Inhalt
Erster Band
Vorrede zur Neuauflage 1924
Vorrede zur Neuauflage 1918
Vorrede 1914
• Zur Orientierung über die Leitlinien der Darstellung
• Die Weltanschauung der griechischen Denker
• Das Gedankenleben vom Beginn der christlichen Zeitrechnung bis Johannes Scotus oder Erigena
• Die Weltanschauungen im Mittelalter
• Die Weltanschauungen des jüngsten Zeitalters der Gedankenentwicklung
• Das Zeitalter Kants und Goethes
• Die Klassiker der Welt- und Lebensanschauung
• Reaktionäre Weltanschauungen
• Die radikalen Weltanschauungen
Zweiter Band
Einleitende Bemerkungen zur Neuauflage 1914
• Der Kampf um den Geist
• Darwinismus und Weltanschauung
• Die Welt als Illusion
• Nachklänge der Kantschen Vorstellungsart
• Weltanschauungen der wissenschaftlichen Tatsächlichkeit
• Moderne idealistische Weltanschauungen
• Der moderne Mensch und seine Weltanschauung
• Skizzenhaft dargestellter Ausblick auf eine Anthroposophie
Die Welt als Illusion
Neben der Weltanschauungsströmung, die durch den Entwicklungsgedanken eine volle Einheit in die Auffassung von Natur- und Geisteserscheinungen bringen will, läuft eine andere, die diesen Gegensatz in der denkbar schärfsten Form wieder zur Geltung bringt. Auch sie ist aus der Naturwissenschaft heraus geboren.
Ihre Bekenner fragen sich: Worauf stützen wir uns denn, die wir aus der Beobachtung durch Denken eine Weltanschauung aufbauen? Wir hören, sehen und tasten die Körperwelt durch unsere Sinne. Wir denken dann über dasjenige nach, was uns die Sinne über die Welt sagen. Wir machen uns also unsere Gedanken über die Welt auf das Zeugnis der Sinne hin. Aber sind denn die Aussagen unserer Sinne untrüglich? Fragen wir die Beobachtung. Das Auge bringt uns die Lichterscheinungen. Wir sagen, ein Körper sende uns rotes Licht, wenn das Auge rot empfindet. Aber das Auge überliefert uns eine Lichtempfindung auch in anderen Fällen. Wenn es gestoßen oder gedrückt wird, wenn ein elektrischer Strom den Kopf durchfließt, so hat das Auge auch eine Lichtempfindung. Es könnte somit auch in den Fällen, in denen wir einen Körper als leuchtend empfinden, in dem Körper etwas vorgehen, was gar keine Ähnlichkeit hat mit unserer Empfindung des Lichtes: das Auge würde uns doch Licht übermitteln.
Der Physiologe Johannes Müller (1801-1858) hat aus diesen Tatsachen gefolgert, dass es nicht von den äußeren Vorgängen abhängt, was der Mensch empfinde, sondern von dessen Organisation.
Unsere Nerven vermitteln uns die Empfindungen. So wie wir nicht das Messer empfinden, das uns schneidet, sondern einen Zustand unserer Nerven, der uns schmerzhaft erscheint; so empfinden wir auch nicht einen Vorgang der Außenwelt, wenn uns Licht erscheint, sondern einen Zustand unseres Sehnerven. Draußen mag vorgehen, was will: der Sehnerv übersetzt diesen außer uns liegenden Vorgang in Lichtempfindung.
«Die Empfindung ist nicht die Leitung einer Qualität oder eines Zustandes der äußeren Körper zum Bewusstsein, sondern die Leitung einer Qualität, eines Zustandes unserer Nerven zum Bewusstsein, veranlasst durch eine äußere Ursache.»
Dies Gesetz hat Johannes Müller das der spezifischen Sinnesenergien genannt. Ist es richtig, so haben wir in unseren Beobachtungen nichts von der Außenwelt gegeben, sondern nur die Summe unserer eigenen Zustände. Was wir wahrnehmen, hat mit der Außenwelt nichts zu tun; es ist ein Erzeugnis unserer eigenen Organisation. Wir nehmen im Grunde nur wahr, was in uns ist.
Bedeutende Naturforscher sehen in diesen Gedanken eine unwiderlegliche Grundlage ihrer Weltauffassung.
Hermann Helmholtz (1821-1894) fand in ihr den Kantschen Gedanken, dass sich alle unsere Erkenntnisse nicht auf Dinge außer uns beziehen, sondern auf Vorgänge in uns (vgl. 1. Band dieser Weltanschauungsgeschichte) ins Naturwissenschaftliche übersetzt. Er ist der Ansicht, dass unsere Empfindungswelt uns nur Zeichen gibt von den Vorgängen in den Körpern draußen in der Welt.
«Ich habe die Beziehung zwischen der Empfindung und ihrem Objekte so formulieren zu müssen geglaubt, dass ich die Empfindung nur für ein Zeichen von der Einwirkung des Objekts erklärte. Zum Wesen eines Zeichens gehört nur, dass für das gleiche Objekt immer dasselbe Zeichen gegeben werde. Übrigens ist gar keine Art von Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Objekt nötig, ebensowenig wie zwischen dem gesprochenen Worte und dem Gegenstand, den wir dadurch bezeichnen.
Wir können unsere Sinneseindrücke nicht einmal Bilder nennen; denn das Bild bildet Gleiches durch Gleiches ab. In einer 202 Statue geben wir Körperform durch Körperform, in einer Zeichnung den perspektivischen Anblick des Objekts durch den gleichen des Bildes, in einem Gemälde Farbe durch Farbe.»
Verschiedener als Bilder von dem Abgebildeten müssen somit unsere Empfindungen von dem sein, was draußen in der Welt vorgeht.
Wir haben es in unserem sinnlichen Weltbild nicht mit etwas Objektivem, sondern mit einem ganz und gar Subjektiven zu tun, das wir selbst aus uns aufbauen auf Grund der Wirkungen einer nie in uns dringenden Außenwelt.
Dieser Vorstellungsweise kommt die physikalische Betrachtung der Sinneserscheinungen von einer anderen Seite entgegen. Ein Schall, den wir hören, weist uns auf einen Körper in der Außenwelt, dessen Teile sich in einem bestimmten Bewegungszustande befinden. Eine gespannte Saite schwingt, und wir hören einen Ton. Die Saite versetzt die Luft in Schwingungen. Die breiten sich aus, gelangen bis zu unserem Ohre: uns teilt sich eine Tonempfindung mit. Der Physiker untersucht die Gesetze, nach denen draußen die Körperteile sich bewegen, während wir diese oder jene Töne hören. Man sagt, die subjektive Tonempfindung beruht auf der objektiven Bewegung der Körperteilchen.
Ähnliche Verhältnisse sieht der Physiker in bezug auf die Lichtempfindungen. Auch das Licht beruht auf Bewegung. Nur wird diese Bewegung nicht durch die schwingenden Luftteilchen uns überbracht, sondern durch die Schwingungen des Äthers, dieses feinsten Stoffes, der alle Räume des Weltalls durchflutet. Durch jeden selbstleuchtenden Körper wird der Äther in wellenförmige Schwingungen versetzt, die bis zur Netzhaut unseres Auges sich ausbreiten und den Sehnerv erregen, der dann die Empfindung des Lichtes in uns hervorruft. Was in unserem Weltbilde sich als Licht und Farbe darstellt, das ist draußen im Raume Bewegung. Schleiden drückt diese Ansicht mit den Worten aus:
«Das Licht außer uns in der Natur ist Bewegung des Äthers, eine Bewegung kann langsam und schnell sein, diese oder jene Richtung haben, aber es hat offenbar keinen Sinn, von einer hellen oder dunklen, von einer grünen oder roten Bewegung zu sprechen; kurz: außer uns, den empfindenden Wesen, gibt es kein Hell und Dunkel, keine Farben.»
Der Physiker drängt also die Farben und das Licht aus der Außenwelt heraus, weil er in ihr nur Bewegung findet; der Physiologe sieht sich genötigt, sie in die Seele hereinzunehmen, weil er der Ansicht ist, dass der Nerv nur seinen eigenen Zustand anzeigt, mag er von was immer erregt sein. Scharf spricht die dadurch gegebene Anschauung H. Taine in seinem Buche «Der Verstand» (Deutsche Ausgabe, Bonn 1880) aus. Die äußere Wahrnehmung ist, seiner Meinung nach, eine Halluzination. Der Halluzinär, der drei Schritte weit von sich entfernt einen Totenkopf sieht, macht genau die gleiche Wahrnehmung wie derjenige, der die Lichtstrahlen empfängt, die ihm ein wirklicher Totenkopf zusendet. Es ist in uns dasselbe innere Phantom vorhanden, gleichgültig, ob wir einen wirklichen Totenkopf vor uns haben oder ob wir eine Halluzination haben. Der einzige Unterschied zwischen der einen und der anderen Wahrnehmung ist der, dass in dem einen Fall die ausgestreckte Hand ins Leere tappt, in dem anderen auf einen festen Widerstand stößt. Der Tastsinn unterstützt also den Gesichtssinn. Aber ist die Unterstützung wirklich so, dass durch sie ein untrügliches Zeugnis überliefert wird? Was für den einen Sinn gilt, gilt natürlich auch für den anderen.
Auch die Tastempfindungen erweisen sich als Halluzinationen. Der Anatom Henle bringt dieselbe Anschauung in seinen «Anthropologischen Vorträgen» (1876) auf den Ausdruck:
«Alles, wodurch wir von einer Außenwelt unterrichtet zu sein glauben, sind Formen des Bewusstseins, zu welcher die Außenwelt sich nur als anregende Ursache, als Reiz im Sinne der Physiologen verhält. Die Außenwelt hat nicht Farben, nicht Töne, nicht Geschmäcke; was sie wirklich hat, erfahren wir nur auf Umwegen oder gar nicht; was das sei, wodurch sie einen Sinn affiziert, erschließen wir nur aus ihrem Verhalten gegen die anderen, wie wir beispielsweise den Ton, d. h. die Schwingungen der Stimmgabel mit dem Auge sehen und mit den Fingern fühlen; das Wesen mancher Reize, die nur einem Sinne sich offenbaren, zum Beispiel der Reize des Geruchsinns, ist uns noch heute unzugänglich. Die Zahl der Eigenschaften der Materie richtet sich nach der Zahl und der Schärfe der Sinne; wem ein Sinn gebricht, dem ist eine Gruppe von Eigenschaften unersetzlich verloren; wer einen Sinn mehr hätte, besäße ein Organ zum Erfassen von Qualitäten, die wir so wenig ahnen, wie der Blinde die Farbe.»
Eine Umschau auf dem Gebiete der physiologischen Literatur aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zeigt, dass diese Anschauung von der subjektiven Natur des Wahrnehmungsbildes weite Kreise gezogen hat. Man wird da immer wieder auf Variationen des Gedankens stoßen, den J. Rosenthal in seiner «Allgemeinen Physiologie der Muskeln und Nerven» (1877) ausgesprochen hat: «Die Empfindungen, welche wir durch äußere Eindrücke erhalten, sind nicht abhängig von der Natur dieser Eindrücke, sondern von der Natur unserer Nervenzellen. Wir empfinden nicht, was auf unseren Körper einwirkt, sondern nur, was in unserem Gehirn vorgeht.»
Inwiefern unser subjektives Weltbild uns Zeichen von der objektiven Außenwelt gibt, davon gibt Helmholtz in seiner «Physiologischen Optik» eine Vorstellung:
«Die Frage zu stellen, ob der Zinnober wirklich rot sei, wie wir ihn sehen, oder ob dies nur eine sinnliche Täuschung sei, ist sinnlos. Die Empfindung von Rot ist die normale Reaktion normal gebildeter Augen für das von Zinnober reflektierte Licht. Ein Rotblinder wird den Zinnober schwarz oder dunkelgraugelb sehen; auch dies ist die richtige Reaktion für sein besonders geartetes Auge. Er muss nur wissen, dass sein Auge eben anders geartet ist, als das anderer Menschen. An sich ist die eine Empfindung nicht richtiger und nicht falscher als die andere, wenn auch die Rotsehenden eine große Majorität für sich haben. Überhaupt existiert die rote Farbe des Zinnobers nur, insofern es Augen gibt, die denen der Majorität der Menschen ähnlich beschaffen sind. Genau mit demselben Rechte ist es eine Eigenschaft des Zinnobers, schwarz zu sein, nämlich für die Rotblinden. Überhaupt ist das vom Zinnober zurückgeworfene Licht an sich durchaus nicht rot zu nennen, es ist nur für bestimmte Arten von Augen rot.
Etwas anderes ist es, wenn wir behaupten, dass die Wellenlängen des vom Zinnober zurückgeworfenen Lichtes eine gewisse Länge haben. Das ist eine Aussage, die wir unabhängig von der besonderen Natur unseres Auges machen können, bei der es sich dann aber auch nur um Beziehungen der Substanz und den verschiedenen Ätherwellensystemen handelt.»
Es ist klar, dass für eine solche Anschauung die gesamte Summe der Welterscheinungen in eine Zweiheit auseinanderfällt, in eine Welt der Bewegungszustände, die unabhängig von der besonderen Natur unseres Wahrnehmungsvermögens ist, und in eine Welt subjektiver Zustände, die nur innerhalb der wahrnehmenden Wesen sind. Scharf pointiert hat diese Anschauung der Physiologe Du Bois-Reymond in seinem Vortrag «Über die Grenzen des Naturerkennens» auf der fünfundvierzigsten Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig am 14. August 1872 zur Darstellung gebracht.
Naturerkennen ist Zurückführen der von uns wahrgenommenen Vorgänge in der Welt auf Bewegungen der kleinsten Körperteile, «oder Auflösung der Naturvorgänge in Mechanik der Atome». Denn es ist «eine psychologische Erfahrungstatsache, dass, wo solche Auflösung gelingt», unser Erklärungsbedürfnis vorläufig befriedigt ist.
Nun sind unser Nervensystem und unser Gehirn auch körperlicher Natur. Die Vorgänge, die sich in ihnen abspielen, können auch nur Bewegungsvorgänge sein. Wenn sich Ton- oder Lichtschwingungen bis zu meinen Sinnesorganen, und von da bis in mein Gehirn fortpflanzen, so können sie hier auch nichts sein als Bewegungen. Ich kann nur sagen: in meinem Gehirn findet ein bestimmter Bewegungsvorgang statt; und dabei empfinde ich «rot». Denn wenn es sinnlos ist, vom Zinnober zu sagen: er sei rot, so ist es nicht minder sinnlos, von einer Bewegung der Gehirnteile zu sagen, sie sei hell oder dunkel, grün oder rot.
«Stumm und finster an sich, das heißt eigenschaftslos» ist die Welt für die durch naturwissenschaftliche Betrachtung gewonnene Anschauung, welche «statt Schalles und Lichtes nur Schwingungen eines eigenschaftlosen, dort zur wägbaren, hier zur unwägbaren Materie gewordenen Urstoffes kennt ... Das mosaische: Es ward Licht, ist physiologisch falsch. Licht ward erst, als der erste rote Augenpunkt eines Infusoriums zum ersten Mal Hell und Dunkel unterschied. Ohne Seh- und ohne Gehörsinnsubstanz wäre diese farbenglühende, tönende Welt um uns her finster und stumm.» (Grenzen des Naturerkennens, S. 6f.)
Durch die Vorgänge in unserer Seh- und Gehörsinnsubstanz wird also aus der stummen und finsteren Welt - dieser Ansicht gemäß - eine tönende und in Farben leuchtende hervorgezaubert. Die finstere und stumme Welt ist körperlich; die tönende und farbige Welt ist seelisch. Wodurch erhebt sich die letztere aus der ersteren; wodurch wird aus Bewegung Empfindung? Hier zeigt sich uns, meint Du Bois-Reymond, eine «Grenze des Naturerkennens». In unserem Gehirn und in der Außenwelt gibt es nur Bewegungen; in unserer Seele erscheinen Empfindungen. Nie werden wir begreifen können, wie das eine aus dem anderen entsteht.
«Es scheint zwar bei oberflächlicher Betrachtung, als könnten durch die Kenntnis der materiellen Vorgänge im Gehirne gewisse geistige Vorgänge und Anlagen uns verständlich werden. Ich rechne dahin das Gedächtnis, den Fluss und die Assoziation der Vorstellungen, die Folgen der Übung, die spezifischen Talente und dergleichen mehr. Das geringste Nachdenken lehrt, dass dies Täuschung ist. Nur über gewisse innere Bedingungen des Geisteslebens, weiche mit den äußeren durch die Sinneseindrücke gesetzten etwa gleichbedeutend sind, würden wir unterrichtet sein, nicht über das Zustandekommen des Geisteslebens durch diese Bedingungen.
Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, anderseits in den für mich ursprünglichen, nicht weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen: Ich fühle Schmerz, fühle Lust, ich schmecke süß, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot, und der ebenso unmittelbaren daraus fließenden Gewissheit: Also bin ich? Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, dass es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht solle gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden.»
Es gibt für die Erkenntnis keine Brücke von der Bewegung zur Empfindung: das ist Du Bois-Reymonds Glaubensbekenntnis. Wir kommen aus der Bewegung in der materiellen Welt nicht herein in die seelische Welt der Empfindungen. Wir wissen, dass durch bewegte Materie Empfindung entsteht; jedoch wissen wir nicht, wie das möglich ist. Aber wir kommen in der Welt der Bewegung auch nicht über die Bewegung hinaus. Wir können für unsere subjektiven Wahrnehmungen gewisse Bewegungsformen angeben, weil wir aus dem Verlauf der Wahrnehmungen auf den Verlauf der Bewegungen schließen können. Doch haben wir keine Vorstellung, was sich draußen im Raume bewegt.
Wir sagen: die Materie bewegt sich. Wir verfolgen ihre Bewegungen an den Aussagen unserer seelischen Zustände. Da wir aber das Bewegte selbst nicht wahrnehmen, sondern nur ein subjektives Zeichen davon, können wir auch nie wissen, was Materie ist. Vielleicht würden wir, meint Du Bois-Reymond, auch das Rätsel der Empfindung lösen können, wenn erst das der Materie offen vor uns läge. Wüssten wir, was Materie ist, so wüssten wir vermutlich auch, wie sie empfindet. Beides sei unserer Erkenntnis unzugänglich. Die über diese Grenze hinwegkommen wollen, die sollen Du Bois-Reymonds Worte treffen: «Mögen sie es doch mit dem einzigen Ausweg versuchen, dem des Supranaturalismus. Nur dass, wo Supranaturalismus anfängt, Wissenschaft aufhört.»
In zwei scharfen Gegensätzen lebt sich die neuere Naturwissenschaft aus. Die eine, die monistische Strömung, scheint auf dem Wege zu sein, aus dem Gebiete der Naturerkenntnis heraus zu den wichtigsten Weltanschauungsfragen vorzudringen; die andere erklärt sich außerstande, mit naturwissenschaftlichen Mitteln weiter zu kommen als bis zu der Erkenntnis: diesem oder jenem subjektiven Zustand entspricht dieser oder jener Bewegungsvorgang. Und scharf stehen sich die Vertreter beider Strömungen gegenüber. Du Bois-Reymond hat Haeckels «Schöpfungsgeschichte» als einen Roman abgetan. (Vgl. Du Bois-Reymonds Rede «Darwin versus Galiani».) Die Stammbäume, die Haeckel auf Grund der vergleichenden Anatomie, der Keimungsgeschichte und der Paläontologie entwirft, sind ihm «etwa so viel wert, wie in den Augen der historischen Kritik die Stammbäume homerischer Helden».
Haeckel aber sieht in Du Bois-Reymonds Anschauung einen unwissenschaftlichen Dualismus, der naturgemäß den rückschrittlichen Weltbetrachtungen eine Stütze liefern muss.
«Der Jubel der Spiritualisten über Du Bois-Reymonds Grenzrede war um so heller und berechtigter, als E. Du Bois-Reymond bis dahin als bedeutender prinzipieller Vertreter des wissenschaftlichen Materialismus gegolten hat.»
Was viele für die Zweiteilung der Welt in äußere Vorgänge der Bewegungen und in innere (subjektive) der Empfindung und Vorstellung gefangen nimmt, das ist die Anwendbarkeit der Mathematik auf die erste Art von Vorgängen. Wenn man materielle Teile (Atome) mit Kräften annimmt, so kann man berechnen, wie sich diese Atome unter dem Einfluss dieser Kräfte bewegen müssen. Man hat das Anziehende, das die Astronomie mit ihren strengen rechnerischen Methoden hat, in das Kleinste der Körper hineingetragen. Der Astronom berechnet aus den Gesetzen der Himmelsmechanik die Art, wie sich die Weltkörper bewegen. In der Entdeckung des Neptun hat man einen Triumph dieser Himmelsmechanik erlebt.
Auf solche Gesetze, wie die Bewegungen der Himmelskörper, kann man nun auch die Bewegungen bringen, welche in der äußeren Welt vor sich gehen, wenn wir einen Ton hören, eine Farbe sehen; man wird vielleicht einmal die Bewegungen, die sich in unserem Gehirn abspielen, berechnen können, während wir das Urteil fällen: zweimal zwei ist vier.
In dem Augenblicke, wo man alles berechnen kann, was sich auf Rechnungsformeln bringen lässt, ist die Welt mathematisch erklärt. Laplace hat in seinem «Essai philosophique sur les Probabilités» (1814) eine bestrickende Schilderung des Ideals einer solchen Welterklärung gegeben:
«Ein Geist, der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennt, welche die Natur beleben, und die gegenseitige Lage der Wesen, aus denen sie besteht, wenn sonst er umfassend genug wäre, um diese Angaben der Analyse zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper und des leichtesten Atoms begreifen: nichts wäre ungewiss für ihn, und Zukunft wie Vergangenheit wäre seinem Blicke gegenwärtig. Der menschliche Verstand bietet in der Vollendung, die er der Astronomie zu geben gewusst hat, ein schwaches Abbild eines solchen Geistes dar.»
Und Du Bois-Reymond sagt anschließend an diese Worte:
«Wie der Astronom den Tag vorhersagt, an dem nach Jahren ein Komet aus den Tiefen des Weltraumes am Himmelsgewölbe wieder auftaucht, so läse jener Geist in seinen Gleichungen den Tag, da das griechische Kreuz von der Sophienmoschee blitzen und da England seine letzte Steinkohle verbrennen wird.»
Es kann nicht bezweifelt werden, dass ich auch durch die vollkommenste mathematische Kenntnis eines Bewegungsvorgangs nichts gewinne, was mich darüber aufklärt, warum dieser Bewegungsvorgang als rote Farbe auftritt. Wenn eine Kugel an eine andere stößt, so können wir - so scheint es - die Richtung der zweiten Kugel erklären. Wir können mathematisch angeben, was für eine Bewegung aus einer anderen entsteht. Wir können aber nicht in dieser Weise angeben, wie aus einer bestimmten Bewegung die rote Farbe hervorgeht. Wir können nur sagen: Wenn diese oder jene Bewegung vorhanden ist, ist diese oder jene Farbe vorhanden. Wir können in diesem Falle nur eine Tatsache beschreiben. Während wir also das rechnerisch Bestimmbare - scheinbar im Gegensatze zur bloßen Beschreibung - erklären können, kommen wir allem gegenüber, was sich der Rechnung entzieht, nur zu einer Beschreibung.
Ein bedeutungsvolles wissenschaftliches Bekenntnis hat Kirchhoff getan, als er 1874 die Aufgabe der Mechanik in die Worte fasste, sie solle «die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise beschreiben.» Die Mechanik bringt die Mathematik zur Anwendung.
Kirchhoff bekennt, dass mit Hilfe der Mathematik nichts erreicht werden kann, als eine vollständige und einfache Beschreibung der Vorgänge in der Natur. Für diejenigen Persönlichkeiten, die von einer Erklärung etwas wesentlich anderes verlangen als eine Beschreibung nach gewissen Gesichtspunkten, konnte das Kirchhoffsche Bekenntnis als eine Bestätigung ihrer Ansicht dienen, dass es «Grenzen des Naturerkennens» gäbe. Du Bois-Reymond preist die «weise Zurückhaltung des Meisters» (Kirchhoffs), der als Aufgabe der Mechanik hinstellt, die Bewegungen der Körper zu beschreiben, und stellt sie in Gegensatz zu Ernst Haeckel, der von «Atom-Seelen» spreche.
Einen bedeutungsvollen Versuch, die Weltanschauung auf die Vorstellung aufzubauen, dass alles, was wir wahrnehmen, nur das Ergebnis unserer eigenen Organisation sei, hat Friedrich Albert Lange (1828-1875) mit seiner «Geschichte des Materialismus» (1864) gemacht Er hatte die Kühnheit und vor nichts haltmachende Konsequenz, diese Grundvorstellung wirklich zu Ende zu denken. Langes Stärke lag in einem scharf und möglichst allseitig sich auslebenden Charakter. Er war eine von den Persönlichkeiten, die vieles ergreifen können und für das Ergriffene mit ihrem Können ausreichen.
Und bedeutend wurde die mit Zuhilfenahme der neueren Naturwissenschaft von ihm besonders wirksam erneuerte Kantsche Vorstellungsart, dass wir die Dinge wahrnehmen, nicht wie sie es verlangen, sondern wie es von unserer Organisation gefordert wird. Lange hat im Grunde keine neuen Vorstellungen produziert; aber er hat in gegebene Gedankenwelten mit einem Licht hineingeleuchtet, das an Helligkeit etwas Seltenes hat. Unsere Organisation, unser Gehirn mit den Sinnen bringt die Welt unserer Empfindungen hervor. Ich sehe «blau», ich fühle «Härte», weil ich so und so organisiert bin. Aber ich verbinde auch die Empfindungen zu Gegenständen. Aus den Empfindungen des «Weißen» und «Weichen» usw. verbinde ich zum Beispiel die Vorstellung des Wachses. Wenn ich meine Empfindungen denkend betrachte, so bewege ich mich in keiner Außenwelt. Mein Verstand bringt Zusammenhang in meine Empfindungswelt, nach meinen Verstandesgesetzen. Wenn ich sage, die Eigenschaften, die ich an einem Körper wahrnehme, setzen eine Materie voraus mit Bewegungsvorgängen, so komme ich auch nicht aus mir heraus. Ich finde mich durch meine Organisation genötigt, zu den Empfindungen, die ich wahrnehme, materielle Bewegungsvorgänge hinzuzudenken.
Derselbe Mechanismus, welcher unsere sämtlichen Empfindungen hervorbringt, erzeugt auch unsere Vorstellung von der Materie. Die Materie ist ebensogut nur Produkt meiner Organisation wie die Farbe oder der Ton. Auch wenn wir von Dingen an sich sprechen, müssen wir uns klar darüber sein, dass wir damit nicht aus unserem eigenen Bereiche hinauskommen können. Wir sind so eingerichtet, dass wir unmöglich aus uns heraus können. Ja, wir können uns auch das, was jenseits unseres Bereiches liegt, nur durch unsere Vorstellung vergegenwärtigen. Wir spüren eine Grenze unseres Bereiches; wir sagen uns, jenseits der Grenze muss etwas sein, was in uns Empfindungen bewirkt. Aber wir kommen nur bis zur Grenze. Auch diese Grenze setzen wir uns selbst, weil wir nicht weiter können. «Der Fisch im Teiche kann im Wasser schwimmen, nicht in der Erde; aber er kann doch mit dem Kopf gegen Boden und Wände stoßen.»
So können wir innerhalb unseres Vorstellungs- und Empfindungswesens leben, nicht aber in äußeren Dingen; aber wir stoßen an eine Grenze, wo wir nicht weiter können, wo wir uns nicht mehr sagen dürfen als: Jenseits liegt das Unbekannte. Alle Vorstellungen, die wir uns über dieses Unbekannte machen, sind unberechtigt; denn wir könnten doch nichts tun, als die in uns gewonnenen Vorstellungen auf das Unbekannte übertragen. Wir wären, wenn wir solches tun wollten, genau so klug wie der Fisch, der sich sagt: Hier kann ich nicht weiter, also ist von da ab ein anderes Wasser, in dem ich anders zu schwimmen probieren will. Er kann eben nur im Wasser schwimmen und nirgends anders.
Nun aber kommt eine andere Wendung des Gedankens. Sie gehört zu der ersten. Lange hat sie als Geist von unerbittlichem Folgerichtigkeitsdrang herangezogen. Wie steht es denn mit mir, wenn ich mich selbst betrachte? Bin ich denn dabei nicht ebensogut an die Gesetze meiner eigenen Organisation gebunden, wie wenn ich etwas anderes betrachte? Mein Auge betrachtet den Gegenstand, vielmehr: es erzeugt ihn. Ohne Auge keine Farbe. Ich glaube einen Gegenstand vor mir zu haben und finde, wenn ich genauer zusehe, dass mein Auge, also ich, den Gegenstand erzeuge. Nun aber will ich mein Auge selbst betrachten. Kann ich das anders als wieder mit meinen Organen? Ist also nicht auch die Vorstellung, die ich mir von mir selbst mache, nur meine Vorstellung? Die Sinnenwelt ist Produkt unserer Organisation.
Unsere sichtbaren Organe sind gleich allen anderen Teilen der Erscheinungswelt nur Bilder eines unbekannten Gegenstandes. Unsere wirkliche Organisation bleibt uns daher ebenso verborgen wie die wirklichen Außendinge. Wir haben stets nur das Produkt von beiden vor uns. Wir erzeugen auf Grund einer uns unbekannten Welt aus einem uns unbekannten Ich heraus eine Vorstellungswelt, die alles ist, womit wir uns beschäftigen können.
Lange fragt sich: Wohin führt der konsequente Materialismus? Es sei, dass alle unsere Verstandesschlüsse und Sinnesempfindungen durch die Tätigkeit unseres an materielle Bedingungen gebundenen Gehirnes und der ebenfalls materiellen Organe hervorgebracht werden. Dann stehen wir vor der Notwendigkeit, unseren Organismus zu untersuchen, um zu sehen, wie er tätig ist. Das können wir nur wieder mit unseren Organen. Keine Farbe ohne Auge; aber auch kein Auge ohne Auge.
«Die konsequent materialistische Betrachtung schlägt dadurch sofort um in eine konsequent idealistische. Es ist keine Kluft in unserem Wesen anzunehmen. Wir haben nicht einzelne Funktionen unseres Wesens einer physischen, andere einer geistigen Natur zuzuschreiben, sondern wir sind in unserem Recht, wenn wir für alles, auch für den Mechanismus des Denkens, physische Bedingungen voraussetzen und nicht rasten, bis wir sie gefunden haben. Wir sind aber nicht minder in unserem Recht, wenn wir nicht nur die uns erscheinende Außenwelt, sondern auch die Organe, mit denen wir diese auffassen, als bloße Bilder des wahrhaft Vorhandenen betrachten. Das Auge, mit dem wir zu sehen glauben, ist selbst nur ein Produkt unserer Vorstellung, und wenn wir finden, dass unsere Gesichtsbilder durch die Einrichtung des Auges hervorgerufen werden, so dürfen wir nie vergessen, dass auch das Auge samt seinen Einrichtungen, der Sehnerv samt dem Hirn und all den Strukturen, die wir dort noch etwa als Ursachen des Denkens entdecken möchten, nur Vorstellungen sind, die zwar eine in sich selbst zusammenhängende Welt bilden, jedoch eine Welt, die über sich selbst hinausweist ... Die Sinne geben uns, wie Helmholtz sagt, Wirkungen der Dinge, nicht getreue Bilder, oder gar die Dinge selbst. Zu diesen bloßen Wirkungen gehören aber auch die Sinne selbst samt dem Hirn und den in ihm gedachten Molekularbewegungen». (Geschichte des Materialismus, S. 734 f.)
Lange nimmt deshalb eine Welt jenseits der unsrigen an, möge diese nun auf Dingen an sich selbst beruhen, oder möge sie in irgend etwas bestehen, was nicht einmal mit dem «Ding an sich» etwas zu tun hat, da ja selbst dieser Begriff, den wir uns an der Grenze unseres Bereiches bilden, nur unserer Vorstellungswelt angehört.
Langes Weltanschauung führt also zu der Meinung, dass wir nur eine Vorstellungswelt haben.
Diese aber zwingt uns, ein Etwas jenseits ihrer selbst gelten zu lassen; sie erweist sich aber auch ganz ungeeignet, über dieses Etwas eine irgendwie geartete Aussage zu machen. Dies ist die Weltanschauung des absoluten Nichtwissens, des Agnostizismus.
Dass alles wissenschaftliche Streben unfruchtbar bleiben muss, das sich nicht an die Aussagen der Sinne und an den logischen Verstand hält, der diese Aussagen verknüpft: dies ist Langes Überzeugung.
Dass aber Sinne und Verstand zusammen uns nichts liefern als ein Ergebnis unserer eigenen Organisation, ist ihm aus seinen Betrachtungen über den Ursprung der Erkenntnis klar. Die Welt ist ihm also im Grunde eine Dichtung der Sinne und des Verstandes. Diese Meinung bringt ihn dazu, den Ideen gegenüber gar nicht mehr die Frage nach ihrer Wahrheit aufzuwerfen. Eine Wahrheit, die uns über das Wesen der Welt aufklärt, erkennt Lange nicht an.
Nun glaubt er gerade dadurch, dass er den Erkenntnissen der Sinne und des Verstandes keine Wahrheit zuzugestehen braucht, auch die Bahn frei zu bekommen für die Ideen und Ideale, die sich der menschliche Geist über das hinaus bildet, was ihm Sinne und Verstand geben. Unbedenklich hält er alles, was über die sinnliche Beobachtung und verstandesmäßige Erkenntnis hinausgeht, für Erdichtung. Was immer ein idealistischer Philosoph erdacht hat über das Wesen der Tatsachen: es ist Dichtung.
Notwendig entsteht durch die Wendung, die Lange dem Materialismus gegeben hat, die Frage: Warum sollten die höheren Ideendichtungen nicht gelten, da doch die Sinne selbst dichten? Wodurch unterscheidet sich die eine Dichtungsart von der anderen? Es muss für den, der so denkt, ein ganz anderer Grund vorhanden sein, warum er eine Vorstellung gelten lässt, als für den, der glaubt, sie gelten lassen zu müssen, weil sie wahr ist.
Und Lange findet diesen Grund darin, dass eine Vorstellung Wert für das Leben hat. Nicht darauf komme es an, dass eine Vorstellung wahr ist; sondern darauf, dass sie für den Menschen wertvoll ist. Nur eines muss deutlich erkannt werden: dass ich eine Rose rot sehe, dass ich die Wirkung mit der Ursache verknüpfe, habe ich mit allen empfindenden und denkenden Geschöpfen gemein. Meine Sinne und mein Verstand können sich keine Extrawerte schaffen. Gehe ich aber über dasjenige hinaus, was Sinne und Verstand dichten, dann bin ich nicht mehr an die Organisation der ganzen menschlichen Gattung gebunden.
Schiller, Hegel, Hinz und Kunz sehen eine Blume auf gleiche Weise. Was Schiller über die Blume dichtet was Hegel über sie denkt, dichten und denken Hinz und Kunz nicht in der gleichen Weise So wie aber Hinz und Kunz im Irrtum sind wenn sie ihre Vorstellung von der Blume für eine außer ihnen befindliche Wesenheit halten so waren Schiller und Hegel im Irrtum, wenn sie ihre Ideen für etwas anderes ansähen, denn als Dichtungen, die ihrem geistigen Bedürfnisse entsprechen. Was die Sinne und der Verstand dichten, gehört der ganzen menschlichen Gattung an; keiner kann da von dem anderen abweichen. Was über Sinnes- und Verstandesdichtung hinausgeht, ist Sache des einzelnen Individuums.
Aber dieser Dichtung des Individuums spricht Lange doch einen Wert auch für die ganze menschliche Gattung zu, wenn der einzelne, welcher «sie erzeugt, reich und normal begabt und in seiner Denkweise typisch, durch seine Geisteskraft zum Führer berufen ist». So vermeint Lange dadurch der idealen Welt ihren Wert zu sichern, dass er auch die sogenannte wirkliche zur Dichtung macht. Er sieht überall, wohin wir blicken können, nur Dichtung, von der untersten Stufe der Sinnesanschauung, auf der «das Individuum noch ganz an die Grundzüge der Gattung gebunden erscheint, bis hinauf zu dem schöpferischen Walten in der Poesie».
«Man kann die Funktionen der Sinne und des verknüpfenden Verstandes, welche uns die Wirklichkeit erzeugen, im einzelnen niedrig nennen gegenüber dem hohen Fluge des Geistes in der frei schaffenden Kunst. Im ganzen aber und in ihrem Zusammenhange lassen sie sich keiner anderen Geistestätigkeit unterordnen. So wenig unsere Wirklichkeit eine Wirklichkeit nach dem Wunsche unseres Herzens ist, so ist sie doch die feste Grundlage unserer ganzen geistigen Existenz. Das Individuum wächst aus dem Boden der Gattung hervor, und das allgemeine und notwendige Erkennen bildet die einzig sichere Grundlage für die Erhebung des Individuums zu einer ästhetischen Auffassung der Welt.» (Geschichte des Materialismus, 1887, S. 824 f.)
Nicht das sieht Lange als den Irrtum der idealistischen Weltanschauungen an, dass diese mit ihren Ideen über die Sinnes- und Verstandeswelt hinausgegangen sind, sondern ihren Glauben, dass mit diesen Ideen mehr erreicht ist als individuelle Dichtung. Man soll sich eine ideale Welt aufbauen; aber man soll sich bewusst sein, dass diese Idealwelt nichts weiter ist als Dichtung. Behauptet man, sie sei mehr, so wird immer wieder und wieder der Materialismus auftauchen, der da sagt: Ich habe die Wahrheit; der Idealismus ist Dichtung.
Wohlan, sagt Lange, der Idealismus ist Dichtung, aber auch der Materialismus ist Dichtung. Im Idealismus dichtet das Individuum, im Materialismus die Gattung. Sind sich beide ihrer Wesenheit bewusst, so ist alles in Ordnung: die Sinnes- und Verstandeswissenschaft mit ihren strengen, für die ganze Gattung bindenden Beweisen, die Ideendichtung mit ihren vom Individuum erzeugten, aber doch für die Gattung wertvollen höheren Vorstellungswelten.
«Eins ist sicher: dass der Mensch einer Ergänzung der Wirklichkeit durch eine von ihm selbst geschaffene Idealwelt bedarf, und dass die höchsten und edelsten Funktionen seines Geistes in solchen Schöpfungen zusammenwirken. Soll aber diese freie Tat des Geistes immer und immer wieder die Truggestalt einer beweisenden Wissenschaft annehmen? Dann wird auch der Materialismus immer wieder hervortreten und die kühneren Spekulationen zerstören, indem er dem Einheitstriebe der Vernunft mit einem Minimum von Erhebung über das Wirkliche und Beweisbare zu entsprechen sucht». (Geschichte des Materialismus, S. 828.)
Ein vollständiger Idealismus geht bei Lange neben einem vollständigen Aufgeben der Wahrheit einher. Die Welt ist ihm Dichtung, aber eine Dichtung, die er als solche nicht geringer schätzt, als wenn er sie für Wirklichkeit erkennen könnte.
Zwei Strömungen mit scharf ausgeprägtem naturwissenschaftlichen Charakter stehen innerhalb der modernen Weltanschauungsentwicklung einander schroff gegenüber.
Die monistische, in der sich die Vorstellungsart Haeckels bewegt, und eine dualistische, deren energischster und konsequentester Verteidiger Friedrich Albert Lange ist. Der Monismus sieht in der Welt, die der Mensch beobachten kann, eine wahre Wirklichkeit und zweifelt nicht daran, dass er mit seinem an die Beobachtung sich haltenden Denken auch Erkenntnisse von wesenhafter Bedeutung über diese Wirklichkeit gewinnen kann. Er bildet sich nicht ein, mit einigen kühn erdachten Formeln das Grundwesen der Welt erschöpfen zu können; er schreitet an der Hand von Tatsachen vorwärts und bildet sich Ideen über die Zusammenhänge dieser Tatsachen. Von diesen seinen Ideen ist er aber überzeugt, dass sie ihm ein Wissen von einem wahren Dasein geben.
Die dualistische Anschauung Langes teilt die Welt in ein Bekanntes und in ein Unbekanntes. Das erste behandelt sie in ebenderselben Art wie der Monismus, am Leitfaden der Beobachtung und des betrachtenden Denkens. Aber sie hat den Glauben, dass durch diese Beobachtung und durch dieses Denken über den wahren Wesenskern der Welt nicht das Geringste gewusst werden kann.
Der Monismus glaubt an die Wahrheit des Wirklichen und sieht die beste Stütze für die menschliche Ideenwelt darin, dass er diese fest auf die Beobachtungswelt gründet. In den Ideen und Idealen, die er aus dem natürlichen Dasein schöpft, sieht er Wesenheiten, die sein Gemüt, sein sittliches Bedürfnis voll befriedigen. In der Natur findet er das höchste Dasein, das er nicht nur denkend erkennen will, sondern an das er eine herzliche Hingabe, seine ganze Liebe verschenkt.
Langes Dualismus hält die Natur für ungeeignet, des Geistes höchste Bedürfnisse zu befriedigen. Er muss für diesen Geist eine besondere Welt der höheren Dichtung annehmen, die ihn über das hinausfuhrt, was Beobachtung und Denken offenbaren. Dem Monismus ist in der wahren Erkenntnis ein höchster Geisteswert gegeben, der wegen seiner Wahrheit dem Menschen auch das reinste sittliche und religiöse Pathos verleiht. Dem Dualismus kann die Erkenntnis eine solche Befriedigung nicht gewähren. Er muss den Wert des Lebens an anderen Wesenheiten als an der Wahrheit abmessen. Die Ideen haben nicht Wert, weil sie aus der Wahrheit sind. Sie haben Wert, weil sie dem Leben in seinen höchsten Formen dienen. Das Leben wird nicht an den Ideen gewertet, sondern die Ideen werden an ihrer Fruchtbarkeit für das Leben bewertet. Nicht wahre Erkenntnisse strebt der Mensch an, sondern wertvolle Gedanken.
In der Anerkennung der naturwissenschaftlichen Denkweise stimmt Friedrich Albert Lange mit dem Monismus insofern überein, als er jeder anderen Quelle für die Erkenntnis des Wirklichen ihre Berechtigung bestreitet; nur spricht er dieser Denkweise jede Fähigkeit ab, ins Wesenhafte der Dinge zu dringen. Damit er sich auf sicherem Boden bewege, beschneidet er der menschlichen Vorstellungsart die Flügel.
Was Lange auf eindringliche Art tut, entspricht einer tief in der Weltanschauungsentwicklung der neueren Zeit wurzelnden Gedankenneigung. Dies zeigt sich mit vollkommener Klarheit auch auf einem anderen Gebiet der Ideenwelt des neunzehnten Jahrhunderts. Durch verschiedene Phasen hindurch entwickelt sich diese Ideenwelt zu Gesichtspunkten, von denen aus Herbert Spencer ungefähr um dieselbe Zeit in England wie Lange in Deutschland einen Dualismus begründet, der auf der einen Seite vollständige naturwissenschaftliche Welterkenntnis anstrebt, auf der anderen Seite gegenüber dem Wesen des Daseins sich zum Agnostizismus bekennt.
Als Darwin sein Werk von der «Entstehung der Arten» erscheinen ließ und damit dem Monismus eine seiner festen Stützen überlieferte, konnte er die naturwissenschaftliche Denkart Spencers rühmend anerkennen:
«In einem seiner Essays (1852) stellt Herbert Spencer die Theorie der Schöpfung und die der organischen Entwicklung in merkwürdig geschickter und wirksamer Weise einander gegenüber. Er schließt aus der Analogie mit den Züchtungsprodukten, aus der Veränderung, der die Embryonen vieler Arten unterliegen, aus der Schwierigkeit, Art von Varietät zu unterscheiden, und aus dem Grundsatz einer allgemeinen Stufenreihe, dass Arten abgeändert worden sind. Diese Abänderungen macht er von den veränderten Verhältnissen abhängig. Der Verfasser hat auch (1855) die Psychologie nach dem Prinzip der notwendig stufenweisen Erwerbung jeder geistigen Kraft und Fähigkeit behandelt.»
Wie der Begründer der modernen Ansicht von den Lebensvorgängen, so fühlen sich auch andere naturwissenschaftlich Denkende zu Spencer hingezogen, der die Wirklichkeit von der unorganischen Tatsache bis in die Psychologie herauf in der Richtung zu erklären strebt, die in obigem Ausspruch Darwins zum Ausdruck kommt. Spencer steht aber auch auf der Seite der Agnostiker, so dass Friedrich Albert Lange sagen darf:
«Herbert Spencer huldigt, unserem eignen Standpunkt verwandt, einem Materialismus der Erscheinung, dessen relative Berechtigung in der Naturwissenschaft ihre Schranken findet an dem Gedanken eines unerkennbaren Absoluten.»
Man darf sich vorstellen, dass Spencer von ähnlichen Ausgangspunkten wie Lange zu seinem Standpunkt geführt worden ist. Ihm gingen in der Gedankenentwicklung Englands Geister voran, die von einem doppelten Interesse geleitet waren. Sie wollten bestimmen, was der Mensch an seiner Erkenntnis eigentlich besitzt. Sie wollten aber auch das Wesenhafte der Welt durch keine Zweifel und durch keine Vernunft erschüttern. In mehr oder weniger ausgesprochener Weise waren sie alle von der Empfindung beherrscht, die Kant zum Ausdruck bringt, wenn er sagt: «Ich musste das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.» (Vgl. Band I. dieser Weltanschauungsgeschichte, S. 149 ff.)
Vor dem Eingange der Weltanschauungsentwicklung des neunzehnten Jahrhunderts steht in England Thomas Reid (1710-1796). Es bildet den Grundzug der Überzeugung dieses Mannes, was auch Goethe als seine Anschauung mit den Worten ausspricht: «Es sind doch am Ende nur, wie mich dünkt, die praktischen und sich selbst rektifizierenden Operationen des gemeinen Menschenverstandes, der sich in einer höheren Sphäre zu üben wagt.» (Vgl. Goethes Werke, Band 36, S. 595 in Kürschners Deutscher National-Literatur.)
Dieser gemeine Menschenverstand zweifelt nicht daran, dass er es mit wirklichen, wesenhaften Dingen und Vorgängen zu tun habe, wenn er die Tatsachen der Welt betrachtet. Reid sieht nur eine solche Weltanschauung für lebensfähig an, die an dieser Grundansicht des gesunden Menschenverstandes festhält. Wenn man selbst zugäbe, dass uns unsere Beobachtung täuschen könne, und das wahre Wesen der Dinge ein ganz anderes wäre als uns Sinne und Verstand sagen, so brauchten wir uns um eine solche Möglichkeit nicht zu kümmern. Wir kommen im Leben nur zurecht, wenn wir unserer Beobachtung glauben; alles weitere geht uns nichts an. Von diesem Gesichtspunkte aus glaubt Reid zu wirklich befriedigenden Wahrheiten zu kommen. Er sucht nicht durch komplizierte Denkverrichtungen zu einer Anschauung über die Dinge zu kommen, sondern durch Zurückgehen auf die von der Seele instinktiv angenommenen Ansichten. Und instinktiv, unbewusst, besitzt die Seele schon das Richtige, bevor sie es unternimmt, mit der Fackel des Bewusstseins in ihre eigene Wesenheit hineinzuleuchten. Instinktiv weiß sie, was sie von den Eigenschaften und Vorgängen in der Körperwelt zu halten hat; instinktiv ist ihr aber auch die Richtung ihres moralischen Verhaltens, ein Urteil über Gut und Böse eigen. Reid lenkt das Denken durch seine Berufung auf die dem gesunden Menschenverstand eingeborenen Wahrheiten auf die Beobachtung der Seele hin.
Dieser Zug nach Seelenbeobachtung bleibt fortan der englischen Weltanschauungsentwicklung eigen. Hervorragende Persönlichkeiten, die innerhalb dieser Entwicklung stehen, sind William Hamilton (1788-1856), Henry Mansel (1820-1871), William Whewell (1794 bis 1866), John Herschel (1792-1871), James Mill (1773 bis 1836), John Stuart Mill (1806-1873), Alexander Bair (1818-1903), Herbert Spencer (1820-1903). Sie alle stellen die Psychologie in den Mittelpunkt ihrer Weltanschauung.
Auch für Hamilton gilt als wahr, was die Seele ursprünglich als wahr anzunehmen sich genötigt findet. Ursprünglichen Wahrheiten gegenüber hört das Beweisen und Begreifen auf; man kann einfach ihr Auftauchen am Horizonte des Bewusstseins feststellen. Sie sind in diesem Sinne unbegreiflich. Aber es gehört zu den ursprünglichen Aussagen des Bewusstseins auch die, dass ein jegliches Ding in dieser Welt von etwas abhängig ist, das wir nicht kennen. Wir finden in der Welt, in der wir leben, nur abhängige Dinge, nirgends ein unbedingt unabhängiges. Ein solches muss es aber doch geben. Wenn Abhängiges angetroffen wird, muss ein Unabhängiges vorausgesetzt werden. Mit unserem Denken kommen wir in das Unabhängige nicht hinein. Das menschliche Wissen ist auf das Abhängige berechnet und verwickelt sich in Widersprüche, wenn es seine Gedanken, die für Abhängiges sehr wohl geeignet sind, auf Unabhängiges anwendet. Das Wissen muss also abtreten, wenn wir an den Eingang zum Unabhängigen kommen. Der religiöse Glaube ist da an seinem Platze. Durch das Bekenntnis, dass er von dem Wesenskern der Welt nichts wissen kann, kann der Mensch erst ein moralisches Wesen sein. Er kann einen Gott annehmen, der in der Welt eine moralische Ordnung bewirkt. Keine Logik kann diesen Glauben an einen unendlichen Gott rauben, sobald erkannt ist, dass alle Logik sich nur auf Abhängiges, nicht auf Unabhängiges richtet. - Mansel ist Schüler und Fortsetzer Hamiltons. Er kleidet dessen Ansichten nur in noch extremere Formen.
Man geht nicht zu weit, wenn man sagt, Mansel ist ein Advokat des Glaubens, der nicht unparteiisch zwischen Religion und Wissen urteilt, sondern parteiisch für das religiöse Dogma eintritt. Er ist der Ansicht, dass die religiösen Offenbarungswahrheiten unbedingt das Erkennen in Widersprüche verwickeln. Das rühre aber nicht von einem Mangel in den Offenbarungswahrheiten her, sondern davon, dass der menschliche Geist begrenzt sei und niemals in die Regionen kommen könne, über die die Offenbarung Aussagen macht.
William Whewell glaubt am besten dadurch eine Ansicht für die Bedeutung, den Ursprung und Wert des menschlichen Wissens zu erlangen, dass er untersucht, wie bahnbrechende Geister der Wissenschaften zu ihren Erkenntnissen gelangt sind. Seine «Geschichte der induktiven Wissenschaften» (1837) und seine «Philosophie der induktiven Wissenschaften» (1840) gehen darauf aus, die Psychologie des wissenschaftlichen Forschens zu durchschauen.
An den hervorragenden wissenschaftlichen Entdeckungen sucht er zu erkennen, wieviel von unseren Vorstellungen der Außenwelt und wieviel dem Menschen selbst angehört. Whewell findet, dass die Seele in jeglicher Wissenschaft die Beobachtung aus eigenem ergänzt. Kepler hatte den Begriff der Ellipse, bevor er fand, dass die Planeten sich in Ellipsen bewegen. Die Wissenschaften kommen also nicht durch bloßes Empfangen von außen, sondern durch tätiges Eingreifen des Menschengeistes zustande, der seine Gesetze dem Empfangenen einprägt. Aber die Wissenschaften reichen nicht bis zu den letzten Wesenheiten der Dinge. Sie beschäftigen sich mit den Einzelheiten der Welt. Wie man aber für jedes einzelne Ding zum Beispiel eine Ursache annimmt, muss man eine solche auch für die ganze Welt voraussetzen. Da einer solchen gegenüber das Wissen versagt, muss das religiöse Dogma ergänzend eintreten.
Wie Whewell sucht auch Herschel eine Ansicht über das Zustandekommen des Wissens im menschlichen Geiste durch Betrachtung zahlreicher Beispiele zu gewinnen. («A Preliminary Discourse on the Study of Natural Philosophy» ist 1831 erschienen.) John Stuart Mill gehört zum Typus derjenigen Denker, die von der Empfindung durchdrungen sind: man könne nicht vorsichtig genug sein, wenn es sich um Feststellung dessen handelt, was in der menschlichen Erkenntnis gewiss, was ungewiss ist. Dass er schon im Knabenalter in die verschiedensten Zweige des Wissens eingeführt wurde, dürfte seinem Geiste das ihm eigentümliche Gepräge gegeben haben. Er empfing als dreijähriges Kind Unterricht im Griechischen, bald darauf wurde er in der Arithmetik unterwiesen. Die anderen Unterrichtsgebiete traten entsprechend früh an ihn heran.
Noch mehr wirkte wohl die Art des Unterrichtes, die sein Vater, der als Denker bedeutende James Mill so gestaltete, dass John Stuart die schärfste Logik wie zur Natur wurde. Aus der Selbstbiographie erfahren wir: «Was sich durch Denken ausfindig machen ließ, das sagte mein Vater mir nie, bevor ich meine Kräfte erschöpft hatte, um auf alles selbst zu kommen.»
Bei einem solchen Menschen müssen die Dinge, die sein Denken beschäftigen, im eigentlichsten Sinne des Wortes das Schicksal seines Leben werden. «Ich bin nie Kind gewesen, habe nie Kricket gespielt; es ist doch besser, die Natur ihre eigenen Bahnen wandeln zu lassen», sagt John Stuart Mill, nicht ohne Beziehung auf die Erfahrungen, die jemand macht, dessen Schicksal so einzig das Denken ist.
Mit aller Stärke mussten auf ihm, der diese Entwicklung durchgemacht hat, die Fragen nach der Bedeutung des Wissens lasten. Inwiefern kann die Erkenntnis, die ihm das Leben ist, auch zu den Quellen der Welterscheinungen führen? Die Richtung, die Mills Gedankenentwicklung nahm, um über diese Fragen Aufschluss zu gewinnen, ist wohl auch frühzeitig von seinem Vater bestimmt worden. James Mills Denken ging von der psychologischen Erfahrung aus. Er beobachtete, wie sich im Menschen Vorstellung an Vorstellung angliedert. Durch die Angliederung einer Vorstellung an die andere gewinnt der Mensch sein Wissen von der Welt. Er muss sich also fragen: In welchem Verhältnis steht die Gliederung der Vorstellungen zu der Gliederung der Dinge in der Welt? Durch eine solche Betrachtungsweise wird das Denken misstrauisch gegen sich selbst. Im Menschen könnten sich die Vorstellungen möglicherweise in einer ganz anderen Weise verknüpfen, als draußen in der Welt die Dinge.
Auf dieses Mistrauen ist John Stuart Mills Logik aufgebaut, die 1843 als sein Hauptwerk, unter dem Titel «System of Logic» erschienen ist.
Man kann sich in Dingen der Weltanschauung kaum einen schärferen Gegensatz denken, als diese Millsche «Logik» und die siebenundzwanzig Jahre früher erschienene «Wissenschaft der Logik» Hegels. Bei Hegel findet man das höchste Vertrauen in das Denken, die volle Sicherheit darüber, dass uns das nicht täuschen kann, was wir in uns selbst erleben. Hegel fühlt sich als Glied der Welt. Was er in sich erlebt, muss also auch zu der Welt gehören. Und da er am unmittelbarsten sich selbst erkennt, so glaubt er an dieses in sich Erkannte und beurteilt danach die ganze übrige Welt. Er sagt sich: Wenn ich ein äußeres Ding wahrnehme, so kann es mir vielleicht nur seine Außenseite zeigen, und sein Wesen bleibt verhüllt.
Bei mir selbst ist das unmöglich. Mich durchschaue ich. Ich kann aber dann die Dinge draußen mit meinem eigenen Wesen vergleichen. Wenn sie in ihrer Außenseite etwas von meinem eigenen Wesen verraten, dann darf ich ihnen auch etwas von meinem Wesen zusprechen. Deshalb sucht Hegel vertrauensvoll den Geist, die Gedankenverbindungen, die er in sich findet, auch draußen in der Natur. Mill fühlt sich zunächst nicht als Glied, sondern als Zuschauer der Welt. Die Dinge draußen sind ihm ein Unbekanntes, und den Gedanken, die der Mensch sich über diese Dinge macht, begegnet er mit Mistrauen. Man nimmt Menschen wahr. Man hat bisher immer die Beobachtung gemacht, dass die Menschen gestorben sind. Deshalb hat man sich das Urteil gebildet: Alle Menschen sind sterblich.
«Alle Menschen sind sterblich; der Herzog von Wellington ist ein Mensch; also ist der Herzog von Wellington sterblich.» So schließen die Menschen. Was gibt ihnen ein Recht dazu? fragt John Stuart Mill. Wenn sich einmal ein einziger Mensch als unsterblich erwiese, so wäre das ganze Urteil umgestoßen. Dürfen wir deshalb, weil bis jetzt alle Menschen gestorben sind, auch voraussetzen, dass sie dies auch in Zukunft tun werden? Alles Wissen ist unsicher. Denn wir schließen von Beobachtungen, die wir gemacht haben, auf Dinge, über die wir nichts wissen können, solange wir nicht die betreffenden Beobachtungen auch an ihnen gemacht haben.
Was müsste jemand, der im Sinne Hegels denkt, zu einer solchen Anschauung sagen? Man kann sich unschwer darüber eine Vorstellung bilden. Man weiß aus sicheren Begriffen, dass in jedem Kreise alle Halbmesser gleich sind. Trifft man in der Wirklichkeit auf einen Kreis, so behauptet man von diesem wirklichen Kreise auch, dass seine Halbmesser gleich seien. Beobachtet man denselben Kreis nach einer Viertelstunde und findet man seine Halbmesser ungleich, so entschließt man sich nun nicht zu dem Urteile: In einem Kreise können unter Umständen auch die Halbmesser ungleich sein, - sondern man sagt sich: Was ehedem Kreis war, hat sich aus irgendwelchen Gründen zu einer Ellipse verlängert.
So etwa stellte sich ein in Hegels Sinn Denkender zu dem Urteile: Alle Menschen sind sterblich. Der Mensch hat sich nicht durch Beobachtung, sondern als inneres Gedankenerlebnis den Begriff des Menschen gebildet, wie er sich den Begriff des Kreises gebildet hat. Zu dem Begriff des Menschen gehört die Sterblichkeit, wie zu dem des Kreises die Gleichheit der Halbmesser. Trifft man in der Wirklichkeit auf ein Wesen, das alle anderen Merkmale des Menschen hat, so muss dieses Wesen auch das der Sterblichkeit haben, wie alle anderen Merkmale des Kreises das der Halbmessergleichheit nach sich ziehen.
Hegel könnte, wenn er auf ein Wesen träfe, das nicht stirbt, sich nur sagen: Das ist kein Mensch, - nicht aber: Ein Mensch kann auch unsterblich sein. Er setzt eben voraus, dass sich die Begriffe in uns nicht willkürlich bilden, sondern dass sie im Wesen der Welt wurzeln, wie wir selbst diesem Wesen angehören. Hat sich der Begriff des Menschen in uns einmal gebildet, so stammt er aus dem Wesen der Dinge; und wir haben das volle Recht, ihn auch auf dieses Wesen anzuwenden. Warum ist in uns der Begriff des sterblichen Menschen entstanden? Doch nur, weil er seinen Grund in der Natur der Dinge hat. Wer glaubt, dass der Mensch ganz außerhalb der Dinge stehe und sich als Außenstehender seine Urteile bilde, kann sich sagen: Wir haben bisher die Menschen sterben sehen, also bilden wir den Zuschauerbegriff: sterbliche Menschen.
Wer sich bewusst ist, dass er selbst zu den Dingen gehört, und diese sich in seinen Gedanken aussprechen, der sagt sich: bisher sind alle Menschen gestorben; also gehört es zu ihrem Wesen, zu sterben; und wer nicht stirbt, der ist eben kein Mensch, sondern etwas anderes. Hegels Logik ist eine Logik der Dinge geworden; denn Hegel ist die Sprache der Logik eine Wirkung des Wesens der Welt; nicht etwas zu diesem Wesen von dem menschlichen Geiste von außen Hinzugefügtes. Mills Logik ist eine Zuschauerlogik, die zunächst den Faden zerschneidet, der sie mit der Welt verbindet.
Mill weist darauf hin, wie Gedanken, die einem gewissen Zeitalter als unbedingt sichere innere Erlebnisse erscheinen, doch von einem folgenden umgestoßen werden. Zum Beispiel hat man im Mittelalter daran geglaubt, dass es unmöglich Gegenfüßler geben könne, und dass die Sterne herunterfallen müssten, wenn sie nicht an festen Sphären hingen. Der Mensch wird also ein rechtes Verhältnis zu seinem Wissen nur gewinnen können, wenn er sich, trotz des Bewusstseins, dass die Logik der Welt sich in ihm ausspricht, im einzelnen nur durch methodische Prüfung seiner Vorstellungszusammenhänge an der Hand der Beobachtung ein der fortwährenden Korrektur bedürftiges Urteil bildet. Und die Methoden der Beobachtung sind es, die John Stuart Mill in kalt berechnender Weise in seiner Logik festzustellen sucht.
Ein Beispiel dafür ist dieses: Man nehme an, eine Erscheinung wäre unter gewissen Bedingungen immer eingetreten. In einem bestimmten Falle treten von diesen Bedingungen eine ganze Reihe wieder ein; nur einzelne fehlen. Die Erscheinung tritt nicht ein. Dann muss man schließen, dass die nicht eingetretenen Bedingungen mit der nicht eingetretenen Erscheinung in einem ursächlichen Zusammenhange stehen. Wenn zwei Stoffe sich stets zu einer chemischen Verbindung zusammengefügt haben, und sie dies einmal nicht tun, so muss man nachforschen, was diesmal nicht da ist und sonst immer da war. Durch eine solche Methode kommen wir zu Vorstellungen über Tatsachenzusammenhänge, welche mit Berechtigung von uns als solche angesehen werden, die ihren Grund in der Natur der Dinge haben. Den Beobachtungsmethoden will Mill nachgehen.
Die Logik, von der Kant gesagt hat, dass sie seit Aristoteles um keinen Schritt weiter gekommen sei, ist ein Orientierungsmittel innerhalb des Denkens selbst. Sie zeigt, wie man von einem richtigen Gedanken auf den anderen kommt. Mills Logik ist ein Orientierungsmittel innerhalb der Welt der Tatsachen. Sie will zeigen, wie man aus Beobachtungen zu gültigen Urteilen über die Dinge gelangt. Mill macht keinen Unterschied zwischen den menschlichen Urteilen. Ihm geht alles aus der Beobachtung hervor, was der Mensch über die Dinge denkt. Nicht einmal bezüglich der Mathematik lässt er eine Ausnahme gelten. Auch sie muss ihre Grunderkenntnisse aus der Beobachtung gewinnen. Wir haben in allen Fällen, die wir bisher beobachtet haben, gesehen, dass zwei gerade Linien, die sich einmal geschnitten haben, auseinanderlaufen (divergieren) und sich nicht ein zweites Mal geschnitten haben.
Daraus schließen wir, dass sie sich nicht schneiden können. Aber einen vollkommenen Beweis dafür haben wir nicht. Für John Stuart Mill ist also die Welt ein dem Menschen Fremdes. Der Mensch betrachtet ihre Erscheinungen und ordnet sie nach den Aussagen, die sie ihm in seinem Vorstellungsleben macht. Er nimmt Regelmäßigkeit in den Erscheinungen wahr und gelangt durch logisch-methodische Untersuchungen dieser Regelmäßigkeiten zu Naturgesetzen. Aber nichts führt in den Grund der Dinge selbst. Man kann deshalb ganz gut sich vorstellen, dass alles in der Welt auch anders sein könnte. Mill ist überzeugt, dass jeder, der an Abstraktion und Analyse gewöhnt ist, und seine Fähigkeiten redlich anwendet, nach genügender Übung seiner Vorstellungskraft keine Schwierigkeit in der Idee findet, es könne in einem anderen Sternsystem als dem unsrigen nichts von den Gesetzen zu finden sein, die im unsrigen gelten.
Es ist nur konsequent, wenn dieser Weltzuschauerstandpunkt von Mill auch auf das eigene Ich des Menschen ausgedehnt wird. Vorstellungen kommen und gehen, verknüpfen sich und trennen sich in seinem Innern; das nimmt der Mensch wahr. Ein Wesen, das sich als «Ich» gleich bleibt in diesem Kommen und Gehen, Trennen und Verbinden der Vorstellungen, nimmt er nicht wahr. Er hat bisher Vorstellungen in sich auftauchen sehen und setzt voraus, dass dies auch weiter der Fall sein werde.
Aus diesem Möglichkeit, dass sich um einen Mittelpunkt herum eine Vorstellungswelt gliedert, entsteht die Vorstellung des «Ich». Auch seinem eigenen «Ich» gegenüber ist der Mensch also Zuschauer. Er lässt sich von seinen Vorstellungen sagen, was er über sich wissen kann. Mill betrachtet die Tatsachen der Erinnerung und der Erwartung. Wenn alles, was ich von mir weiß, sich in Vorstellungen erschöpfen soll, so kann ich nicht sagen: Ich erinnere mich an eine früher von mir gehabte Vorstellung, oder ich erwarte den Eintritt eines gewissen Erlebnisses; sondern: eine Vorstellung erinnert sich an sich selbst oder erwartet ihr zukünftiges Auftreten.
«Wenn wir» - sagt Mill - «vom Geiste als von einem Reihe von Wahrnehmungen sprechen, dann müssen wir von einer Wahrnehmungsreihe sprechen, die sich selbst als werdend und vergangen bewusst ist. Und nun befinden wir uns in dem Dilemma, entweder zu sagen, das ,Ich' oder der Geist sei etwas von den Wahrnehmungen Verschiedenes; oder das Paradoxon zu behaupten, eine bloße Vorstellungsreihe könne ein Bewusstsein von ihrer Vergangenheit und Zukunft haben.»
Mill kommt über dieses Dilemma nicht hinaus. Für ihn birgt es ein unlösbares Rätsel. Er hat eben das Band zwischen sich, dem Beobachter, und dem Welt zerrissen, und ist nicht imstande, es wieder zu knüpfen. Die Welt bleibt ihm das jenseitige Unbekannte, das auf den Menschen Eindrücke macht. Alles, was dieser von dem jenseitigen Unbekannten weiß, ist, dass die Möglichkeit vorhanden ist, es könne in ihm Wahrnehmungen hervorrufen. Statt also von wirklichen Dingen außer sich, kann der Mensch im Grunde nur davon sprechen, dass Wahrnehmungsmöglichkeiten vorhanden sind. Wer von Dingen an sich spricht, ergeht sich in leeren Worten; nur wer von der beständigen Möglichkeit des Eintretens von Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen spricht, bewegt sich auf dem Boden des Tatsächlichen.
John Stuart Mill hat eine heftige Abneigung gegen alle Gedanken, die auf anderem Wege gewonnen sind als durch Vergleichung der Tatsachen, durch Verfolgen des Ähnlichen, Analogen und Zusammengehörigen in den Erscheinungen. Er meint, der menschlichen Lebensführung könne nur der größte Schaden zugefügt werden, wenn man sich in dem Glauben wiege, man könne zu irgendeiner Wahrheit auf eine andere Weise gelangen als durch Beobachtung. Man fühlt in dieser Abneigung Mills die Scheu davor, sich bei allem Erkenntnisstreben anders als rein empfangend (passiv) den Dingen gegenüber zu verhalten. Sie sollen dem Menschen diktieren, was er über sie zu denken hat. Sucht er über das Empfangen hinauszugehen und aus sich selbst heraus etwas über die Dinge zu sagen, so fehlt ihm jede Garantie dafür, dass dieses sein eigenes Erzeugnis auch wirklich etwas mit den Dingen zu tun habe.
Zuletzt kommt es bei dieser Anschauung darauf an, dass ihr Bekenner sich nicht entschließen kann, sein eigenes selbsttätiges Denken mit zu der Welt zu rechnen. Gerade, dass er dabei selbsttätig ist, das beirrt ihn. Er möchte sein Selbst am liebsten ganz ausschalten, um nur ja nichts Falsches in das einzumischen, was die Erscheinungen über sich sagen. Er würdigt die Tatsache nicht in richtiger Weise, dass sein Denken ebenso zur Natur gehört wie das Wachsen eines Grashalmes. So klar es nun ist, dass man den Grashalm beobachten muss, wenn man etwas von ihm wissen will, so klar sollte es sein, dass man auch sein eigenes selbsttätiges Denken befragen muss, wenn man über dasselbe etwas erfahren will.
Wie soll man, nach dem Goetheschen Worte, sein Verhältnis zu sich selbst und zur Außenwelt kennenlernen, wenn man im Erkenntnisprozesse sich selbst ganz ausschalten will? Wie groß die Verdienste Mills auch sind um die Auffindung der Methoden, durch die der Mensch alles das erkennt, was von ihm nicht abhängt: eine Ansicht darüber, in welchem Verhältnisse der Mensch zu sich selbst und mit seinem Selbst zur Außenwelt steht, kann durch keine solche Methode gewonnen werden.
Alle diese Methoden haben ihre Gültigkeit daher für die einzelnen Wissenschaften, nicht aber für eine umfassende Weltanschauung. Was das selbsttätige Denken ist, kann keine Beobachtung lehren; das kann nur das Denken aus sich selbst erfahren. Und da das Denken über sich nur durch sich etwas aussagen kann, so kann es sich auch nur selbst etwas über sein Verhältnis zur Außenwelt sagen. Mills Vorstellungsart schließt also die Gewinnung einer Weltanschauung vollständig aus. Eine solche kann nur durch ein sich in sich versenkendes und dadurch sich und seine Beziehung zur Außenwelt überschauendes Denken gewonnen werden. Dass John Stuart Mill eine Antipathie gegen ein solches auf sich selbst bauendes Denken hegte, ist aus seinem Charakter wohl zu begreifen. Gladstone hat in einem Briefe (vgl. Gomperz, John Stuart Mill, Wien 1889) gesagt, dass er Mill in Gesprächen den «Heiligen des Rationalismus» zu nennen pflegte.
Ein Mann, der in dieser Weise sich ganz im Denken auslebt, stellt an das Denken große Anforderungen und sucht nach den größtmöglichen Vorsichtsmaßregeln, dass es ihn nicht täuschen könne. Er wird dadurch dem Denken gegenüber misstrauisch. Er glaubt, leicht ins Unsichere zu kommen, wenn er feste Anhaltspunkte verliert. Und Unsicherheit gegenüber allen Fragen, die über das strenge Beobachtungswissen hinausgehen, ist ein Grundzug in Mills Persönlichkeit. Wer seine Schriften verfolgt, wird überall sehen, wie Mill solche Fragen als offene betrachtet, über die er ein sicheres Urteil nicht wagt.
*
An der Unerkennbarkeit des wahren Wesens der Dinge hält auch Herbert Spencer fest. Er fragt sich zunächst: Wodurch komme ich zu dem, was ich Wahrheiten über die Welt nenne? Ich beobachte einzelnes an den Dingen und bilde mir über diese Urteile. Ich beobachte, dass Wasserstoff und Sauerstoff unter gewissen Bedingungen sich zu Wasser verbinden. Ich bilde mir ein Urteil darüber. Das ist eine einzelne Wahrheit, die sich nur über einen kleinen Kreis von Dingen erstreckt. Ich beobachte dann auch, unter welchen Verhältnissen sich andere Stoffe verbinden. Ich vergleiche die einzelnen Beobachtungen und komme dadurch zu umfassenderen, allgemeineren Wahrheiten darüber, wie sich Stoffe überhaupt chemisch verbinden.
Alles Erkennen beruht darauf, dass der Mensch von einzelnen Wahrheiten zu immer allgemeineren Wahrheiten übergeht, um zuletzt bei der höchsten Wahrheit zu endigen, die er auf keine andere zurückführen kann; die er also hinnehmen muss, ohne sie weiter begreifen zu können. In diesem Erkenntnisweg haben wir aber kein Mittel, zum absoluten Wesen der Welt vorzudringen. Das Denken kann ja, nach dieser Meinung, nichts tun, als die verschiedenen Dinge miteinander vergleichen und sich über das, was in ihnen Gleichartiges ist, sich allgemeine Wahrheiten bilden. Das unbedingte Weltwesen kann aber, in seiner Einzigartigkeit, mit keinem anderen Ding verglichen werden. Deshalb versagt das Denken ihm gegenüber. Es kommt an dasselbe nicht heran.
Wir hören in solchen Vorstellungsarten immer den Gedanken mitsprechen, der auch auf Grund der Sinnesphysiologie sich ausgebildet hat (vgl. oben S. 422 ff.). Bei vielen Denkern ist dieser Gedanke so mit ihrem geistigen Leben verwachsen, dass sie ihn für das Gewisseste halten, das es geben kann. Sie sagen sich, der Mensch erkennt die Dinge nur dadurch, dass er sich ihrer bewusst wird. Sie verwandeln nun, mehr oder weniger unwillkürlich, diesen Gedanken in den anderen: Man kann nur von dem wissen, was in das Bewusstsein eintritt; es bleibt aber unbekannt, wie die Dinge waren, bevor sie in das Bewusstsein eingetreten sind. Deshalb sieht man auch die Sinnesempfindungen so an, als wären sie im Bewusstsein; denn man meint, sie müssen doch erst in dasselbe eintreten, also Teile desselben (Vorstellungen) werden, wenn man von ihnen etwas wissen will.
Auch Spencer hält daran fest, dass es von uns Menschen abhängt, wie wir erkennen können und dass wir deshalb jenseits dessen, was unsere Sinne und unser Denken uns übermitteln, ein Unerkennbares annehmen müssen. Wir haben ein klares Bewusstsein von allem, was uns unsere Vorstellungen sagen.
Aber diesem klaren ist ein unbestimmtes Bewusstsein beigemischt, das besagt, dass allem, was wir beobachten und denken, etwas zugrunde liegt, was wir nicht mehr beobachten und denken können. Wir wissen, dass wir es mit bloßen Erscheinungen, nicht mit vollen für sich bestehenden Realitäten zu tun haben. Aber eben weil wir genau wissen, dass unsere Welt nur Erscheinung ist, so wissen wir auch, dass ihr eine unvorstellbare wirkliche zugrunde liegt. Durch solche Wendungen seines Denkens glaubt Spencer die volle Versöhnung von Religion und Erkenntnis herbeiführen zu können. Es gibt etwas, das keinem Erkennen zugänglich ist; also gibt es auch etwas, was die Religion in Glauben fassen kann; in einen Glauben, den die ohnmächtige Erkenntnis nicht erschüttern kann.
Dasjenige Gebiet nun, das Spencer der Erkenntnis zugänglich hält, macht er völlig zum Felde naturwissenschaftlicher Vorstellungen. Wo er zu erklären unternimmt, tut er das nur in naturwissenschaftlichem Sinne.
Naturwissenschaftlich denkt sich Spencer den Erkenntnisprozess. Ein jegliches Organ eines Lebewesens ist dadurch entstanden, dass sich dieses Wesen den Bedingungen angepasst hat, unter denen es lebt. Zu den menschlichen Lebensbedingungen gehört, dass sich der Mensch denkend in der Welt zurechtfindet. Sein Erkenntnisorgan entsteht durch Anpassung seines Vorstellungslebens an die Bedingungen der Außenwelt. Wenn der Mensch über ein Ding oder einen Vorgang etwas aussagt, so bedeutet dies nichts anderes als: er passt sich der ihn umgebenden Welt an.
Alle Wahrheiten sind auf diesem Wege der Anpassung entstanden. Was aber durch Anpassung erworben ist, kann sich auf die Nachkommen vererben. Diejenigen haben nicht recht, die behaupten, dem Menschen komme durch seine Natur ein für allemal eine gewisse Disposition zu allgemeinen Wahrheiten zu. Was als solche Disposition erscheint, war einmal bei den Vorfahren des Menschen nicht da, sondern ist durch Anpassung erworben worden und hat sich auf die Nachkommen vererbt. Wenn gewisse Philosophen von Wahrheiten sprechen, die der Mensch nicht aus seiner eigenen individuellen Erfahrung zu schöpfen braucht, sondern die von vornherein in seiner Organisation liegen, so haben sie in gewisser Beziehung recht. Aber solche Wahrheiten sind doch auch erworben, nur nicht von dem Menschen als Individuum, sondern als Gattung.
Der einzelne hat das in früherer Zeit Erworbene fertig ererbt. - Goethe sagt, dass er manchem Gespräch über Kants «Kritik der reinen Vernunft» beigewohnt und dabei gesehen habe, dass die alte Hauptfrage sich erneuere, «wieviel unser Selbst und wieviel die Außenwelt zu unserem geistigen Dasein beitrage?» Und er fährt fort: «Ich hatte beide niemals gesondert, und wenn ich nach meiner Weise über Gegenstände philosophierte, so tat ich es mit unbewusster Naivität und glaubte wirklich, ich sähe meine Meinungen vor Augen.» Spencer rückte diese «alte Hauptfrage» in das Licht der naturwissenschaftlichen Anschauungsart.
Er glaubte, zu zeigen, dass der entwickelte Mensch allerdings auch aus seinem Selbst zu seinem geistigen Dasein beizutragen hat; aber dieses Selbst setzt sich doch auch aus den Erbstücken zusammen, die unsere Vorfahren im Kampfe mit der Außenwelt erworben haben. Wenn wir heute unsere Meinungen vor Augen zu sehen glauben, so waren dies nicht immer unsere Meinungen, sondern sie waren einst Beobachtungen, die wirklich mit den Augen an der Außenwelt gemacht worden sind.
Spencers Weg ist also wie der Mills ein solcher, der von der Psychologie ausgeht. Aber Mill bleibt bei der Psychologie des Individuums stehen. Spencer steigt von dem Individuum zu dessen Vorfahren auf. Die Individualpsychologie ist in derselben Lage wie die Keimesgeschichte der Zoologie. Gewisse Erscheinungen der Keimung sind nur erklärlich, wenn man sie zurückführt auf Erscheinungen der Stammesgeschichte. Ebenso sind die Tatsachen des individuellen Bewusstseins aus sich selbst nicht verständlich. Man muss aufsteigen zu der Gattung, ja über die Menschengattung noch hinausgehen bis zu den Erkenntniserwerbungen, welche die tierischen Vorfahren des Menschen schon gemacht haben.
Spencer wendet seinen großen Scharfsinn an, um diese seine Entwicklungsgeschichte des Erkenntnis-Prozesses zu stützen. Er zeigt, wie die geistigen Fähigkeiten aus niedrigen Anfängen sich allmählich entwickelt haben durch immer entsprechendere Anpassungen des Geistes an die Außenwelt und durch Vererbung dieser Anpassungen. Alles, was der einzelne Mensch ohne Erfahrung, durch reines Denken über die Dinge gewinnt, hat die Menschheit oder haben deren Voreltern durch Beobachtung, durch Erfahrung gewonnen.
Leibniz hat die Übereinstimmung des menschlichen Innern mit der Außenwelt nur dadurch erklären zu können geglaubt, dass er eine vom Schöpfer vorherbestimmte Harmonie angenommen hat. Spencer erklärt diese Übereinstimmung naturwissenschaftlich. Sie ist nicht vorher bestimmt, sondern geworden. Man hat hier die Fortsetzung des naturwissenschaftlichen Denkens bis in die höchsten, dem Menschen gegebenen Tatsachen. Linné erklärt, jede lebendige Wesensform sei vorhanden, weil der Schöpfer sie so geschaffen hat, wie sie ist. Darwin erklärt, sie sei so, wie sie sich durch Anpassung und Vererbung allmählich entwickelt hat. Leibniz erklärt, das Denken stimme mit der Außenwelt überein, weil der Schöpfer die Übereinstimmung geschaffen hat. Spencer erklärt, diese Übereinstimmung sei vorhanden, weil sie sich durch Anpassung und Vererbung der Gedankenwelt entwickelt hat.
Von dem Bedürfnis nach einer naturgemäßen Erklärung der geistigen Erscheinungen ist Spencer ausgegangen. Die Richtung auf eine solche hat ihm Lyells Geologie gegeben (vgl. S. 360). In ihr wird zwar der Gedanke noch bekämpft, dass die organischen Formen sich durch allmähliche Entwicklung auseinander gebildet haben; aber er erfährt doch eine wichtige Stütze dadurch, dass die unorganischen (geologischen) Bildungen der Erdoberfläche durch eine solche allmähliche Entwicklung, nicht durch gewaltsame Katastrophen, erklärt werden.
Spencer, der eine naturwissenschaftliche Bildung hatte, sich auch einige Zeit als Zivilingenieur betätigt hatte, erkannte die volle Tragweite des Entwicklungsgedankens sofort und wendete ihn an, trotz der Bekämpfung durch Lyell. Ja, er wendete ihn sogar auf die geistigen Vorgänge an. Schon 1850, in seiner Schrift «Social Statics», beschrieb er die soziale Entwicklung in Analogie mit der organischen. Er machte sich auch mit Harveys und Wolffs (vgl. Bd. I, S. 286 ff.) Studien über Keimesgeschichte der Organismen bekannt und vertiefte sich in die Arbeiten Carl Ernst von Baers (vgl. oben S. 397 f.), die ihm zeigten, wie die Entwicklung darin bestehe, dass aus einem Zustande der Gleichartigkeit, der Einförmigkeit ein solcher der Verschiedenheit, der Mannigfaltigkeit, des Reichtums sich entwickele. In den ersten Keimstadien sehen sich die Organismen ähnlich; später' werden sie voneinander verschieden (vgl. oben S. 397 ff.). Durch Darwin erfuhr dieser Entwicklungsgedanke dann eine vollkommene Bekräftigung. Aus einigen wenigen Urorganismen hat sich der ganze Reichtum der heutigen mannigfaltigen Formenwelt entwickelt.
Von dem Entwicklungsgedanken aus wollte Spencer aufsteigen zu den allgemeinsten Wahrheiten, die nach seiner Meinung das Ziel des menschlichen Erkenntnisstrebens ausmachen. In den einfachsten Erscheinungen glaubte er den Entwicklungsgedanken schon zu finden. Wenn aus zerstreuten Wasserteilchen sich eine Wolke am Himmel, aus zerstreuten Sandkörpern ein Sandhaufen sich bildet, so hat man es mit einem Entwicklungsprozesse zu tun. Zerstreuter Stoff wird zusammengezogen (konzentriert) zu einem Ganzen. Keinen anderen Prozess hat man in der Kant-Laplaceschen Weltbildungshypothese vor sich. Zerstreute Teile eines chaotischen Weltnebels haben sich zusammengezogen. Der Organismus entsteht auf eben diese Weise. Zerstreute Elemente werden in Geweben konzentriert. Der Psychologe kann beobachten, wie der Mensch zerstreute Beobachtungen zu allgemeinen Wahrheiten zusammenzieht. Innerhalb des konzentrierten Ganzen gliedert sich dann das Zusammengezogene (es differenziert sich). Die Urmasse gliedert sich zu den einzelnen Himmelskörpern des Sonnensystems; der Organismus differenziert sich zu mannigfaltigen Organen.
Mit der Zusammenziehung wechselt die Auflösung ab. Wenn ein Entwicklungsprozess einen gewissen Höhepunkt erreicht hat, dann tritt ein Gleichgewicht ein. Der Mensch entwickelt sich zum Beispiel so lange, bis sich eine möglichst große Harmonie seiner inneren Fähigkeiten und der äußeren Natur herausgebildet hat. Ein solcher Gleichgewichtszustand kann aber nicht dauern; äußere Kräfte werden zerstörend an ihn herantreten. Auf die Entwicklung muss der absteigende, der Auflösungsprozess folgen; das Zusammengezogene dehnt sich wieder aus; das Kosmische wird wieder zum Chaos. Der Prozess der Entwicklung kann von neuem beginnen. Ein rhythmisches Bewegungsspiel sieht Spencer also im Weltprozess.
Es ist eine gewiss nicht uninteressante Beobachtung für die vergleichende Entwicklungsgeschichte der Weltanschauungen, dass Spencer hier aus der Betrachtung des Werdens der Welterscheinungen zu einem ähnlichen Gedanken kommt, den auch Goethe auf Grund seiner Ideen über das Werden des Lebens ausgesprochen hat. Dieser beschreibt das Wachstum der Pflanze so:
«Es mag die Pflanze sprossen, blühen oder Früchte tragen, so sind es doch immer nur dieselbigen Organe, welche in vielfältigen Bestimmungen und unter oft veränderten Gestalten die Vorschrift der Natur erfüllen. Dasselbe Organ, welches am Stengel als Blatt sich ausgedehnt und eine höchst mannigfaltige Gestalt angenommen hat, zieht sich nun im Kelche zusammen, dehnt sich im Blumenblatte wieder aus, zieht sich in den Geschlechtswerkzeugen zusammen, um sich als Frucht zum letztenmal auszudehnen.»
Man denke sich diese Vorstellung auf den ganzen Weltprozess übertragen, so gelangt man zu Spencers Zusammenziehung und Zerstreuung des Stoffes.
Spencer und Mill haben auf die Weltanschauungsentwicklung der letzten Jahrhunderthälfte einen großen Einfluss geübt. Das strenge Betonen der Beobachtung und die einseitige Bearbeitung der Methoden des beobachtenden Erkennens durch Mill; die Anwendung naturwissenschaftlicher Vorstellungen auf den ganzen Umfang des menschlichen Wissens durch Spencer: sie mussten den Empfindungen eines Zeitalters entsprechen, das in den idealistischen Weltanschauungen Fichtes, Schellings, Hegels nur Entartungen des menschlichen Denkens sah und dem die Erfolge der naturwissenschaftlichen Forschung alleinige Schätzung abgewannen, während die Uneinigkeit der idealistischen Denker und die, nach Meinung vieler, völlige Unfruchtbarkeit des in sich selbst sich vertiefenden Denkens ein tiefes Mistrauen gegenüber dem Idealismus erzeugten.
Man darf wohl behaupten, dass eine in den letzten vier Jahrzehnten weit verbreitete Anschauung zum Ausdruck bringt, was Rudolf Virchow 1893 in seiner Rede «Die Gründung der Berliner Universität und der Übergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter» sagt:
«Seitdem der Glaube an Zauberformeln in die äußersten Kreise des Volkes zurückgedrängt war, fanden auch die Formeln der Naturphilosophen wenig Anklang mehr.»
Und einer der bedeutendsten Philosophen von der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, Eduard von Hartmann, fasst den Charakter seiner Weltanschauung in dem Motto zusammen, das er an die Spitze seines Buches «Philosophie des Unbewussten» gestellt hat: «Spekulative Resultate nach induktiv-naturwissenschaftlicher Methode.»
Ja, er ist der Meinung, man müsse die «Größe des von Mill bewirkten Fortschrittes» anerkennen, durch «den alle Versuche eines deduktiven Philosophierens für immer überwunden sind». (Vgl. E. von Hartmann, Geschichte der Metaphysik. 2. Teil, S. 479.)
Auch wirkte die Anerkennung gewisser Grenzen des menschlichen Erkennens, die viele Naturforscher zeigten, auf religiös gestimmte Gemüter sympathisch. Sie sagten sich: Die Naturforscher beobachten die unorganischen und organischen Tatsachen und suchen durch Verknüpfung der einzelnen Erscheinungen allgemeine Gesetze zu finden, mit deren Hilfe sich Vorgänge erklären lassen, ja sogar der regelmäßige Verlauf zukünftiger Erscheinungen vorausbestimmt werden kann. Ebenso soll die zusammenfassende Weltanschauung vorgehen; sie soll sich an die Tatsachen halten, aus ihnen allgemeine Wahrheiten innerhalb bescheidener Grenzen erforschen und keinen Anspruch darauf machen, in das Gebiet des «Unbegreiflichen» zu dringen. Spencer mit seiner vollkommenen Scheidung des «Begreiflichen» und des «Unbegreiflichen» kam solchen religiösen Bedürfnissen im höchsten Maße entgegen. Dagegen betrachteten diese religiös gestimmten Geister die idealistische Vorstellungsart als eine Verstiegenheit. Diese kann eben im Prinzip ein Unbegreifliches nicht anerkennen, weil sie daran festhalten muss, dass durch die Versenkung in das menschliche Innenleben die Erkenntnis nicht nur der Außenseite des Weltdaseins, sondern auch des wirklichen Kernes desselben möglich ist.
Ganz in der Richtung solcher religiös gestimmten Geister bewegt sich auch das Denken einflussreicher Naturforscher, wie das Huxleys, der sich zu einem vollkommenen Agnostizismus gegenüber dem Weltwesen bekennt und einen im Sinne der Darwinschen Erkenntnisse gehaltenen Monismus nur für die dem Menschen gegebene Außenseite der Natur für anwendbar erklärt. Er ist als einer der ersten für die Darwinschen Vorstellungen eingetreten; ist aber zugleich einer der entschiedensten Vertreter der Beschränktheit dieser Vorstellungsart.
Zu einer ähnlichen Ansicht bekannte sich der Physiker John Tyndall (1820-1893), der in dem Weltprozesse eine dem menschlichen Verstande vollkommen unzugängliche Kraft anerkennt. Denn gerade, wenn man annehme, dass in der Welt alles durch natürliche Entwicklung entstehe, könne man nimmermehr zugeben, dass der Stoff, der doch der Träger der ganzen Entwicklung ist, nichts weiter sei als das, was unser Verstand von ihm begreifen kann.
Eine für seine Zeit charakteristische Erscheinung ist die Persönlichkeit des englischen Staatsmannes James Balfour (1848-1930), der 1879 (in seinem Buche «A defence of philosophic doubt, being an Essay on the foundations of belief») ein Glaubensbekenntnis ablegte, das demjenigen weiter Kreise zweifellos ähnlich ist.
Er stellt sich in bezug auf alles, was der Mensch erklären kann, ganz auf den Boden des naturwissenschaftlichen Denkens. Er lässt im Naturerkennen sich die gesamte Erkenntnis erschöpfen. Aber er behauptet zugleich, dass nur derjenige das naturwissenschaftliche Erkennen recht verstehe, der einsehe, dass die Gemüts- und Vernunftbedürfnisse des Menschen durch dasselbe niemals befriedigt werden können. Man brauche nur einzusehen, dass zuletzt alles auch in der Naturwissenschaft darauf ankomme, die letzten Wahrheiten, die man nicht mehr beweisen kann, zu glauben. Es schadet aber nichts, dass wir in dieser Richtung bloß zu einem Glauben kommen, denn dieser Glaube leitet uns sicher bei unseren Handlungen im täglichen Leben. Wir glauben an die Naturgesetze und beherrschen sie durch diesen Glauben; wir zwingen durch ihn die Natur, uns für unsere Zwecke zu dienen. Der religiöse Glaube soll eine gleiche Übereinstimmung zwischen den Handlungen des Menschen und den höheren, über das Alltägliche hinausgehenden Bedürfnissen herstellen.
Die Weltanschauungen, welche hier zusammengefasst erscheinen durch die Bezeichnung «Die Welt als Illusion», zeigen, dass ihnen ein Suchen nach dem befriedigenden Verhältnis der Vorstellung vorn selbstbewussten Ich zu einem Gesamtweltbilde zugrunde liegt. Sie erscheinen eben dadurch besonders bedeutsam, dass sie dieses Suchen nicht als ihr bewusstes philosophisches Ziel ansehen und ihre Untersuchungen nicht nach diesem Ziele hin ausgesprochen richten, sondern dass sie wie instinktiv ihrer Vorstellungsart das Gepräge geben, welches von diesem Suchen als unbewusstem Impuls bestimmt ist. Und es ist die Art dieses Suchens eine solche, wie sie durch die neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungen bedingt werden musste.
Man kommt dem Grundcharakter dieser Vorstellungen nahe, wenn man sich an den Begriff des «Bewusstseins» hält. Dieser Begriff ist deutlich erst seit Descartes in das neuere Weltanschauungsleben eingeströmt. Vorher hielt man sich an den Begriff der «Seele» als solcher. Dass die Seele nur einen Teil ihres Lebens in ihr bewussten Erscheinungen durchmacht, wurde weniger beachtet. Im Schlafe lebt die Seele doch nicht bewusst. Gegenüber dem bewussten Leben muss ihr Wesen also in tieferen Kräften bestehen, die sie aus dem Grunde dieses Wesens doch nur im Wachen zum Bewusstsein heraufhebt.
Je mehr man aber dazu kam, nach der Berechtigung und dem Wert der Erkenntnis auf Grund einleuchtender Vorstellungen zu fragen, um so mehr kam man auch dazu, zu empfinden, dass das Gewisseste aus aller Erkenntnis die Seele dann findet, wenn sie über sich selbst nicht hinaus- und in sich selbst auch nicht tiefer hineingeht, als das Bewusstsein reicht. Man meinte: Möge auch alles andere ungewiss sein; was im Bewusstsein ist, das zum mindesten ist, als solches, gewiss. Mag selbst das Haus, an dem ich vorbeigehe, nicht außer mir existieren; dass das Bild dieses Hauses jetzt in meinem Bewusstsein lebt: das darf ich behaupten. Sobald man aber die Aufmerksamkeit auf das Bewusstsein richtet, kann es nicht ausbleiben, dass der Begriff des Ich mit dem des Bewusstseins zusammenwächst. Mag das «Ich» außer dem Bewusstsein was immer für ein Wesen sein: so weit das Bewusstsein geht, so weit darf der Bereich des «Ich» vorgestellt werden.
Nun kann doch gar nicht geleugnet werden, dass sich von dem bewusst vor der Seele stehenden sinnlichen Weltbilde sagen lässt, es komme durch den Eindruck zustande, der von der Welt auf den Menschen gemacht wird. Sobald man sich aber an dieser Aussage festklammert' kommt man nicht leicht wieder von ihr los. Denn es unterschiebt sich das Urteil: Die Vorgänge der Welt sind Ursache; das, was im Bewusstsein sich darstellt, ist Wirkung.
Da man so im Bewusstsein allein die Wirkung zu haben glaubt, meint man, die Ursache müsse ganz in einer außer dem Menschen liegenden Welt als unwahrnehmbares «Ding an sich» vorhanden sein. Die obigen Darstellungen zeigen, wie die neueren physiologischen Erkenntnisse zur Bekräftigung einer solchen Meinung führen. Es ist nun diese Meinung, durch welche sich das «Ich» mit seinen subjektiven Erlebnissen ganz in seiner eigenen Welt eingeschlossen findet. Diese intellektuelle, scharfsinnig erzeugte Illusion kann so lange nicht zerstört werden, wenn sie einmal gebildet ist, als das «Ich» nicht in sich selbst etwas findet, von dem es weiß, dass es, obwohl es im Bewusstsein abgebildet ist, doch außerhalb des subjektiven Bewusstseins sein Wesen hat.
Das Ich muss sich außerhalb des sinnlichen Bewusstseins von Wesen berührt fühlen, die ihr Sein durch sich selbst verbürgen. Es muss in sich etwas finden, das es außerhalb seiner selbst führt. Was von dem Lebendigwerden des Gedankens gesagt worden ist, kann solches bewirken. Hat das Ich den Gedanken nur in sich erlebt, so fühlt es sich mit ihm in sich selbst. Beginnt der Gedanke sein Eigenleben, so entreißt er das Ich seinem subjektiven Leben. Es vollzieht sich ein Vorgang, den das Ich zwar subjektiv erlebt, der jedoch durch seine eigene Natur objektiv ist, und der das «Ich» all dem entreißt, was es nur als subjektiv empfinden kann. Man sieht, dass auch die Vorstellungen, welchen die Welt Illusion wird, nach dem Ziele hindrängen, das in der Weiterführung des Hegelschen Weltbildes zum lebendig gewordenen Gedanken liegt. Diese Vorstellungen gestalten sich so, wie das Weltanschauungsbild werden muss, das von dem in diesem Ziele gelegenen Impuls unbewusst getrieben wird, doch aber nicht die Kraft hat, zu diesem Ziele sich hindurchzuarbeiten. Dieses Ziel waltet in den Untergründen der neueren Weltanschauungsentwicklung. Den Weltanschauungen, welche auftreten, fehlt die Kraft, zu ihm durchzubrechen. Sie erhalten auch in ihrer Unvollkommenheit ihr Gepräge von diesem Ziel; und die Ideen, welche auftreten, sind die äußeren Symptome verborgen bleibender Willenskräfte.