammensetzen. Sie bewegen sich voneinander, zueinander, durcheinander: so entstehen die Naturvorgänge. Der Weltverstand (Nus) des Anaxagoras, welcher wie ein geistiges (körperloses) Bewusstsein in zweckvoller Art die Weltenvorgänge aus dem Zusammenwirken der Homoiomerien hervorgehen lässt, wird bei Demokrit zur bewusstlosen Naturgesetzmäßigkeit (Ananke).

Die Seele will nur gelten lassen, was sie als nächstliegendes Gedankenergebnis erfassen kann; die Natur ist völlig entseelt; der Gedanke verblasst als Seelen-Erlebnis zum inneren Schattenbilde der entseelten Natur. Damit ist durch Demokrit das gedankliche Urbild aller mehr oder weniger materialistisch gefärbten Weltanschauungen der Folgezeit in die Erscheinung getreten.

Die Atomen-Welt des Demokrit stellt eine Außenwelt, eine Natur dar, in welcher nichts von «Seele» lebt. Die Gedanken-Erlebnisse in der Seele, durch deren Geburt die Menschenseele auf sich selbst aufmerksam geworden ist: bei Demokrit sind sie bloße Schatten-Erlebnisse.

Damit ist ein Teil des Schicksals der Gedanken-Erlebnisse gekennzeichnet. Sie bringen die Menschenseele zum Bewusstsein ihres eigenen Wesens, aber sie erfüllen sie zugleich mit Ungewissheit über sich selbst. Die Seele erlebt sich durch den Gedanken in sich selbst, aber sie kann sich zugleich losgerissen fühlen von der geistigen, von ihr unabhängigen Weltmacht, die ihr Sicherheit und inneren Halt gibt.

So losgebunden in der Seele fühlten sich diejenigen Persönlichkeiten, welchen man innerhalb des griechischen Geisteslebens den Namen «Sophisten» gibt. Die bedeutendste in ihren Reihen ist Protagoras (von Abdera um 480-410 v. Chr.). Neben ihm kommen in Betracht: Gorgias, Kritias, Hippias, Trasymachus, Prodikus. Die Sophisten werden oftmals als Menschen hingestellt, die mit dem Denken ein oberflächliches Spiel getrieben haben. Viel hat zu dieser Meinung die Art beigetragen, wie sie der Lustspieldichter Aristophanes behandelt hat. Es kommt aber, neben vielem anderen, schon als äußerlicher Grund zu einer besseren Würdigung zum Beispiel in Betracht, dass selbst Sokrates, der sich in gewissen Grenzen als Schüler des Prodikus fühlte, diesen als einen Mann bezeichnet haben soll, der für die Veredelung der Sprache und des Denkens bei seinen Schülern gut gewirkt hat.

Protagoras' Anschauung erscheint in dem berühmten Satze ausgesprochen: «Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind.» In der Gesinnung, welche diesem Satz zugrunde liegt, fühlt sich das Gedanken-Erlebnis souverän. Einen Zusammenhang mit einer objektiven Weltenmacht empfindet es nicht. Wenn Parmenides meint: Die Sinne geben dem Menschen eine Welt der Täuschung, – man könnte noch weiter gehen und hinzufügen: Warum sollte das Denken, das man zwar erlebt, nicht auch täuschen? Doch Protagoras würde erwidern: Was kann es den Menschen bekümmern, ob die Welt außer ihm anders ist, als er sie wahrnimmt und denkt? Stellt er sie denn für jemand anderen als für sich vor? Mag sie für ein anderes Wesen sein wie immer, der Mensch braucht sich darüber keine Sorge zu machen. Seine Vorstellungen sollen doch nur ihm dienen; er soll mit ihrer Hilfe seinen Weg in der Welt finden. Er kann, wenn er sich völlig klar über sich wird, keine anderen Vorstellungen über die Welt haben wollen als solche, welche ihm dienen. Protagoras will auf das Denken bauen können; dazu stützt er es lediglich auf dessen eigene Machtvollkommenheit.

Damit aber setzt sich Protagoras in gewisser Beziehung in Widerspruch mit dem Geiste, der in den Tiefen des Griechentums lebt. Dieser «Geist» ist deutlich vernehmbar innerhalb des griechischen Wesens. Er spricht bereits aus der Aufschrift des delphischen Tempels «Erkenne dich selbst». Diese alte Orakelweisheit spricht so, als ob sie die Aufforderung enthielte zu dem Weltanschauungsfortschritt, der sich aus dem Bildervorstellen zu dem gedanklichen Ergreifen der Weltgeheimnisse vollzieht.

Es ist durch diese Aufforderung der Mensch hingewiesen auf die eigene Seele. Es wird ihm gesagt, dass er in ihr die Sprache vernehmen könne, durch welche die Welt ihr Wesen ausspricht. Aber es wird damit auch auf etwas verwiesen, was in seinem eigenen Erleben sich Ungewissheiten und Unsicherheiten erzeugt. Die Geister innerhalb Griechenlands sollten die Gefahren dieses sich auf sich selbst stützenden Seelenlebens besiegen. So sollten sie den Gedanken in der Seele zur Weltanschauung ausgestalten.

Die Sophisten sind dabei in ein gefährliches Fahrwasser geraten. In ihnen stellt sich der Geist des Griechentums wie an einen Abgrund; er will sich die Kraft des Gleichgewichts durch seine eigene Macht geben. Man sollte, wie schon angedeutet worden ist, mehr auf den Ernst dieses Versuches und auf seine Kühnheit blicken, als ihn leichthin anklagen, wenn auch die Anklage für viele der Sophisten gewiss berechtigt ist. Doch stellt sich dieser Versuch naturgemäß in das griechische Leben an einem Wendepunkte hinein.

Protagoras lebte um 480-410 v. Chr. Der Peloponnesische Krieg, der an dem Wendepunkte des griechischen Lebens steht, fand statt von 431-404 v. Chr. Vorher war in Griechenland der einzelne Mensch fest in die sozialen Zusammenhänge eingeschlossen; die Gemeinwesen und die Tradition gaben ihm den Maßstab für sein Handeln und Denken ab. Die einzelne Persönlichkeit hatte nur als Glied des Ganzen Wert und Bedeutung. Unter solchen Verhältnissen konnte noch nicht die Frage gestellt werden: Was ist der einzelne Mensch wert? Die Sophistik stellt diese Frage, und sie macht damit den Schritt zu der griechischen Aufklärung hin. Es ist doch im Grunde die Frage: Wie richtet sich der Mensch sein Leben ein, nachdem er sich des erwachten Gedankenlebens bewusst geworden ist? Von Pherekydes (oder Thales) bis zu den Sophisten ist in Griechenland innerhalb der Weltanschauungsentwicklung das allmähliche Einleben des schon vor diesen Persönlichkeiten geborenen Gedankens zu beobachten. An ihnen zeigt sich, wie der Gedanke wirkt, wenn er in den Dienst der Weltanschauung gestellt wird. Doch ist diese Geburt in der ganzen Breite des griechischen Lebens zu bemerken. Die Weltanschauung ist nur ein Gebiet, auf dem sich eine allgemeine Lebenserscheinung in einem besonderen Falle auslebt. Man könnte eine ganz ähnliche Entwicklungsströmung auf den Gebieten der Kunst, der Dichtung, des öffentlichen Lebens, der verschiedenen Gebiete des Handwerks, des Verkehrs nachweisen. Diese Betrachtung würde überall zeigen, wie die menschliche Wirksamkeit eine andere wird unter dem Einflusse derjenigen Organisation des Menschen, die in die Weltanschauung den Gedanken einführt. Die Weltanschauung «entdeckt» nicht etwa den Gedanken, sie entsteht vielmehr dadurch, dass sie sich des geborenen Gedankenlebens zum Aufbau eines Weltbildes bedient, das vorher aus anderen Erlebnissen sich gebildet hat.

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Kann man von den Sophisten sagen, dass sie den Geist des Griechentums an eine gefährliche Klippe brachten, der sich in dem «Erkenne dich selbst» ausdrückt, so muss in Sokrates eine Persönlichkeit gesehen werden, welche diesen Geist mit einem hohen Grade von Vollkommenheit zum Ausdruck brachte. Sokrates ist in Athen um 470 geboren und wurde 399 v. Chr. zum Tode durch Gift verurteilt.

Geschichtlich steht Sokrates durch zwei Überlieferungen vor dem Betrachter. Einmal in der Gestalt, die sein großer Schüler Plato (427-347 v. Chr.) gezeichnet hat. Plato stellt seine Weltanschauung in Gesprächsform dar. Und Sokrates tritt in diesen «Gesprächen» lehrend auf. Da erscheint dieser als «der Weise», der die Personen seiner Umgebung durch seine geistige Führung zu hohen Erkenntnisstufen geleitet. Ein zweites Bild hat Xenophon in seinen «Erinnerungen» an Sokrates gezeichnet. Zunächst erscheint es, als ob Plato das Wesen des Sokrates idealisiert, Xenophon mehr der unmittelbaren Wirklichkeit nachgezeichnet hätte. Eine mehr in die Sache eingehende Betrachtung könnte wohl finden, dass Plato sowohl wie Xenophon, ein jeder von Sokrates das Bild zeichnen, das sie nach ihrem besonderen Gesichtspunkte empfangen haben, und dass man daher ins Auge fassen darf, inwiefern die beiden sich ergänzen und gegenseitig beleuchten.

Bedeutungsvoll muss zunächst erscheinen, dass des Sokrates Weltanschauung völlig als ein Ausdruck seiner Persönlichkeit, des Grundcharakters seines Seelenlebens auf die Nachwelt gekommen ist.

Sowohl Plato wie Xenophon stellen Sokrates so dar, dass man den Eindruck hat: in ihm spricht überall seine persönliche Meinung; aber die Persönlichkeit trägt das Bewusstsein in sich: Wer seine persönliche Meinung aus den rechten Gründen der Seele herausspricht, der spricht etwas aus, was mehr ist als Menschenmeinung, was ein Ausdruck ist der Absichten der Weltordnung durch das menschliche Denken. Sokrates wird von denen, die ihn zu kennen glauben, so aufgenommen, dass er ein Beweis dafür ist: in der Menschenseele kommt denkend die Wahrheit zustande, wenn diese Menschenseele mit ihrem Grundwesen so verbunden ist, wie es bei Sokrates der Fall war. Indem Plato auf Sokrates blickt, trägt er nicht eine Lehre vor, die durch Nachdenken «festgestellt» wird, sondern er lässt einen im rechten Sinne entwickelten Menschen sprechen und beobachtet, was dieser als Wahrheit hervorbringt. So wird die Art, wie sich Plato zu Sokrates verhält, zu einem Ausdruck dafür, was der Mensch in seinem Verhältnis zur Welt ist. Nicht allein das ist bedeutsam, was Plato über Sokrates vorgebracht hat, sondern das, wie er in seinem schriftstellerischen Verhalten Sokrates in die Welt des griechischen Geisteslebens hineingestellt hat.

Mit der Geburt des Gedankens war der Mensch auf seine «Seele» hingelenkt. Nun entsteht die Frage: Was sagt diese Seele, wenn sie sich zum Sprechen bringt und ausdrückt, was die Weltenkräfte in sie gelegt haben? Und durch die Art, wie Plato sich zu Sokrates stellt, ergibt sich die Antwort: In der Seele spricht die Vernunft der Welt dasjenige, was sie dem Menschen sagen will. Damit ist begründet das Vertrauen in die Offenbarungen der Menschenseele, insofern diese den Gedanken in sich entwickelt. Im Zeichen dieses Vertrauens erscheint die Gestalt des Sokrates.

In alten Zeiten fragte der Grieche bei den Priesterstätten in wichtigen Lebensfragen an; er ließ sich «weissagen», was der Wille und die Meinung der geistigen Mächte ist. Solche Einrichtung steht im Einklange mit einem Seelen-Erleben in Bildern. Durch das Bild fühlt der Mensch sich dem Walten der weltregierenden Mächte verbunden. Die Weissagestätte ist dann die Einrichtung, durch welche ein besonders dazu geeigneter Mensch den Weg zu den geistigen Mächten besser findet als andere Menschen. So lange man sich mit seiner Seele nicht abgesondert von der Außenwelt fühlte, war die Empfindung naturgemäß, dass diese Außenwelt durch eine besondere Einrichtung mehr zum Ausdruck bringen konnte als in dem Alltags-Erleben.

Das Bild sprach von außen; warum sollte die Außenwelt an besonderem Orte nicht besonders deutlich sprechen können? Der Gedanke spricht zum Innern der Seele. Damit ist diese Seele auf sich selbst gewiesen; mit einer anderen Seele kann sie sich nicht so verbunden wissen wie mit den Kundgebungen der priesterlichen Weissagestätte. Man musste dem Gedanken die eigene Seele hingeben. Man fühlte von dem Gedanken, dass er Gemeingut der Menschen ist.

In das Gedankenleben leuchtet die Weltvernunft hinein ohne besondere Einrichtungen. Sokrates empfand: In der denkenden Seele lebt die Kraft, welche an den «Weissagestätten» gesucht wurde. Er empfand das «Dämonium», die geistige Kraft, die die Seele führt, in sich. Der Gedanke hat die Seele zum Bewusstsein ihrer selbst gebracht. Mit seiner Vorstellung des in ihm sprechenden Dämoniums, das, ihn stets führend, sagte, was er zu tun habe, wollte Sokrates ausdrücken: Die Seele, die sich im Gedankenleben gefunden hat, darf sich fühlen, als ob sie in sich mit der Weltvernunft verkehrte. Es ist dies der Ausdruck der Wertschätzung dessen, was die Seele in dem Gedanken-Erleben hat.

Unter dem Einflusse dieser Anschauung wird die «Tugend» in ein besonderes Licht gerückt.

Wie Sokrates den Gedanken schätzt, so muss er voraussetzen, dass sich die wahre Tugend des Menschenlebens dem Gedankenleben offenbart. Die rechte Tugend muss in dem Gedankenleben gefunden werden, weil das Gedankenleben dem Menschen seinen Wert verleiht. «Die Tugend ist lehrbar», so wird des Sokrates Vorstellung zumeist ausgesprochen. Sie ist lehrbar, weil sie der besitzen muss, welcher das Gedankenleben wahrhaftig ergreift. Bedeutsam ist, was in dieser Beziehung Xenophon von Sokrates sagt. Sokrates belehrt einen Schüler über die Tugend. Es entwickelt sich das folgende Gespräch.

Sokrates sagt: «Glaubst du nun, dass es eine Lehre und Wissenschaft der Gerechtigkeit gibt, ebenso wie eine Lehre der Grammatik?» Der Schüler: «Ja.» Sokrates: «Wen hältst du nun für fester in der Grammatik, den, welcher mit Absicht nicht richtig schreibt und liest, oder den, welcher unabsichtlich?» Schüler: «Den, sollte ich meinen, der es absichtlich tut, denn wenn er wollte, könnte er es auch richtig machen.» Sokrates: «Scheint dir nun nicht der, welcher absichtlich unrichtig schreibt, das Schreiben zu verstehen, der andere aber nicht?» Schüler: «Ohne Zweifel.» Sokrates: «Wer versteht sich nun aber besser auf das Gerechte, der absichtlich lügt oder betrügt, oder wer unabsichtlich?» (Xenophons Erinnerungen an Sokrates Memorabilia -, übersetzt von Güthling.) Es handelt sich für Sokrates darum, dem Schüler klarzumachen, dass es darauf ankomme, die richtigen Gedanken über die Tugend zu haben. Auch dasjenige, was Sokrates von der Tugend sagt, zielt also darauf hinaus, das Vertrauen zu der im Gedanken-Erlebnis sich erkennenden Seele zu begründen. Man muss auf den rechten Gedanken der Tugend mehr vertrauen als auf alle anderen Motive. Den Menschen macht die Tugend schätzenswert, wenn er sie in Gedanken erlebt.

So kommt in Sokrates zum Ausdruck, wonach die vorsokratische Zeit strebte: Wertschätzung dessen, was der Menschenseele gegeben ist durch das erwachte Gedankenleben. Sokrates' Lehrmethode steht unter dem Einflusse dieser Vorstellung. Er tritt an den Menschen heran mit der Voraussetzung: in ihm ist das Gedankenleben; es braucht nur geweckt zu werden. Deshalb richtet er seine Fragen so ein, dass der Gefragte zum Erwecken seines Gedankenlebens veranlasst wird. Darinnen liegt das Wesentliche der sokratischen Methode.

Der 427 v. Chr. in Athen geborene Plato empfand als Schüler des Sokrates, dass ihm durch diesen das Vertrauen in das Gedankenleben sich befestigte. Das, was die ganze bisherige Entwicklung zur Erscheinung bringen wollte: in Plato erreicht es einen Höhepunkt. Es ist die Vorstellung, dass im Gedankenleben sich der Weltengeist offenbart. Von dieser Empfindung wird zunächst Platos ganzes Seelenleben überleuchtet. Alles, was der Mensch durch die Sinne oder auf sonst eine Art erkennt, ist nicht wertvoll, solange die Seele es nicht in das Licht des Gedankens gerückt hat.

Philosophie wird für Plato die Wissenschaft von den Ideen als dem wahren Seienden. Und die Idee ist die Offenbarung des Weltengeistes durch die Gedanken-Offenbarung. Das Licht des Weltengeistes scheint in die Menschenseele, offenbart sich da als Ideen; und die Menschenseele vereinigt sich, indem sie die Idee ergreift, mit der Kraft des Weltgeistes. Die im Raum und in der Zeit ausgebreitete Welt ist wie die Meereswassermasse, in der sich die Sterne spiegeln; doch ist wirklich nur, was sich als Idee spiegelt. So verwandelt sich für Plato die ganze Welt in die aufeinander wirkenden Ideen. Deren Wirken in der Welt kommt zustande dadurch, dass die Ideen sich in der Hyle, der Urmaterie, spiegeln. Durch diese Spiegelung ersteht das, was als viele Einzeldinge und Einzelvorgänge der Mensch sieht. Aber man braucht das Erkennen nicht auf die Hyle, den Urstoff, auszudehnen, denn in ihm ist nicht die Wahrheit. Zu dieser kommt man erst, wenn man von dem Weltbilde alles abstreift, was nicht Idee ist.

Die Menschenseele ist für Plato in der Idee lebend; aber dieses Leben ist so gestaltet, dass diese Seele nicht in allen ihren Äußerungen eine Offenbarung ihres Lebens in den Ideen ist. Insofern die Seele in das Ideenleben eingetaucht ist, erscheint sie als die «vernünftige Seele» (gedankentragende Seele). Als solche erscheint sich die Seele, wenn sie im Gedankenwahrnehmen sich selber offenbar wird. In ihrem irdischen Dasein ist sie außerstande, sich nur so zu offenbaren. Sie muss sich auch so zum Ausdruck bringen, dass sie als «unvernünftige Seele» (nicht gedankentragende Seele) erscheint. Und als solche tritt sie wieder in zweifacher Art auf, als mutentwickelnde und als begierdevolle Seele. So scheint Plato in der Menschenseele drei Glieder oder Teile zu unterscheiden: die Vernunftseele, die mutartige Seele und die Begierdeseele. Man wird aber den Geist seiner Vorstellungsart besser treffen, wenn man dies in anderer Art ausdrückt: Die Seele ist ihrem Wesen nach ein Glied der Ideenwelt. Als solche ist sie Vernunftseele. Sie betätigt sich aber so, dass sie zu ihrem Leben in der Vernunft hinzufügt eine Betätigung durch das Mutartige und das Begierdehafte. In dieser dreifachen Äußerungsart ist sie Erdenseele. Sie steigt als Vernunftseele durch die physische Geburt zum Erdendasein herab und geht mit dem Tode wieder in die Ideenwelt ein. Insofern sie Vernunftseele ist, ist sie unsterblich, denn sie lebt als solche das ewige Dasein der Ideenwelt mit.

Diese Seelenlehre des Plato erscheint als eine bedeutsame Tatsache innerhalb des Zeitalters der Gedankenwahrnehmung. Der erwachte Gedanke wies den Menschen auf die Seele hin. Bei Plato entwickelt sich eine Anschauung über die Seele, die ganz Ergebnis der Gedankenwahrnehmung ist. Der Gedanke hat sich in Plato erkühnt, nicht nur auf die Seele hinzuweisen, sondern auszudrücken, was die Seele ist, sie gewissermaßen zu beschreiben. Und, was der Gedanke über die Seele zu sagen hat, gibt dieser die Kraft, sich im Ewigen zu wissen. Ja, es beleuchtet der Gedanke in der Seele sogar die Natur des Zeitlichen, indem er sein eigenes Wesen über dieses Zeitliche hinaus erweitert.

Die Seele nimmt den Gedanken wahr. So wie sie im Erdenleben sich offenbart, ist die reine Gestalt des Gedankens in ihr nicht zu entwickeln. Woher kommt das Gedankenerleben, wenn es nicht im Erdenleben entwickelt werden kann? Es bildet eine Erinnerung an einen vorirdischen, rein geistigen Zustand. Der Gedanke hat die Seele so ergriffen, dass er sich mit ihrer irdischen Existenz nicht begnügt. Er ist der Seele geoffenbart in einer Vorexistenz (Präexistenz) in der Geisteswelt (Ideenwelt), und die Seele holt ihn während ihrer irdischen Existenz durch Erinnerung aus jenem Leben herauf, das sie im Geiste verbracht hat.

Es ergibt sich aus dieser Seelenauffassung, was Plato über das sittliche Leben zu sagen hat. Die Seele ist sittlich, wenn sie das Leben so einrichtet, dass sie möglichst stark sich als Vernunftseele zum Ausdruck bringt. Die Weisheit ist die Tugend, welche aus der Vernunftseele stammt; sie veredelt das menschliche Leben; die Starkmut kommt der mutartigen, die Besonnenheit der begierdevollen Seele zu.

Die beiden letzteren Tugenden entstehen, wenn die Vernunftseele über die anderen Seelenoffenbarungen zum Herrscher wird. Wenn alle drei Tugenden harmonisch im Menschen zusammenwirken, so entsteht das, was Plato die Gerechtigkeit, die Richtung auf das Gute, Dikaiosyne nennt.

Platos Schüler Aristoteles (geb. 384 v. Chr. in Stagira in Thrazien, gest. 321 v. Chr.) bezeichnet neben seinem Lehrer einen Höhepunkt des griechischen Denkens. Bei ihm ist das Einleben des Gedankens in die Weltanschauung bereits vollzogen und zur Ruhe gekommen. Der Gedanke tritt sein rechtmäßiges Besitztum an, um die Wesen und Vorgänge der Welt von sich aus zu begreifen. Plato wendet sein Vorstellen noch dazu an, den Gedanken in seine Herrschaft einzusetzen und ihn zur Ideenwelt zu führen.

Bei Aristoteles ist diese Herrschaft selbstverständlich geworden. Es kommt ferner darauf an, sie über die Gebiete der Erkenntnis hin überall zu befestigen. Aristoteles versteht, den Gedanken als ein Werkzeug zu gebrauchen, das in das Wesen der Dinge eindringt. Für Plato handelt es sich darum, das Ding oder Wesen der Außenwelt zu überwinden; und wenn es überwunden ist, trägt die Seele die Idee in sich, von welcher das Außenwesen nur überschattet war, ihm aber fremd ist, und in einer geistigen Welt der Wahrheit über ihm schwebt.

Aristoteles will in die Wesen und Vorgänge untertauchen, und was die Seele bei diesem Untertauchen findet, das ist ihm das Wesen des Dinges selbst. Die Seele fühlt, wie wenn sie dieses Wesen nur aus dem Dinge herausgehoben und für sich in die Gedankenform gebracht hätte, damit sie es wie ein Andenken an das Ding mit sich tragen könne. So sind für Aristoteles die Ideen in den Dingen und Vorgängen; sie sind die eine Seite der Dinge, diejenige, welche die Seele mit ihren Mitteln aus ihnen herausheben kann; die andere Seite, welche die Seele nicht aus den Dingen herausheben kann, durch welche diese ihr auf sich gebautes Leben haben, ist der Stoff, die Materie (Hyle).

Wie bei Plato auf dessen ganze Weltanschauung von seiner Seelenanschauung aus Licht fällt, so ist dieses auch bei Aristoteles der Fall. Bei beiden Denkern liegt die Sache so, dass man das Grundwesen ihrer ganzen Weltanschauung charakterisiert, wenn man dies für ihre Seelenanschauung vollbringt.

Gewiss kämen für beide Denker viele Einzelheiten in Betracht, die in diesen Ausführungen keine Stelle finden können; doch gibt bei beiden die Seelenauffassung die Richtung, welche ihre Vorstellungsart genommen hat.

Für Plato kommt in Betracht, was in der Seele lebt und als solches an der Geisteswelt Anteil hat; für Aristoteles ist wichtig, wie die Seele sich im Menschen für dessen eigene Erkenntnis darstellt.

Wie in die anderen Dinge muss die Seele auch in sich selbst untertauchen, um in sich dasjenige zu finden, was ihr Wesen ausmacht. Die Idee, welche im Sinne des Aristoteles der Mensch in einem außerseelischen Dinge findet, ist zwar dieses Wesen des Dinges; aber die Seele hat dieses Wesen in die Ideenform gebracht, um es für sich zu haben. Ihre Wirklichkeit hat die Idee nicht in der erkennenden Seele, sondern in dem Außendinge mit dem Stoffe (der Hyle) zusammen. Taucht die Seele aber in sich selbst unter, so findet sie die Idee als solche in Wirklichkeit. Die Seele ist in diesem Sinne Idee, aber tätige Idee, wirksame Wesenheit. Und sie verhält sich auch im Leben des Menschen als solche wirksame Wesenheit. Sie erfasst im Keimesleben des Menschen das Körperliche.

Während bei einem außerseelischen Ding Idee und Stoff eine untrennbare Einheit bilden, ist dies bei der Menschenseele und ihrem Leibe nicht der Fall. Da erfasst die selbständige Menschenseele das Leibliche, setzt die im Leibe schon tätige Idee außer Kraft, und setzt sich selbst an deren Stelle. In dem Leiblichen, mit dem sich die Menschenseele verbindet, lebt im Sinne des Aristoteles schon ein Seelisches. Denn er sieht auch in dem Pflanzenleibe und in dem Tierleibe ein untergeordnetes Seelisches wirksam.

Ein Leib, welcher das Seelische der Pflanze und des Tieres in sich trägt, wird durch die Menschenseele gleichsam befruchtet, und so verbindet sich für den Erdenmenschen ein Leiblich-Seelisches mit einem Geistig-Seelischen. Dieses letztere hebt die selbständige Wirksamkeit des Leiblich-Seelischen während der Dauer des menschlichen Erdenlebens auf und wirkt selbst mit dem Leiblich-Seelischen als mit seinem Instrument.

Dadurch entstehen fünf Seelenäußerungen, die bei Aristoteles wie fünf Seelenglieder erscheinen: die pflanzenhafte Seele (Threptikon), die empfindende Seele (Ästhetikon), die begierdenentwickelnde Seele (Orektikon), die willenentfaltende Seele (Kinetikon) und die geistige Seele (Dianoetikon).

Geistige Seele ist der Mensch durch das, was der geistigen Welt angehört und sich im Keimesleben mit dem Leiblich-Seelischen verbindet; die anderen Seelenglieder entstehen, indem sich die geistige Seele in dem Leiblichen entfaltet und durch dasselbe das Erdenleben führt. Mit dem Hinblicke auf eine geistige Seele ist für Aristoteles naturgemäß der auf eine Geisteswelt überhaupt gegeben.

Das Weltbild des Aristoteles steht so vor dem betrachtenden Blicke, dass unten die Dinge und Vorgänge leben, Stoff und Idee darstellend; je höher man den Blick wendet, um so mehr schwindet, was stofflichen Charakter trägt; rein Geistiges – dem Menschen sich als Idee darstellend – erscheint, die Weltsphäre, in welcher das Göttliche als reine Geistigkeit, die alles bewegt, sein Wesen hat. Dieser Weltsphäre gehört die geistige Menschenseele an; sie ist als individuelles Wesen nicht, sondern nur als Teil des Weltengeistes vorhanden, bevor sie sich mit einem Leiblich-Seelischen verbindet. Durch diese Verbindung erwirbt sie sich ihr individuelles, vom Weltgeist abgesondertes Dasein und lebt nach der Trennung vom Leiblichen als geistiges Wesen weiter fort. So nimmt das individuelle Seelenwesen mit dem menschlichen Erdenleben seinen Anfang und lebt dann unsterblich weiter. Eine Vorexistenz der Seele vor dem Erdenleben nimmt Plato an, nicht aber Aristoteles. Dies ist ebenso naturgemäß für letzteren, welcher die Idee im Dinge bestehen lässt, wie das andere naturgemäß für jenen ist, der die Idee über dem Dinge schwebend vorstellt. Aristoteles findet die Idee in dem Dinge; und die Seele erlangt das, was sie in der Geisteswelt als Individualität sein soll, in dem Leibe.

Aristoteles ist der Denker, welcher den Gedanken durch die Berührung mit dem Wesen der Welt sich zur Weltanschauung entfalten lässt. Das Zeitalter vor Aristoteles hat zu dem Erleben der Gedanken hingeführt; Aristoteles ergreift die Gedanken und wendet sie auf dasjenige an, was sich ihm in der Welt darbietet. Die selbstverständliche Art, in dem Gedanken zu leben, die ihm eigen ist, führt Aristoteles auch dazu, die Gesetze des Gedankenlebens selbst, die Logik, zu erforschen. Eine solche Wissenschaft konnte erst entstehen, nachdem der erwachte Gedanke zu einem reifen Leben gediehen und zu einem solch harmonischen Verhältnisse mit den Dingen der Außenwelt gekommen war, wie es bei Aristoteles zu treffen ist.

Neben Aristoteles gestellt, sind die Denker, welche das griechische, ja das gesamte Altertum als seine Zeitgenossen und Nachfolger aufweist, Persönlichkeiten, die von viel geringerer Bedeutung erscheinen. Sie machen den Eindruck, als ob ihren Fähigkeiten etwas abgehe, um zu der Stufe der Einsicht sich zu erheben, auf welcher Aristoteles stand. Man hat das Gefühl, sie weichen von ihm ab, weil sie Ansichten aufstellen müssen über Dinge, die sie nicht so gut verstehen wie er. Man möchte ihre Ansichten aus ihrem Mangel herleiten, der sie verführte, Meinungen zu äußern, die im Grunde bei Aristoteles schon widerlegt sind.

Solchen Eindruck kann man zunächst empfangen von den Stoikern und Epikureern. Zu den ersteren, die ihren Namen von der Säulenhalle, Stoa, in Athen hatten, in welcher sie lehrten, gehören Zenon von Kition (336-264 v. Chr.), Kleanthes (331-233), Chrysippus (280-208) und andere. Sie nehmen aus früheren Weltanschauungen, was ihnen in denselben vernünftig zu sein scheint; es kommt ihnen aber vor allem darauf an, durch die Weltbetrachtung zu erfahren, wie der Mensch in die Welt hineingestellt ist.

Danach wollen sie bestimmen, wie das Leben einzurichten ist, damit es der Weltordnung entspricht, und damit der Mensch im Sinne dieser Weltordnung dasjenige auslebt, was seinem Wesen gemäß ist. Durch Begierden, Leidenschaften, Bedürfnisse betäubt in ihrem Sinne der Mensch sein naturgemäßes Wesen; durch Gleichmut, Bedürfnislosigkeit fühlt er am besten, was er sein soll und sein kann. Das Ideal des Menschen ist «der Weise», welcher die innere Entfaltung des Menschenwesens durch keine Untugend verdunkelt.

Waren die Denker bis zu Aristoteles darauf bedacht, die Erkenntnis zu erlangen, welche dem Menschen erreichbar ist, nachdem er durch das Gedankenwahrnehmen zum vollen Bewusstsein seiner Seele gekommen war, so beginnt mit den Stoikern das Nachdenken darüber: Was soll der Mensch tun, um seine Menschenwesenheit am besten zum Ausdruck zu bringen?

Epikur (geb. 342, gest. 271 v. Chr.) bildete in seiner Art die Elemente aus, welche in der Atomistik schon veranlagt waren. Und auf diesem Unterbau lässt er eine Lebensansicht sich erheben, welche als eine Antwort auf die Frage angesehen werden kann: Da die menschliche Seele sich wie die Blüte aus den Weltvorgängen heraushebt, wie soll sie leben, um ihr Sonderleben, ihre Selbständigkeit dem vernünftigen Denken gemäß zu gestalten? Epikur konnte nur in einer solchen Art diese Frage beantworten, welche das Seelenleben zwischen Geburt und Tod in Betracht zieht, denn bei voller Aufrichtigkeit kann sich aus der atomistischen Weltanschauung nichts anderes ergeben. Ein besonderes Lebensrätsel muss für eine solche Anschauung der Schmerz bilden. Denn der Schmerz ist eine derjenigen Tatsachen, welche die Seele aus dem Bewusstsein ihrer Einheit mit den Weltendingen heraustreiben. Man kann die Bewegung der Sterne, das Fallen des Regens im Sinne der Weltanschauung der Vorzeit so betrachten, wie die Bewegung der eigenen Hand, das heißt in beiden ein einheitliches Geistig-Seelisches erfühlen. Dass Vorgänge im Menschen Schmerzen bereiten können, solche außer ihm nicht, das treibt aber die Seele zur Anerkennung ihres besonderen Wesens. Eine Tugendlehre, welche wie die Epikurs danach strebt, im Einklange mit der Weltvernunft zu leben, kann begreiflicherweise ein solches Lebensideal besonders schätzen, welches zur Vermeidung des Schmerzes, der Unlust führt. So wird alles, was Unlust beseitigt, zum höchsten epikureischen Lebensgut.

Diese Lebensauffassung fand im weiteren Altertume zahlreiche Anhänger, namentlich auch bei den nach Bildung strebenden Römern. Der römische Dichter T. Lucretius Carus (96-55 v. Chr.) hat ihr in seinem Gedicht «Über die Natur» einen formvollendeten Ausdruck gegeben.

Das Gedankenwahrnehmen führt die menschliche Seele zur Anerkennung ihrer selbst. Es kann aber auch eintreten, dass die Seele sich ohnmächtig fühlt, das Gedankenerleben so zu vertiefen, dass sie in ihm einen Zusammenhang findet mit den Gründen der Welt. Dann fühlt sich die Seele losgerissen von dem Zusammenhang mit diesen Gründen durch das Denken; sie fühlt, dass in dem Denken ihr Wesen liegt; aber sie findet keinen Weg, um im Gedankenleben etwas anderes als nur ihre eigene Behauptung zu finden. Dann kann sie sich nur dem Verzicht auf jede wahre Erkenntnis ergeben. In solchem Falle waren Pyrrho (360-270 v. Chr.) und seine Anhänger, deren Bekenntnis man als Skeptizismus bezeichnet. Der Skeptizismus, die Weltanschauung des Zweifels, schreibt dem Gedankenerleben keine andere Fähigkeit zu, als menschliche Meinungen sich über die Welt zu machen; ob diese Meinungen für die Welt außerhalb des Menschen eine Bedeutung haben, darüber will er nichts entscheiden.

Man kann in der Reihe der griechischen Denker ein in gewissem Sinne geschlossenes Bild erblicken. Zwar wird man sich gestehen müssen, dass ein solcher Zusammenschluss der Ansichten von Persönlichkeiten allzu leicht einen ganz äußeren Charakter tragen und in vieler Beziehung nur von untergeordneter Bedeutung sein kann. Denn das Wesentliche bleibt doch die Betrachtung der einzelnen Persönlichkeiten und das Gewinnen von Eindrücken darüber, wie sich in diesen einzelnen Persönlichkeiten das Allgemein-Menschliche in besonderen Fällen zur Offenbarung bringt. Doch sieht man in der griechischen Denkerreihe etwas wie das Geborenwerden, Sich-Entfalten und Leben des Gedankens, in den vorsokratischen Denkern eine Art Vorspiel; in Sokrates, Plato und Aristoteles die Höhe, und in der Folgezeit ein Herabsteigen des Gedankenlebens, eine Art Auflösung desselben.

Wer diesem Verlauf betrachtend folgt, der kann zu der Frage kommen: Hat das Gedankenerleben wirklich die Kraft, der Seele alles das zu geben, worauf es sie geführt hat, indem es sie zum vollen Bewusstsein ihrer selbst gebracht hat? Das griechische Gedankenleben hat für den unbefangenen Beobachter ein Element, das es «vollkommen» im besten Sinne erscheinen lässt. Es ist, als ob in den griechischen Denkern die Gedankenkraft alles herausgearbeitet hätte, was sie in sich selbst birgt. Wer anders urteilen will, wird bei genauem Zusehen bemerken, dass sein Urteilen irgendwo einen Irrtum birgt.

Spätere Weltanschauungen haben durch andere Seelenkräfte anderes hervorgebracht; die späteren Gedanken als solche stellen sich stets so dar, dass sie in ihrem eigentlichen Gedankengehalte schon bei irgendeinem griechischen Denker vorhanden waren. Was gedacht werden kann, und wie man an dem Denken und der Erkenntnis zweifeln kann: alles das tritt in der griechischen Kultur auf. Und in der Gedankenoffenbarung erfasst sich die Seele in ihrer Wesenheit.

Doch hat das griechische Gedankenleben der Seele gezeigt, dass es die Kraft hat, ihr alles das zu geben, was es in ihr angeregt hat? Vor dieser Frage stand, wie einen Nachklang des griechischen Gedankenlebens bildend, die Weltanschauungsströmung, welche man den Neuplatonismus nennt. Ihr Hauptträger ist Plotin (205-270 n. Chr.).

Ein Vorläufer kann schon Philo genannt werden, der im Beginne unserer Zeitrechnung in Alexandrien lebte. Denn Philo stützt sich nicht auf die schöpferische Kraft des Gedankens zum Aufbaue einer Weltanschauung. Er wendet vielmehr den Gedanken an, um die Offenbarung des Alten Testaments zu verstehen. Er legt, was in demselben als Tatsachen erzählt wird, gedanklich, allegorisch aus.

Die Erzählungen des Alten Testamentes werden ihm zu Sinnbildern für Seelenvorgänge, denen er gedanklich nahezukommen sucht. Plotin sieht in dem Gedankenerleben der Seele nicht etwas, was die Seele in ihrem vollen Leben umfasst. Hinter dem Gedankenleben muss ein anderes Seelenleben liegen. Über dieses Seelenleben breitet die Erfassung der Gedanken eher eine Decke, als dass sie dasselbe enthüllte. Die Seele muss das Gedankenwesen überwinden, es in sich austilgen, und kann nach dieser Austilgung in ein Erleben kommen, welches sie mit dem Urwesen der Welt verbindet. Der Gedanke bringt die Seele zu sich; sie muss nun in sich etwas erfassen, was sie aus dem Gebiete wieder herausführt, in das sie der Gedanke gebracht hat. Eine Erleuchtung, die in der Seele auftritt, nachdem diese das Gebiet verlassen hat, auf das sie der Gedanke gebracht hat, strebt Plotin an. So glaubt er sich zu einem Weltenwesen zu erheben, das nicht in das Gedankenleben eingeht; daher ist ihm die Weltvernunft, zu der sich Plato und Aristoteles erheben, nicht das letzte, zu dem die Seele kommt, sondern ein Geschöpf des Höheren, das jenseits alles Denkens liegt. Von diesem Übergedanklichen, das mit nichts verglichen werden kann, worüber Gedanken möglich sind, strömt alles Weltgeschehen aus. Der Gedanke, wie er sich dem griechischen Geistesleben offenbaren konnte, hat gewissermaßen bis zu Plotin hin seinen Umkreis gemacht und damit die Verhältnisse erschöpft, in welche sich der Mensch zu ihm bringen kann.

Und Plotin sucht nach anderen Quellen als denjenigen, welche in der Gedankenoffenbarung liegen. Er schreitet aus dem sich fortentwickelnden Gedankenleben heraus und in das Gebiet der Mystik hinein.

Ausführungen über die Entwicklung der eigentlichen Mystik sind hier nicht beabsichtigt, sondern nur solche, welche die Gedankenentwicklung darstellen, und dasjenige, was aus dieser selbst hervorgeht. Doch finden an verschiedenen Stellen der Geistesentwicklung der Menschheit Verbindungen der gedanklichen Weltanschauung mit der Mystik statt. Eine solche Verbindung ist bei Plotin vorhanden. In seinem Seelenleben ist nicht das bloße Denken maßgebend. Er hat eine seelische Erfahrung, welche inneres Erleben darstellt, ohne dass Gedanken in der Seele anwesend sind, mystisches Erleben. In diesem Erleben fühlt er seine Seele vereinigt mit dem Weltengrunde. Wie er aber dann den Zusammenhang der Welt mit diesem Weltengrunde darstellt, das ist in Gedanken auszudrücken. Aus dem Übergedanklichen strömten die Weltenwesen aus. Das Übergedankliche ist das Vollkommenste. Was daraus hervorgeht, ist weniger vollkommen. So geht es bis herab zu der sichtbaren Welt, dem Unvollkommensten. Innerhalb desselben findet sich der Mensch. Er soll durch die Vervollkommnung seiner Seele dasjenige abstreifen, was ihm die Welt geben kann, in der er sich zunächst befindet, und so einen Weg finden, der aus ihm ein Wesen macht, das dem vollkommenen Ursprunge angemessen ist.

Plotin stellt sich dar als eine Persönlichkeit, welche sich in die Unmöglichkeit versetzt fühlt, das griechische Gedankenleben fortzusetzen. Er kann auf nichts kommen, was wie ein weiterer Spross des Weltanschauungslebens aus dem Gedanken selbst folgt.

Richtet man den Blick auf den Sinn der Weltanschauungsentwicklung, so ist man berechtigt zu sagen: Das Bildvorstellen ist zum Gedankenvorstellen geworden; in ähnlicher Art muss das Gedankenvorstellen sich weiter in etwas anderes verwandeln. Aber dazu ist zu Plotins Zeit die Weltanschauungsentwicklung noch nicht reif.

Deshalb verlässt Plotin den Gedanken und sucht außerhalb des Gedankenerlebens. Doch gestalten sich die griechischen Gedanken, befruchtet durch seine mystischen Erlebnisse, zu den Entwicklungsideen aus, welche das Weltgeschehen vorstellen als Hervorgehen einer Stufenfolge von in absteigender Ordnung unvollkommenen Wesen aus einem höchsten vollkommenen. In Plotins Denken wirken die griechischen Gedanken fort; doch sie wachsen nicht wie ein Organismus weiter, sondern werden von dem mystischen Erleben aufgenommen und gestalten sich nicht zu dem um, was sie selbst aus sich. In einer ähnlichen Art, wie durch Plotin und seine Nachfolger das griechische Denken in seiner mehr platonischen Färbung unter dem Einfluss eines außergedanklichen Elementes fortgesetzt wird, geschieht es mit diesem Denken in seiner pythagoreischen Nuance durch Nigidius Figulus, Apollonius von Tyana, Moderatus von Gades und anderen.

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