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Die Klassiker der Welt- und Lebensanschauung

Wie ein Lichtblitz, der innerhalb der Weltanschauungsentwicklung erhellend nach rückwärts und vorwärts wirkt, erscheint ein Satz, den Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) in seiner «Naturphilosophie» ausgesprochen hat: «Über die Natur philosophieren heißt soviel als die Natur schaffen.» Wovon Goethe und Schiller durchdrungen waren: dass die produktive Phantasie ihren Anteil bei Erschaffung der Weltanschauung haben müsse, dem gibt dieser Satz einen monumentalen Ausdruck. Was die Natur uns freiwillig gibt, wenn wir sie beobachten, anschauen, wahrnehmen: das enthält nicht ihren tiefsten Sinn. Diesen Sinn kann der Mensch nicht von außen aufnehmen. Er muss ihn schaffen.

Zu solchem Schaffen war Schellings Geist besonders veranlagt. Bei ihm strebten alle Geisteskräfte nach der Phantasie hin. Er ist ein erfinderischer Kopf ohnegleichen. Aber seine Einbildungskraft bringt nicht Bilder hervor, wie die künstlerische, sondern Begriffe und Ideen. Durch diese seine Geistesart war er dazu berufen, die Gedankengänge Fichtes fortzusetzen. Dieser besaß die produktive Phantasie nicht. Er war mit seiner Wahrheitsforderung bis zum seelischen Zentrum des Menschen gelangt, bis zum «Ich».

Wenn dieses der Quellpunkt sein soll für die Weltanschauung, so muss derjenige, der auf diesem Standpunkte steht, auch in der Lage sein, vom Ich aus zu inhaltvollen Gedanken über die Welt und das Leben zu gelangen. Das kann nur mit Hilfe der Einbildungskraft geschehen. Sie stand Fichte nicht zu Gebote. Deshalb blieb er im Grunde sein ganzes Leben lang dabei stehen, auf das Ich hinzudeuten und zu sagen, wie es einen Inhalt an Gedanken gewinnen müsse; aber er wusste ihm selbst keinen solchen zu geben.

Wir ersehen dies klar aus den Vorlesungen, die er 1813 an der Berliner Universität über «Wissenschaftslehre» gehalten hat.(Nachgelassene Werke, 1. Band.) Er fordert da für denjenigen, der zu einer Weltanschauung kommen will, «ein ganz neues inneres Sinneswerkzeug, durch welches eine neue Welt gegeben wird, die für den gewöhnlichen Menschen gar nicht vorhanden ist». Aber Fichte kommt nicht über diese Forderung eines neuen Sinnes hinaus. Was ein solcher Sinn wahrnehmen soll, das entwickelt er nicht. Schelling sieht in den Gedanken, die ihm seine Phantasie vor die Seele stellt, die Ergebnisse dieses höheren Sinnes, den er intellektuelle Anschauung nennt. Ihn, der also in dem, was der Geist über die Natur aussagt, ein Erzeugnis sieht, das der Geist schafft, musste vor allen Dingen die Frage interessieren: Wie kann das, was aus dem Geiste stammt, doch die wirkliche, in der Natur waltende Gesetzmäßigkeit sein? Er wendet sich mit scharfen Ausdrücken gegen diejenigen, welche glauben, dass wir unsere Ideen «auf die Natur nur übertragen», denn «sie haben keine Ahnung davon, was uns die Natur ist und sein soll, ... denn wir wollen nicht, dass die Natur mit den Gesetzen unseres Geistes zufällig (etwa durch Vermittelung eines Dritten) zusammentreffe, sondern, dass sie selbst notwendig und ursprünglich die Gesetze unseres Geistes nicht nur ausdrücke, sondern selbst realisiere und dass sie nur insofern Natur sei und Natur heiße, als sie dies täte. ... Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muss sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich sei, auflösen.»

Natur und Geist sind also überhaupt nicht zwei verschiedene Wesenheiten, sondern eine und dieselbe Wesenheit in zwei verschiedenen Formen. Die eigentliche Meinung Schellings über diese Einheit von Natur und Geist ist selten richtig erfasst worden. Man muss sich ganz in seine Vorstellungsart versetzen, wenn man darunter nicht eine Trivialität oder eine Absurdität verstehen will.

Hier soll, um diese Vorstellungsart zu verdeutlichen, auf einen Satz in seinem Buche «Von der Weltseele» hingewiesen werden, in dem er sich über die Natur der Schwerkraft ausspricht. Viele sehen eine Schwierigkeit in diesem Begriffe, weil er eine sogenannte «Wirkung in der Ferne» voraussetzt. Die Sonne wirkt anziehend auf die Erde, trotzdem nichts zwischen Sonne und Erde ist, was diese Anziehung vermittelt. Man muss sich denken, dass die Sonne durch den Raum hindurch ihre Wirkungssphäre auf Orte ausdehnt, an denen sie nicht ist. Diejenigen, die in grobsinnlichen Vorstellungen leben, sehen in einem solchen Gedanken eine Schwierigkeit. Wie kann ein Körper da wirken, wo er nicht ist? Schelling kehrt den ganzen Gedankenprozess um.

Er sagt: «Es ist sehr wahr, dass ein Körper nur da wirkt, wo er ist, aber es ist ebenso wahr, dass er nur da ist, wo er wirkt.» Wenn wir die Sonne durch die Anziehungskraft auf unsere Erde wirken sehen, so folgt daraus, dass sie sich in ihrem Sein bis auf unsere Erde erstreckt und dass wir kein Recht haben, ihr Dasein nur an den Ort zu versetzen, an dem sie durch ihre Sichtbarkeit wirkt. Die Sonne geht mit ihrem Sein über die Grenzen hinaus, innerhalb deren sie sichtbar ist; nur einen Teil ihres Wesens sieht man; der andere gibt sich durch die Anziehung zu erkennen. So ungefähr müssen wir uns auch das Verhältnis des Geistes zur Natur denken. Der Geist ist nicht nur da, wo er wahrgenommen wird, sondern auch da, wo er wahrnimmt. Sein Wesen erstreckt sich bis an die fernsten Orte, an denen er noch Gegenstände beobachten kann. Er umspannt und durchdringt die ganze ihm bekannte Natur. Wenn er das Gesetz eines äußeren Vorganges denkt, so bleibt dieser Vorgang nicht außen liegen, und der Geist nimmt bloß ein Spiegelbild auf, sondern dieser strömt sein Wesen in den Vorgang hinein; er durchdringt den Vorgang, und wenn er dann das Gesetz desselben findet, so spricht nicht er es in seinem abgesonderten Gehirnwinkel aus, sondern das Gesetz spricht sich selbst aus. Der Geist ist dorthin gegangen, wo das Gesetz wirkt. Hätte er es nicht beachtet, so hätte es auch gewirkt; aber es wäre nicht ausgesprochen worden. da der Geist in den Vorgang gleichsam hineinkriecht, so ward das Gesetz auch noch außerdem, dass es wirkt, als Idee, als Begriff ausgesprochen. Nur wenn der Geist auf die Natur keine Rücksicht nimmt und sich selbst anschaut, dann kommt es ihm vor, als wenn er abgesondert von der Natur wäre, wie es dem Auge vorkommt, dass die Sonne innerhalb eines gewissen Raumes eingeschlossen sei, wenn davon abgesehen wird, dass sie auch da ist, wo sie durch Anziehung wirkt. Lasse ich also in meinem Geiste die Ideen entstehen, die Naturgesetze ausdrücken, so ist ebenso wahr, wie die eine Behauptung: dass ich die Natur schaffe, die andere: dass sich in mir die Natur selbst schafft.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten, das eine Wesen, das Geist und Natur zugleich ist, zu beschreiben.

Die eine ist: ich zeige die Naturgesetze auf, die in Wirklichkeit tätig sind. Oder ich zeige, wie der Geist es macht, um zu diesen Gesetzen zu kommen. Beide Male leitet mich eines und dasselbe. Das eine Mal zeigt mir die Gesetzmäßigkeit, wie sie in der Natur wirksam ist; das andere Mal zeigt mir der Geist, was er beginnt, um sich dieselbe Gesetzmäßigkeit vorzustellen. In dem einen Falle treibe ich Natur-, in dem anderen Geisteswissenschaft. Wie diese beiden zusammengehören, beschreibt Schelling in anziehender Weise: «Die notwendige Tendenz aller Naturwissenschaft ist, von der Natur aufs Intelligente zu kommen.

Dies und nichts anderes liegt dem Bestreben zugrunde, in die Naturerscheinungen Theorie zu bringen. Die höchste Vervollkommnung der Naturwissenschaft wäre die vollkommene Vergeistigung aller Naturgesetze zu Gesetzen des Anschauens und des Denkens. Die Phänomene (das Materielle) müssen völlig verschwinden und nur die Gesetze (das Formelle) bleiben. Daher kommt es, dass, je mehr in der Natur selbst das Gesetzmäßige hervorbricht, desto mehr die Hülle verschwindet, die Phänomene selbst geistiger werden und zuletzt völlig aufhören. Die optischen Phänomene sind nichts anderes als eine Geometrie, deren Linien durch das Licht gezogen werden, und dieses Licht selbst ist schon zweideutiger Materialität.

In den Erscheinungen des Magnetismus verschwindet schon alle materielle Spur, und von den Phänomenen der Schwerkraft, welche selbst Naturforscher nur als unmittelbar geistige Einwirkung Wirkung in die Ferne begreifen zu können glaubten, bleibt nichts zurück als ihr Gesetz, dessen Ausführung im großen der Mechanismus der Himmelsbewegungen ist. Die vollendete Theorie der Natur würde diejenige sein, kraft welcher die ganze Natur sich in eine Intelligenz auflöste. Die toten und bewusstlosen Produkte der Natur sind nur misslungene Versuche der Natur, sich selbst zu reflektieren, die sogenannte Natur aber überhaupt eine unreife Intelligenz, daher in ihren Phänomenen noch bewusstlos schon der intelligente Charakter durchblickt. Das höchste Ziel, sich selbst ganz Objekt zu werden, erreicht die Natur erst durch die höchste und letzte Reflexion, welche nichts anderes als der Mensch, oder allgemeiner das ist, was wir Vernunft nennen, durch welche zuerst die Natur vollständig in sich selbst zurückkehrt, und wodurch offenbar wird, dass die Natur ursprünglich identisch ist mit dem, was in uns als Intelligentes und Bewusstes erkannt wird.» In ein kunstvolles Netz von Gedanken spann Schelling die Tatsachen der Natur ein, so dass alle ihre Erscheinungen wie ein idealer harmonischer Organismus vor seiner schaffenden Phantasie standen.

Er war beseelt von dem Gefühl, dass die Ideen, die in seiner Phantasie erscheinen, auch die wahren schöpferischen Kräfte der Naturvorgänge seien. Geistige Kräfte liegen also der Natur zugrunde; und was unseren Augen als tot und leblos erscheint, das stammt ursprünglich aus Geistigem. Wenn wir unseren Geist darauf richten, dann legen wir die Ideen, das Geistige der Natur frei. So sind für den Menschen, im Sinne Schellings, die Naturdinge Offenbarungen des Geistes, hinter deren äußerer Hülle er sich gleichsam verbirgt. In unserem eigenen Innern zeigt er sich dann in seiner richtigen Gestalt. Der Mensch weiß dadurch, was Geist ist, und kann deshalb auch den in der Natur verborgenen Geist wieder finden.

Die Art, wie Schelling die Natur als Geist in sich wieder erstehen lässt, hat etwas Verwandtes mit derjenigen, die Goethe bei dem vollkommenen Künstler anzutreffen glaubt. Dieser verfährt, nach Goethes Meinung, bei dem Hervorbringen der Kunstwerke wie die Natur bei ihren Schöpfungen. Man hätte also in dem Schaffen des Künstlers denselben Vorgang vor sich, durch den auch alles dasjenige entstanden ist, was in der äußeren Natur vor dem Menschen ausgebreitet liegt. Was die Natur den äußeren Blicken entzieht, das stellt sich dem Menschen in dem künstlerischen Schaffen wahrnehmbar dar. Die Natur zeigt dem Menschen nur die fertigen Werke; wie sie es gemacht hat, um sie fertig zu bringen: das muss er aus diesen Werken erraten. Er hat die Geschöpfe vor sich, nicht den Schöpfer. Beim Künstler nimmt man Schöpfung und Geschöpf zugleich wahr.

Schelling will nun durch die Erzeugnisse der Natur zu ihrem Schaffen durchdringen; er versetzt sich in die schaffende Natur hinein und lässt sie in seiner Seele so entstehen, wie der Künstler sein Kunstwerk entstehen lässt. Was sind also, der Meinung Schellings nach, die Gedanken, die seine Weltanschauung enthält? Es sind die Ideen des schaffenden Naturgeistes. Was den Dingen vorangegangen ist und was sie geschaffen hat, das taucht im einzelnen Menschengeiste als Gedanke auf. Es verhält sich dieser Gedanke zu seinem ursprünglichen wirklichen Dasein so, wie sich das Erinnerungsbild an ein Erlebnis zu diesem Erlebnis selbst verhält. So wird die menschliche Wissenschaft für Schelling zu einem Erinnerungsbilde an die vor den Dingen schaffenden geistigen Vorbilder. Ein göttlicher Geist hat die Welt geschaffen; er schafft zuletzt auch noch die Menschen, um sich in ihren Seelen ebensoviele Werkzeuge zu bilden, durch die er sich an sein Schaffen erinnern kann. Schelling fühlt sich also, wenn er sich der Betrachtung der Welterscheinungen hingibt, gar nicht als Einzelwesen. Er erscheint sich wie ein Teil, ein Glied der schaffenden Weltmächte. Er denkt nicht, sondern der Geist der Welt denkt in ihm. Dieser Geist beschaut in ihm seine eigene schöpferische Tätigkeit.

In dem Hervorbringen des Kunstwerkes erblickt Schelling eine Weltschöpfung im kleinen; in der denkenden Betrachtung der Dinge eine Erinnerung an die Weltschöpfung im großen. In der Weltanschauung treten die Ideen selbst in unserem Geiste auf, die den Dingen zugrunde liegen und sie hervorgebracht haben. Der Mensch lässt aus der Welt alles weg, was die Sinne über sie aussagen, und behält nur dasjenige, was das reine Denken liefert. Im Schaffen und Genießen des Kunstwerkes tritt die innige Durchdringung der Idee mit dem, was den Sinnen sich offenbart, auf.

Für Schellings Ansicht stehen also Natur, Kunst und Weltanschauung (Philosophie) einander so gegenüber, dass die Natur die fertigen, äußeren Erzeugnisse darbietet, die Weltanschauung die erzeugenden Ideen, die Kunst beides in harmonischem Zusammenwirken. Die künstlerische Tätigkeit steht in der Mitte zwischen der schaffenden Natur, die hervorbringt, ohne von den Ideen zu wissen, auf Grund deren sie schafft, und dem denkenden Geiste, der diese Ideen weiß, ohne mit ihrer Hilfe auch die Dinge schaffen zu können.

Schelling drückt dies in dem Satze aus: «Die idealische Welt der Kunst und die reelle der Objekte sind also Produkte einer und derselben Tätigkeit; das Zusammentreffen beider (der bewussten und bewusstlosen) ohne Bewusstsein gibt die wirkliche, mit Bewusstsein die ästhetische Welt. Die objektive Welt ist nur die ursprüngliche, noch bewusstlose Poesie des Geistes, das allgemeine Organon der Philosophie und der Schlussstein ihres ganzen Gewölbes die Philosophie der Kunst.»

Die geistigen Tätigkeiten des Menschen: denkende Betrachtung der Welt und künstlerisches Schaffen, erscheinen Schelling nicht nur als individuelle Verrichtungen der Einzelpersönlichkeit, sondern, wenn sie in ihrer höchsten Bedeutung erfasst werden, zugleich als Verrichtungen des Urwesens des Geistes der Welt.

In wahrhaft dithyrambischen Sätzen schildert Schelling das Gefühl, das in der Seele auflebt, wenn sie gewahr wird, dass ihr Leben nicht bloß ein individuelles, auf einen Punkt des Universums beschränktes ist, sondern dass ihr Tun ein geistig-allgemeines ist. Wenn sie sagt: ich weiß, ich erkenne so heißt das in höherem Sinne: der Weltgeist erinnert sich an sein Tun vor dem Dasein der Dinge; und wenn sie ein Kunstwerk hervorbringt, so heißt das: der Weltgeist wiederholt im kleinen dasselbe, was er bei der Schöpfung des Naturganzen im großen vollbracht hat. «Die Seele ist also im Menschen nicht das Prinzip der Individualität, sondern das, wodurch er sich über alle Selbstheit erhebt, wodurch er der Aufopferung seiner selbst, uneigennütziger Liebe, und, was das Höchste ist, der Betrachtung und Erkenntnis des Wesens der Dinge, eben damit der Kunst fähig wird. Sie ist nicht mehr mit der Materie beschäftigt, noch verkehrt sie unmittelbar mit ihr, sondern nur mit dem Geist, als dem Leben der Dinge. Auch im Körper erscheinend, ist sie dennoch frei von dem Körper, dessen Bewusstsein in ihr, in den schönsten Bildungen, nur wie ein leichter Traum schwebt, von dem sie nicht gestört wird. Sie ist keine Eigenschaft, kein Vermögen, oder irgend etwas der Art insbesondere; sie weiß nicht, sondern sie ist die Wissenschaft, sie ist nicht gut, sondern sie ist die Güte, sie ist nicht schön, wie es auch der Körper sein kann, sondern sie ist die Schönheit selber.» (Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur.)

Eine solche Vorstellungsart klingt an die deutsche Mystik an, die einen Repräsentanten in Jacob Böhme (1557 bis 1624) hatte. Schelling genoss in München, wo er 1806 bis 1841 mit kurzen Unterbrechungen war, den anregenden den Umgang mit Franz Xaver Baader, dessen philosophische Ideen sich ganz in der Richtung jener älteren Lehre bewegten. Dies ist die Veranlassung, dass er sich selbst in diese Gedankenwelt einlebte, die ganz auf dem Gesichtspunkte stand, auf dem er selbst mit seinem Denken angelangt war.

Wenn man die oben angeführten Aussprüche aus der Rede «Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur» liest, die er 1807 in der Königlichen Akademie der Wissenschaften in München gehalten hat, so wird man erinnert an Jacob Böhmes Anschauung: «Wenn du die Tiefe und die Sterne und die Erde ansiehest, so siehest du deinen Gott, und in demselben lebest und bist du auch, und derselbe Gott regiert dich auch ... du bist aus diesem Gott geschaffen und lebst in demselben; auch stehet alle deine Wissenschaft in diesem Gott und wenn du stirbest, so wirst du in diesem Gott begraben.»

Mit seinem fortschreitenden Denken wurde für Schelling die Weltbetrachtung zur Gottesbetrachtung oder Theosophie. Vollständig stand er schon auf dem Boden einer solchen Gottesbetrachtung, als er 1809 seine «Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände» herausgab. Alle Weltanschauungsfragen rückten sich ihm jetzt in ein neues Licht. Wenn alle Dinge göttlich sind: wie kommt es, dass es Böses in der Welt gibt, da Gott doch nur die vollkommene Güte sein kann? Wenn die Seele des Menschen in Gott ist: wie kommt es, dass sie doch ihre selbstsüchtigen Interessen verfolgt? Und wenn Gott es ist, der in mir handelt: wie kann ich, der ich also gar nicht als selbständiges Wesen handle, dennoch frei genannt werden? Durch Gottbetrachtung, nicht mehr durch Weltbetrachtung, suchte Schelling diese Fragen zu beantworten. Es wäre Gott vollkommen unangemessen, wenn er eine Welt von Wesen schaffen würde, die er als unselbständige fortwährend leiten und lenken müsste. Vollkommen ist Gott nur, wenn er eine Welt schaffen kann, die ihm selbst an Vollkommenheit ganz gleich ist. Ein Gott, der nur solches hervorbringen kann, das unvollkommener als er selbst ist, der ist selbst unvollkommen. Gott hat daher in den Menschen Wesen geschaffen, die nicht seiner Führung bedürfen, sondern die selbst frei sind und unabhängig wie er.

Ein Wesen, das aus einem anderen seinen Ursprung hat, braucht deshalb nicht von diesem auch abhängig zu sein. Denn es ist kein Widerspruch, dass der, welcher der Sohn eines Menschen ist, selbst Mensch ist.

Wie das Auge, das nur im Ganzen des Organismus möglich ist, nichtsdestoweniger ein unabhängiges Eigenleben für sich hat, so auch die Einzelseele, die zwar in Gott begriffen, aber deshalb doch nicht durch ihn wirksam ist gleich dem Glied an einer Maschine. «Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen. Es ist nicht einzusehen, wie das allervollkommenste Wesen auch an der möglichst vollkommenen Maschine seine Lust fände. Wie man auch die Art der Folge der Wesen aus Gott sich denken möge, nie kann sie eine mechanische sein, kein bloßes Bewirken oder Hinstellen, wobei das Bewirkte nichts für sich selbst ist; ebensowenig Emanation, wobei das Ausfließende dasselbe bliebe mit dem, wovon es ausgeflossen, also nichts Eigenes, Selbständiges. Die Folge der Dinge aus Gott ist eine Selbstoffenbarung Gottes. Gott aber kann nur sich offenbar werden in dem, was ihm ähnlich ist, in freien, aus sich selbst handelnden Wesen; für deren Sein es keinen Grund gibt als Gott, die aber sind, so wie Gott ist.»

Wäre Gott ein Gott des Toten und alle Welterscheinungen nur ein Mechanismus, dessen Vorgänge auf ihn als ihren Beweger und Urgrund zurückzuführen wären, so brauchte man nur die Tätigkeit Gottes zu beschreiben, und man hätte alles innerhalb der Welt begriffen. Man könnte aus Gott heraus alle Dinge und ihre Tätigkeit verstehen. Das ist aber nicht der Fall. Die göttliche Welt hat Selbständigkeit. Gott hat sie geschaffen, aber sie hat ihr eigenes Wesen. So ist sie göttlich; aber das Göttliche erscheint innerhalb einer Wesenheit, die von Gott unabhängig ist, innerhalb eines Nichtgöttlichen. So wie das Licht aus der Dunkelheit heraus geboren ist, so die göttliche Welt aus dem ungöttlichen Dasein. Und aus dem Ungöttlichen stammt das Böse, stammt das Selbstsüchtige. Gott hat also die Gesamtheit der Wesen nicht in seiner Gewalt; er kann ihnen das Licht geben; sie selbst aber tauchen aus der dunklen Nacht empor. Sie sind die Söhne dieser Nacht. Und was an ihnen Dunkelheit ist, über das hat Gott keine Macht. Sie müssen sich durch Nacht zum Licht emporarbeiten. Das ist ihre Freiheit. Man kann auch sagen, die Welt ist Gottes Schöpfung aus dem Ungöttlichen heraus. Das Ungöttliche ist also das Erste und das Göttliche erst das Zweite.

Zuerst hat Schelling die Ideen in allen Dingen gesucht, also ihr Göttliches. Dadurch hat sich für ihn die ganze Welt in eine Offenbarung Gottes verwandelt. Er musste dann aber vom Göttlichen zum Ungöttlichen vorschreiten, um das Unvollkommene, das Böse, das Selbstsüchtige zu begreifen. Jetzt wurde der ganze Werdeprozess der Welt für ihn eine fortschreitende Überwindung des Ungöttlichen durch das Göttliche. Der einzelne Mensch nimmt aus Ungöttlichem seinen Ursprung. Er arbeitet sich aus diesem heraus zur Göttlichkeit durch. Auch im Verlauf der Geschichte können wir den Fortgang vom Ungöttlichen zum Göttlichen beobachten. Das Ungöttliche war ursprünglich das Herrschende in der Welt.

Im Altertum überließen sich die Menschen ihrer Natur. Sie handelten naiv aus Selbstsucht. Die griechische Kultur steht auf diesem Boden. Es war das Zeitalter, da der Mensch im Bunde mit der Natur lebte, oder, wie Schiller in dem Aufsatz «Über naive und sentimentalische Dichtung» sich ausdrückte, Natur selbst war, sie deshalb noch nicht suchte. Mit dem Christentum verschwindet dieser Unschuldszustand der Menschheit. Die bloße Natur wird als das Ungöttliche angesehen, das Böse wird dem Göttlichen, dem Guten entgegengesetzt. Christus erscheint, um das Licht des Göttlichen innerhalb der Nacht des Ungöttlichen erscheinen zu lassen. Dies ist der Moment, wo «die Erde zum zweiten Male wüst und leer wird», derjenige «der Geburt des höheren Lichts des Geistes», das «von Anbeginn in der Welt war, aber unbegriffen von der für sich wirkenden Finsternis; und in annoch verschlossener und eingeschränkter Offenbarung; und zwar erscheint es, um dem persönlichen und geistigen Bösen entgegenzutreten, ebenfalls in persönlicher, menschlicher Gestalt, und als Mittler, um den Rapport der Schöpfung mit Gott auf der höchsten Stufe wieder herzustellen. Denn nur Persönliches kann Persönliches heilen, und Gott muss Mensch werden, damit der Mensch wieder zu Gott komme.»

Der Spinozismus ist eine Weltanschauung, die in Gott den Grund alles Weltgeschehens sucht, und aus diesem Grunde alle Vorgänge nach ewigen, notwendigen Gesetzen ableitet, wie die mathematischen Wahrheiten aus den Grundsätzen abgeleitet werden. Eine solche Weltanschauung genügte Schelling nicht.

Wie Spinoza glaubte auch er daran, dass alle Wesen in Gott seien; aber sie sind, nach seiner Meinung, nicht durch Gott allein bestimmt, sondern es ist das Ungöttliche in ihnen. Er wirft Spinoza die «Leblosigkeit seines Systems, die Gemütlosigkeit der Form vor, die Dürftigkeit der Begriffe und Ausdrücke, das unerbittlich Herbe der Bestimmungen, das sich mit der abstrakten Betrachtungsweise vortrefflich verträgt». Schelling findet daher Spinozas «mechanische Naturansicht» ganz folgerichtig. Aber die Natur zeige keineswegs diese Folgerichtigkeit. «Die ganze Natur sagt uns, dass sie keineswegs vermöge einer bloß geometrischen Notwendigkeit da ist, es ist nicht lautere, reine Vernunft in ihr, sondern Persönlichkeit und Geist, sonst hätte der geometrische Verstand, der so lange geherrscht hat, sie längst durchdringen und sein Idol allgemeiner und ewiger Naturgesetze mehr bewahrheiten müssen, als es bis jetzt geschehen ist, da er vielmehr das irrationale Verhältnis der Natur zu sich täglich mehr erkennen muss. Wie der Mensch nicht bloß Verstand und Vernunft ist, sondern noch andere Vermögen und Kräfte in sich vereinigt, so soll, im Sinne Schellings, dies auch bei dem göttlichen Urwesen der Fall sein.

Ein Gott, der lautere, reine Vernunft ist, erscheint wie personifizierte Mathematik; ein Gott dagegen, der bei seinem Weltschaffen nicht nach der reinen Vernunft verfahren kann, sondern fortwährend mit dem Ungöttlichen zu kämpfen hat, kann als «ein ganz persönliches, lebendiges Wesen angesehen werden». Sein Leben hat die größte Analogie mit dem menschlichen. Wie der Mensch das Unvollkommene in sich zu überwinden sucht und einem Ideal der Vollkommenheit nachstrebt: so wird ein solcher Gott als ein ewig kämpfender vorgestellt, dessen Tätigkeit die fortschreitende Überwindung des Ungöttlichen ist. Spinozas Gott vergleicht Schelling den «ältesten Bildern der Gottheiten, die, je weniger individuell-lebendige Züge aus ihnen sprachen, desto geheimnisvoller erschienen». Schelling gibt seinem Gotte immer individuellere Züge. Er schildert ihn wie einen Menschen, wenn er sagt: «Bedenken wir das Schreckliche in der Natur und Geisterwelt und das weit Mehrere, das eine wohlwollende Hand uns zuzudecken scheint, dann können wir nicht zweifeln, dass die Gottheit über einer Welt der Schrecken throne, und Gott nach dem, was ihn ihm und durch ihn verborgen ist, nicht im uneigentlichen, sondern im eigentlichen Sinne der Schreckliche, der Fürchterliche heißen könne.»

Einen solchen Gott konnte Schelling nicht mehr so betrachten, wie Spinoza seinen Gott betrachtet hat. Ein Gott, der alles aus sich heraus nach Vernunftgesetzen bestimmt, kann auch mit der Vernunft durchschaut werden. Ein persönlicher Gott, wie ihn Schelling in seiner späteren Zeit vorstellte, ist unberechenbar. Denn er handelt nicht nach der Vernunft allein. Bei einem Rechenexempel können wir das Ergebnis durch bloßes Denken vorausbestimmen; bei dem handelnden Menschen nicht. Bei ihm müssen wir abwarten, zu welcher Handlung er sich in einem gegebenen Augenblicke entschließen wird. Die Erfahrung muss zu dem Vernunftwissen hinzutreten. Die reine Vernunftwissenschaft genügte daher Schelling nicht zur Welt- oder Gottesanschauung. Alles aus der Vernunft Gewonnene nennt er daher in der späteren Gestalt seiner Weltanschauung ein negatives Wissen, das durch ein positives ergänzt werden muss. Wer den lebendigen Gott erkennen will, darf sich nicht bloß den notwendigen Vernunftschlüssen überlassen; er muss sich mit seiner ganzen Persönlichkeit versenken in das Leben Gottes. Dann wird er erfahren, was ihm keine Schlüsse, keine reine Vernunft geben können. Die Welt ist nicht eine notwendige Wirkung der göttlichen Ursache, sondern eine freie Tat des persönlichen Gottes.

Was Schelling nicht durch vernünftige Betrachtung erkannt, sondern als freie, unberechenbare Taten Gottes erschaut zu haben glaubte, das hat er in seiner «Philosophie der Offenbarung» und seiner «Philosophie der Mythologie» dargelegt. Beide Werke hat er nicht mehr selbst veröffentlicht, sondern ihren Inhalt nur den Vorlesungen zugrunde gelegt, die er an der Universität zu Berlin gehalten hat, nachdem ihn Friedrich Wilhelm IV. in die preußische Hauptstadt berufen hatte. Sie sind erst nach Schellings Tode (1854) veröffentlicht worden.

Mit solchen Anschauungen hat Schelling sich als der kühnste und mutigste derjenigen Philosophen erwiesen, die sich von Kant zu einer idealistischen Weltanschauung haben anregen lassen.

Das Philosophieren über Dinge, die jenseits dessen liegen, was die menschlichen Sinne beobachten, und was das Denken über die Beobachtungen aussagt, hat man, unter dem Einflusse dieser Anregung, aufgegeben. Man suchte sich mit dem zu bescheiden, was innerhalb der Beobachtung und des Denkens liegt.

Während aber Kant aus der Notwendigkeit solchen Bescheidens geschlossen hat, man könne über jenseitige Dinge nichts wissen, erklärten die Nachkantianer: da Beobachtung und Denken auf kein jenseitiges Göttliches hindeuten, sind sie selbst das Göttliche. Und von denen, die solches erklärten, war Schelling der energischste. Fichte hat alles in die Ichheit hereingenommen; Schelling hat die Ichheit über alles ausgebreitet. Er wollte nicht wie jener zeigen, dass die Ichheit alles, sondern umgekehrt, dass alles Ichheit sei. Und Schelling hatte den Mut, nicht nur den Ideengehalt des Ich für göttlich zu erklären, sondern die ganze menschliche Geistpersönlichkeit. Er machte nicht nur die menschliche Vernunft zu einer göttlichen, sondern den menschlichen Lebensinhalt zu der göttlichen persönlichen Wesenheit.

Man nennt eine Welterklärung Anthropomorphismus, die vom Menschen ausgeht und sich vorstellt, dass dem Weltenlauf im ganzen eine Wesenheit zugrunde liegt, die ihn so lenkt, wie der Mensch seine eigenen Handlungen lenkt. Auch derjenige erklärt die Welt anthropomorphisch, der den Ereignissen eine allgemeine Weltvernunft zugrunde legt. Denn diese allgemeine Weltvernunft ist nichts anderes als die menschliche Vernunft, die zur allgemeinen gemacht wird. Wenn Goethe sagt: «Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist», so denkt er daran, dass in den einfachsten Aussprüchen, die wir über die Natur tun, versteckte Anthropomorphismen enthalten sind. Wenn wir sagen, ein Körper rollt weiter, weil ihn ein anderer gestoßen hat, so bilden wir eine solche Vorstellung von unserem Ich aus. Wir stoßen einen Körper und er rollt weiter. Wenn wir nun sehen, dass eine Kugel sich gegen eine andere bewegt, und diese dann weiterrollt, so stellen wir uns vor, die erste habe die zweite gestoßen, analog der stoßenden Wirkung, die wir selbst ausüben. Ernst Haeckel findet, das anthropomorphische Dogma «vergleicht die Weltschöpfung und Weltregierung Gottes mit den Kunstschöpfungen eines sinnreichen Technikers oder Maschineningenieurs und mit der Staatsregierung eines weisen Herrschers. Gott der Herr als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt wird dabei in seinem Denken und Handeln durchaus menschenähnlich vorgestellt.»

Schelling hat den Mut zu dem konsequentesten Anthropomorphismus gehabt. Er erklärte zuletzt den Menschen mit seinem ganzen Lebensinhalt als Gottheit. Und da zu diesem Lebensinhalt nicht allein das Vernünftige gehört, sondern auch das Unvernünftige, so hatte er die Möglichkeit, auch das Unvernünftige innerhalb der Welt zu erklären. Er musste zu diesem Ende allerdings die Vernunftansicht durch eine andere ergänzen, die ihre Quelle nicht im Denken hat. Diese nach seiner Meinung höhere Ansicht nannte er «positive Philosophie». Sie «ist die eigentliche freie Philosophie; wer sie nicht will, mag sie lassen, ich stelle es jedem frei, ich sage nur, dass, wenn einer zum Beispiel den wirklichen Hergang, wenn er eine freie Weltschöpfung usw. will, er dieses alles nur auf dem Wege einer solchen Philosophie haben kann. Ist ihm die rationale Philosophie genug, und verlangt er außer dieser nichts, so mag er bei dieser bleiben, nur muss er aufgeben, mit der rationalen Philosophie und in ihr haben zu wollen, was diese in sich schlechterdings nicht haben kann, nämlich den wirklichen Gott und den wirklichen Hergang und ein freies Verhältnis Gottes zur Welt.» Die negative Philosophie wird «vorzugsweise die Philosophie für die Schule bleiben, die positive die für das Leben. Durch beide zusammen wird erst die vollständige Weihe gegeben sein, die man von der Philosophie zu verlangen hat.

Bekanntlich wurden bei den eleusinischen Weihen die kleinen und die großen Mysterien unterschieden, die kleinen galten als eine Vorstufe der großen. ... Die positive Philosophie ist die notwendige Folge der rechtverstandenen negativen, und so kann man wohl sagen: in der negativen Philosophie werden die kleinen, in der positiven die großen Mysterien der Philosophie gefeiert.» Wird das Innenleben als das Göttliche erklärt, dann erscheint es inkonsequent, bei einem Teil dieses Innenlebens stehen zu bleiben.

Schelling hat diese Inkonsequenz nicht begangen. In dem Augenblicke, in dem er sagte: die Natur erklären heiße die Natur schaffen, hat er seiner ganzen Lebensanschauung die Richtung gegeben. Ist das denkende Betrachten der Natur eine Wiederholung ihres Schaffens, so muss auch der Grundcharakter dieses Schaffens dem des menschlichen Tuns entsprechen: er muss ein Akt der Freiheit, nicht ein solcher geometrischer Notwendigkeit sein. Ein freies Schaffen können wir aber auch nicht durch Gesetze der Vernunft erkennen; es muss sich durch ein anderes Mittel offenbaren.

*

Die menschliche Einzelpersönlichkeit lebt in dem geistigen Urwesen und durch dieses; dennoch ist sie im Besitze ihrer vollen Freiheit und Selbständigkeit. Diese Vorstellung betrachtete Schelling als eine der wichtigsten innerhalb seiner Weltanschauung. Wegen dieser Vorstellung glaubte er in seiner idealistischen Ideenrichtung einen Fortschritt gegenüber früheren Anschauungen erblicken zu dürfen; weil diese dadurch, dass sie das Einzelwesen im Weltengeiste gegründet sein ließen, es auch ganz allein durch diesen bestimmt dachten, ihm also Freiheit und Selbständigkeit raubten.

«Denn bis zur Entdeckung des Idealismus fehlt der eigentliche Begriff der Freiheit in allen neueren Systemen, im Leibnizischen so gut wie im Spinozischen; und eine Freiheit, wie sie viele unter uns gedacht haben, die sich noch dazu des lebendigsten Gefühls derselben rühmen, wonach sie nämlich in der bloßen Herrschaft des intelligenten Prinzips über das sinnliche und die Begierden besteht, eine solche Freiheit ließe sich nicht zur Not, sondern ganz leicht und sogar bestimmter auch aus dem Spinoza noch herleiten.»

Ein Mann, der nur an eine solche Freiheit dachte, und der mit Hilfe von Gedanken, die dem Spinozismus entlehnt waren, die Versöhnung des religiösen Bewusstseins mit der denkenden Weltbetrachtung, der Theologie mit der Philosophie, herbeizuführen suchte, war Schellings Zeitgenosse Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834). Er hat in seinen «Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern» (1799) den Satz ausgesprochen: «Opfert mit mir ehrerbietig den Manen des heiligen, verflossenen Spinoza! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und sein Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe; in heiliger Unschuld und tiefer Demut spiegelte er sich in der ewigen Welt und sah zu, wie auch er ihr liebenswürdigster Spiegel war.» Freiheit ist für Schleiermacher nicht die Fähigkeit eines Wesens, sich Richtung und Ziel seines Lebens selbst, in völliger Unabhängigkeit, vorzusetzen. Sie ist ihm nur «Aussichselbstentwicklung». Aber ein Wesen kann sich sehr wohl aus sich selbst entwickeln, und es kann doch unfrei in einem höheren Sinne sein. Wenn das Urwesen der Welt in die einzelne Individualität einen ganz bestimmten Keim gelegt hat, den diese zur Entwicklung bringt, dann ist ihr der Weg ganz genau vorgezeichnet, den sie zu gehen hat; und dennoch entwickelt sie sich nur aus sich selbst.

Eine solche Freiheit, wie sie Schleiermacher denkt, ist also in einer notwendigen Weltordnung, in der alles mit mathematischer Notwendigkeit sich abspielt, ganz gut denkbar. Deshalb kann er auch sagen: «Freiheit geht daher so weit als das Leben. ... Auch die Pflanze hat ihre Freiheit.» Weil Schleiermacher die Freiheit nur in diesem Sinne kannte, deshalb konnte er auch den Ursprung der Religion in dem unfreiesten Gefühl suchen, in dem der «schlechthinigen Abhängigkeit». Der Mensch fühlt, dass er sein Dasein auf ein anderes Wesen, auf Gott, beziehen muss. In diesem Gefühle wurzelt sein religiöses Bewusstsein. Ein Gefühl als solches ist immer etwas, das sich an ein anderes knüpfen muss. Es hat nur ein Dasein aus zweiter Hand. Der Gedanke, die Idee haben eine solch selbständige Existenz, dass Schelling von ihnen sagen kann: «So werden die Gedanken wohl von der Seele erzeugt; aber der erzeugte Gedanke ist eine unabhängige Macht, für sich fortwirkend, ja in der menschlichen Seele so anwachsend, dass er seine eigene Mutter bezwingt und sich unterwirft.»

Wer daher das göttliche Urwesen in Gedanken zu erfassen sucht, der nimmt es in sich auf, und hat es als selbständige Macht in sich. An diese selbständige Macht kann sich dann ein Gefühl anschließen, wie sich an die Vorstellung eines schönen Kunstwerkes ein Gefühl der Befriedigung anschließt. Schleiermacher will sich aber nicht des Gegenstandes der Religion bemächtigen, sondern nur des religiösen Gefühles. Er lässt den Gegenstand, Gott, selbst völlig unbestimmt. Der Mensch fühlt sich abhängig; aber er kennt das Wesen nicht, von dem er abhängig ist.

Alle Begriffe, die wir uns von der Gottheit bilden, entsprechen dem hohen Wesen derselben nicht. Deshalb vermeidet es Schleiermacher auch, auf irgendwelche bestimmte Begriffe über die Gottheit einzugehen. Die unbestimmteste, leerste Vorstellung ist ihm die liebste. «Es war Religion, wenn die Alten jede eigentümliche Art des Lebens durch die ganze Welt hin als das Werk einer Gottheit ansahen; sie hatten die eigentümliche Handlungsweise des Universums als ein bestimmtes Gefühl aufgenommen und bezeichneten sie so.»

Deshalb zeigen die feinsinnigen Worte, die Schleiermacher über das Wesen der Unsterblichkeit gesagt hat, dennoch etwas ganz Unbestimmtes: «Das Ziel und der Charakter eines religiösen Lebens ist nicht jene Unsterblichkeit außer der Zeit und hinter der Zeit, oder vielmehr nur nach dieser Zeit, aber doch in der Zeit, sondern die Unsterblichkeit, die wir schon in diesem zeitlichen Leben unmittelbar haben können, und die eine Aufgabe ist, in deren Lösung wir immerfort begriffen sind. Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in jedem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion.»

Hätte Schelling das gesagt, so könnte man damit eine bestimmte Vorstellung verknüpfen. Es hieße dann, der Mensch erzeugt in sich den Gedanken Gottes. Dies ist nichts anderes als ein Erinnern Gottes selbst an sein eigenes Wesen. Das Unendliche lebt also im Gottesgedanken des Einzelwesens auf. Es ist in dem Endlichen gegenwärtig. Dieses nimmt daher selbst an der Unendlichkeit teil. Da es aber Schleiermacher ohne die Schellingschen Grundlagen sagt, bleibt es völlig im Nebelhaften stecken. Es drückt das bloße dunkle Gefühl aus, dass der Mensch von einem Unendlichen abhängig sei. Es ist die Theologie in Schleiermacher, die ihn hindert, zu bestimmten Vorstellungen über das Urwesen der Welt fortzuschreiten. Er möchte die Religiosität, die Frömmigkeit auf eine höhere Stufe heben. Denn er ist eine Persönlichkeit von seltener Gemütstiefe. Das religiöse Gefühl soll ein würdiges sein. Alles, was er über dieses Gefühl sagt, ist von vornehmer Art. Er hat die über alle Schranken des Herkommens und der gesellschaftlichen Begriffe hinausgreifende, rein aus der eigenen Willkür geborene Moral verteidigt, die in Schlegels «Lucinde» herrscht; er durfte es, denn er war überzeugt, dass der Mensch fromm sein kann, auch wenn er im Sittlichen das Gewagteste vollbringt. «Es gibt keine gesunde Empfindung, die nicht fromm wäre», durfte er sagen. Er hat die Frömmigkeit verstanden.

Was Goethe in seinem späteren Alter in dem Gedicht «Trilogie der Leidenschaft» ausspricht: «In unseres Busens Reine wogt ein Streben, sich einem Höhern, Reinen, Unbekannten aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben, enträtselnd sich den ewig Ungenannten; wir heißen's: fromm sein: dieses Gefühl kannte Schleiermacher. Deshalb wusste er das religiöse Leben zu schildern. Den Gegenstand der Hingabe wollte er nicht erkennen. Ihn mag jede Art von Theologie auf ihre Weise bestimmen. Ein Reich der Frömmigkeit wollte Schleiermacher schaffen, das von dem Wissen über die Gottheit unabhängig ist. In diesem Sinne ist er ein Versöhner des Glaubens mit dem Wissen.

*

«In der neuesten Zeit hat die Religion immer mehr die gebildete Ausdehnung ihres Inhalts zusammengezogen und sich in das Intensive der Frömmigkeit oder auch des Gefühls, und oft einen sehr dürftigen und kalten Gehalt manifestierenden Gefühls zurückgezogen.» So schrieb Hegel in dem Vorwort zur zweiten Ausgabe seiner «Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften» (1827); und er fuhr fort: «So lange sie noch ein Credo, eine Lehre, eine Dogmatik hat, so hat sie das, mit dem die Philosophie sich beschäftigen und in dem sie als solche sich mit der Religion vereinigen kann. Dies ist jedoch wieder nicht nach dem trennenden schlechten Verstande zu nehmen, in dem die moderne Religiosität befangen ist, und nach welchem sie beide so vorstellt, dass die eine die andere ausschließen, oder überhaupt so trennbar seien, dass sie sich dann nur von außen her verbinden. Vielmehr liegt auch in dem Bisherigen, dass die Religion wohl ohne Philosophie, aber die Philosophie nicht ohne Religion sein kann, sondern diese vielmehr in sich schließt. Die wahrhafte Religion, die Religion des Geistes, muss ein solches Credo, einen Inhalt, haben; denn der Geist ist wesentlich Bewusstsein, somit von dem gegenständlich gemachten Inhalt; als Gefühl ist er der ungegenständliche Inhalt selbst... und nur die niedrigste Stufe des Bewusstseins, ja in der mit dem Tiere gemeinschaftlichen Form der Seele. Das Denken macht die Seele, womit auch das Tier begabt ist, erst zum Geiste; und Die Philosophie ist nur ein Bewusstsein über jenen Inhalt, den Geist und seine Wahrheit, auch in der Gestalt und Weise jener seiner, ihn vom Tiere unterscheidenden und der Religion fähig machenden Wesenheit.

Die ganze geistige Physiognomie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770-1831) stellt sich vor unseren Geist hin, wenn wir solche Worte von ihm vernehmen, durch die er klar und scharf ausdrücken wollte, dass er im Denken, das sich seiner selbst bewusst ist, die höchste Tätigkeit des Menschen sieht, diejenige, durch die dieser allein eine Stellung zu den obersten Fragen gewinnen kann. Das von Schleiermacher für den Schöpfer der Frömmigkeit angesehene Gefühl der Abhängigkeit erklärte Hegel für das echt tierische; und er äußerte paradox: Wenn dieses Abhängigkeitsgefühl das Wesen des Christentums ausmachen sollte, so wäre der Hund der beste Christ.

Hegel ist eine Persönlichkeit, die ganz im Elemente des Denkens lebt. «Weil der ,Mensch denkend ist, wird es ebensowenig der gesunde Menschenverstand als die Philosophie sich je nehmen lassen, von und aus der empirischen Weltanschauung sich zu Gott zu erheben. Dieses Erheben hat nichts anderes zu seiner Grundlage, als die denkende, nicht bloß sinnliche, tierische Betrachtung der Welt.» Was sich durch selbstbewusstes Denken gewinnen lässt, das macht Hegel zum Inhalt der Weltanschauung. Denn was der Mensch auf einem anderen Wege als durch dieses selbstbewusste Denken gewinnt, das kann nichts anderes als eine Vorstufe zu einer Weltanschauung sein. «Das Erheben des Denkens über das Sinnliche, das Hinausgehen desselben über das Endliche zum Unendlichen, der Sprung, der mit Abbrechung der Reihen des Sinnlichen ins Übersinnliche gemacht wird, alles dieses ist das Denken selbst, dies Übergehen ist nur Denken. Wenn solcher Übergang nicht gemacht werden soll, so heißt dies, es soll nicht gedacht werden. In der Tat machen die Tiere solchen Sprung nicht; sie bleiben bei der sinnlichen Empfindung und Anschauung stehen; sie haben deswegen keine Religion.»

Was der Mensch durch das Denken den Dingen entlocken kann, ist also das Höchste, was in diesen für ihn da ist. Dieses kann er daher nur ihr Wesen nennen. Der Gedanke ist also für Hegel das Wesen der Dinge. Alles sinnliche Vorstellen, alles wissenschaftliche Beobachten der Welt und ihrer Vorgänge kommt zuletzt darauf hinaus, dass sich der Mensch Gedanken über den Zusammenhang der Dinge macht. Hegels Arbeit setzt nun da ein, wo sinnliches Vorstellen, wissenschaftliches Beobachten an sein Ziel gelangt ist beim Gedanken, wie er im Selbstbewusstsein lebt. Der wissenschaftliche Beobachter betrachtet die Natur; Hegel betrachtet dasjenige, was der wissenschaftliche Beobachter über die Natur aussagt. Der erstere sucht durch sein wissenschaftliches Verfahren die Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen auf eine Einheit zurückzuführen; er erklärt den einen Vorgang aus dem anderen; er strebt nach Ordnung, nach organischer Übersicht über das Ganze, das sich seinen Sinnen als eine ungeordnete Vielheit darbietet.

Hegel sucht in den Resultaten des Naturforschers Ordnung und harmonische Übersicht. Er fügt zu der Wissenschaft der Natur die Wissenschaft der Gedanken über die Natur hinzu. Alle Gedanken, die man sich über die Welt macht, bilden naturgemäß ein einheitliches Ganzes, wie die Natur auch ein einheitliches Ganzes ist. Der wissenschaftliche Beobachter gewinnt seine Gedanken an den einzelnen Dingen; deshalb treten sie zunächst auch in seinem Geiste als einzelne auf, einer neben dem andern. Betrachten wir sie so nebeneinander, so schließen sie sich zu einem Ganzen zusammen, innerhalb dessen jeder einzelne ein Glied ist.

Dieses Ganze der Gedanken will die Philosophie Hegels sein. So wenig der Naturforscher, der die Gesetze des Sternenhimmels feststellen will, glaubt, dass er aus diesen Gesetzen heraus den Sternenhimmel aufbauen kann, so wenig glaubt Hegel, der die gesetzmäßigen Zusammenhänge innerhalb der Gedankenwelt sucht, dass er aus den Gedanken heraus irgendwelche naturwissenschaftlichen Gesetze finden könne, die nur durch erfahrungsgemäßes Beobachten festgestellt werden können.

Was immer wieder behauptet wird, Hegel habe aus dem reinen Denken die volle und unbeschränkte Erkenntnis des Weltganzen schöpfen wollen, beruht auf nichts weiter als auf einem naiven Missverständnis seiner Anschauung. Er hat doch deutlich genug gesagt: «Das, was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie; denn was vernünftig ist, das ist wirklich, was wirklich ist, das ist vernünftig. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden ...; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug. Das heißt doch wohl nichts anderes, als dass die tatsächlichen Erkenntnisse schon da sein müssen, wenn der Denker kommt, und sie von seinem Gesichtspunkte aus beleuchtet. Man verlange nur nicht von Hegel, dass er neue Naturgesetze aus dem reinen Denken hätte ableiten sollen; denn das wollte er durchaus nicht. Nein, er wollte nichts anderes, als über die Summe der Naturgesetze, die zu seiner Zeit vorhanden waren, ein philosophisches Licht werfen.

Von dem Naturforscher verlangt niemand, dass er den Sternenhimmel schaffe, obgleich er über ihn seine Forschungen anstellt; Hegels Ansichten werden für unfruchtbar erklärt, weil er, der über den Zusammenhang der Naturgesetze nachgedacht hat, nicht zugleich diese Naturgesetze geschaffen hat.

Wozu der Mensch zuletzt kommt, indem er sich in die Dinge vertieft, das ist ihr Wesen. Es liegt ihnen zugrunde. Das, was der Mensch als seine höchsten Erkenntnisse aufnimmt, ist zugleich das tiefste Wesen der Dinge. Der im Menschen lebende Gedanke ist also auch der objektive Gehalt der Welt. Man kann sagen: Der Gedanke ist zuerst in der Welt auf eine unbewusste Weise; dann wird er von dem menschlichen Geiste aufgenommen, er erscheint sich selbst in dem menschlichen Geiste. So wie der Mensch, wenn er den Blick in die Natur richtet, zuletzt den Gedanken findet, der ihm deren Erscheinungen begreiflich macht, so findet er, wenn er Einkehr hält in sich selbst, auch hier zuletzt den Gedanken. Wie das Wesen der Natur die Gedanken sind, so ist auch des Menschen eigenes Wesen Gedanke. Im menschlichen Selbstbewusstsein schaut sich also der Gedanke selbst an. Die Wesenheit der Welt kommt zu sich selbst. In den anderen Naturgeschöpfen arbeitet der Gedanke; seine Wirksamkeit ist nicht auf sich selbst, sondern auf anderes gerichtet. Die Natur enthält daher den Gedanken; aber im denkenden Menschen ist der Gedanke nicht nur enthalten, er wirkt nicht nur, sondern er ist auf sich selbst gerichtet.

In der äußeren Natur lebt sich der Gedanke zwar auch aus, aber er fließt da in ein anderes aus; im Menschen lebt er in sich selbst. So erscheint für Hegel der ganze Weltprozess als ein Gedankenprozess.

Und alle Vorgänge dieses Prozesses stellen sich dar als Vorstufen zu dem höchsten Ereignisse, das es gibt: zu dem denkenden Erfassen des Gedankens selbst. Dieses Ereignis spielt sich im menschlichen Selbstbewusstsein ab. Der Gedanke arbeitet sich also fortschreitend hindurch bis zu seiner höchsten Erscheinungsform, in der er sich selbst begreift.

Wenn man somit irgendein Ding der Wirklichkeit, einen Vorgang anblickt, so wird man immer eine bestimmte Entwicklungsform des Gedankens in diesem Dinge oder Vorgange sehen. Der Weltprozess ist fortschreitende Gedankenentwicklung. Außer der höchsten Stufe dieser Entwicklung enthalten alle anderen Stadien einen Widerspruch. Es ist Gedanke in ihnen, aber dieser hat mehr in sich, als er in einem solchen niedrigen Stadium ausgibt. Er überwindet daher diese seine widerspruchsvolle Erscheinungform und eilt zu einer höheren, die ihm mehr entspricht. Es ist also der Widerspruch, der die Gedankenentwicklung vorwärtstreibt. Wenn der Naturbeobachter die Dinge denkend beobachtet, so bildet er sich daher in sich widerspruchsvolle Begriffe von denselben. Wenn dann der philosophische Denker diese aus der Naturbeobachtung gewonnenen Gedanken aufgreift, so findet er in ihnen widerspruchsvolle ideelle Gebilde. Aber dieser Widerspruch ist es gerade, der es ihm möglich macht, aus den einzelnen Gedanken ein ganzes Gedankengebäude zu machen. Er sucht das in einem Gedanken auf, was widerspruchsvoll ist. Und es ist widerspruchsvoll, weil der Gedanke auf eine höhere Stufe seiner Entwicklung weist. Durch den in ihm enthaltenen Widerspruch deutet also jeder Gedanke auf einen anderen, auf den er im Laufe der Entwicklung zueilt. So kann der Philosoph bei dem einfachsten Gedanken beginnen, der ganz leer ist an Inhalt, bei dem abstrakten Sein. Er wird durch den in diesem Gedanken selbst liegenden Widerspruch aus ihm herausgetrieben zu einer höheren und weniger widerspruchsvollen Stufe, und dann weiter, bis er bei dem höchsten Stadium anlangt, bei dem in sich selbst lebenden Gedanken, welcher die höchste Äußerung des Geistes ist.

Durch Hegel wird der Grundcharakter des neueren Weltanschauungsstrebens ausgesprochen. Der griechische Geist kennt den Gedanken als Wahrnehmung, der neuere Geist als Selbsterzeugnis der Seele.

Die Geschöpfe des Selbstbewusstseins verfolgt Hegel betrachtend, indem er seine Weltanschauung darstellt. Er hat es zunächst also nur mit dem Selbstbewusstsein und seinen Erzeugnissen zu tun. Dann aber wird ihm die Tätigkeit dieses Selbstbewusstseins eine solche, in der sich dieses Selbstbewusstsein mit dem Weltengeiste verbunden fühlt. Der griechische Denker betrachtet die Welt, und diese Betrachtung gibt Aufschluss über das Wesen der Welt. Der neuere Denker in Hegel will sich in die schaffende Welt einleben, sich in sie versetzen; er glaubt sich selbst dann in ihr zu entdecken und lässt in sich aussprechen, was der Geist der Welt als sein Wesen ausspricht, wobei dieses Wesen des Weltgeistes lebendig in dem Selbstbewusstsein anwesend ist. Was Plato innerhalb der griechischen Welt ist, das ist Hegel innerhalb der neueren. Plato erhebt den betrachtenden Geistesblick zur Ideenwelt und lässt von diesem betrachtenden Blick das Geheimnis der Seele auffangen; Hegel lässt die Seele in den Weltgeist untertauchen und lässt sie dann, nachdem sie untergetaucht ist, ihr inneres Leben entfalten.

So lebt sie als eigenes Leben mit, was der Weltgeist lebt, in den sie untergetaucht ist.

Hegel hat also den menschlichen Geist bei seiner höchsten Tätigkeit, dem Denken, ergriffen und dann zu zeigen versucht, welchen Sinn innerhalb des Weltganzen diese höchste Tätigkeit hat. Sie stellt das Ereignis dar, in dem das in die ganze Welt ausgegossene Urwesen sich wiederfindet. Die höchsten Verrichtungen, durch die dieses Wiederfinden geschieht, sind Kunst, Religion und Philosophie. In dem Naturwerke ist der Gedanke vorhanden; aber er ist sich hier selbst entfremdet; er erscheint nicht in seiner ureigenen Gestalt. Wenn man einen wirklichen Löwen ansieht, so ist dieser ja nichts anderes als die Verkörperung des Gedankens «Löwe»; aber es handelt sich hier nicht um den Gedanken des Löwen, sondern um das körperhafte Wesen; dieses Wesen selbst geht der Gedanke nichts an. Erst wenn ich es begreifen will, suche ich den Gedanken. Ein Kunstwerk, das einen Löwen darstellt, trägt, was ich an dem wirklichen Wesen nur begreifen kann, äußerlich an sich. Das Körperhafte ist nur da, um den Gedanken an sich erscheinen zu lassen. Der Mensch erschafft Kunstwerke, damit er das, was er sonst an den Dingen nur in Gedanken erfasst, auch in äußerer Anschauung vor sich habe. Der Gedanke kann sich in Wirklichkeit, in seiner ihm eigenen Gestalt, nur im menschlichen Selbstbewusstsein erscheinen. Was in Wirklichkeit nur hier erscheint, das prägt der Mensch dem sinnlichen Stoffe ein, damit es scheinbar auch an ihm erscheine.

Als Goethe vor den Kunstwerken der Griechen stand, drängte es ihn zu dem Ausspruche: da ist Notwendigkeit, da ist Gott. In Hegels Sprache, in der Gott im Gedankengehalt der Welt sich ausspricht und sich im menschlichen Selbstbewusstsein selbst darlebt, würde das heißen: Aus den Kunstwerken blicken dem Menschen die höchsten Offenbarungen der Welt entgegen, die ihm in Wirklichkeit nur innerhalb seines eigenen Geistes zuteil werden. Die Philosophie enthält den Gedanken in seiner ganz reinen Form, in seiner ureigensten Wesenheit. Die höchste Erscheinungsform, welche das göttliche Urwesen annehmen kann, die Gedankenwelt, ist in der Philosophie enthalten. Im Sinne Hegels kann man sagen: Göttlich, das ist gedankenerfüllt, ist die ganze Welt, aber in der Philosophie erscheint das Göttliche ganz unmittelbar in seiner Göttlichkeit, während es in anderen Erscheinungen die Gestalten des Ungöttlichen annimmt. Zwischen der Kunst und der Philosophie steht die Religion. Der Gedanke lebt in dieser noch nicht als reiner Gedanke, sondern im Bilde, im Symbol. Das ist auch bei der Kunst der Fall; aber bei ihr ist das Bild ein solches, das der äußeren Anschauung entlehnt ist; die Bilder der Religion aber sind vergeistigt.

Zu diesen höchsten Erscheinungsformen des Gedankens verhalten sich alle anderen menschlichen Lebensäußerungen wie unvollkommene Vorstufen. Aus solchen Vorstufen setzt sich das ganze geschichtliche Leben der Menschheit zusammen. Wer daher den äußeren Hergang der historischen Erscheinungen verfolgt, wird manches finden, das dem reinen Gedanken, der Gegenstand der Vernunft ist, nicht entspricht. Wer aber tiefer blickt, wird sehen, dass in der geschichtlichen Entwicklung doch der vernünftige Gedanke sich verwirklicht. Er verwirklicht sich nur auf eine Art, die in ihrer unmittelbaren Äußerlichkeit ungöttlich erscheint Man kann daher im ganzen doch sagen: «Alles Wirkliche ist vernünftig.» Und gerade darauf kommt es an, dass sich im Ganzen der Geschichte der Gedanke, der historische Weltgeist verwirkliche. Das einzelne Individuum ist nur ein Werkzeug zur Verwirklichung der Zwecke dieses Weltgeistes.

Weil Hegel in dem Gedanken das höchste Wesen der Welt erkennt, deshalb verlangt er auch von dem Individuum, dass es sich den allgemeinen, in der Weltentwicklung waltenden Gedanken unterordne. «Dies sind die großen Menschen in der Geschichte, deren eigentliche partikulare Zwecke das Substantielle enthalten, welches der Wille des Weltgeistes ist. Dieser Gehalt ist ihre wahrhafte Macht; er ist in dem allgemeinen bewusstlosen Instinkt der Menschen; sie sind innerlich dazu getrieben und haben keine weitere Haltung, dem, welcher die Ausführung solchen Zweckes in seinem Interesse übernommen hat, Widerstand zu leisten. Die Völker sammeln sich vielmehr um sein Panier; er zeigt ihnen und führt das aus, was ihr eigener immanenter Zweck ist. Werfen wir weiter einen Blick auf das Schicksal dieser welthistorischen Individuen, so haben sie das Glück gehabt, die Geschäftsführer eines Zweckes zu sein, der eine Stufe in dem Fortschreiten des allgemeinen Geistes war. Indem sich die Vernunft dieser Werkzeuge bedient, können wir es eine List derselben nennen, denn sie lässt sie mit aller Wut der Leidenschaft ihre eigenen Zwecke vollführen und erhält sich nicht nur unbeschädigt, sondern bringt sich selbst hervor. Das Partikulare ist meistens zu gering gegen das Allgemeine: die Individuen werden geopfert und preisgegeben. Die Weltgeschichte stellt sich somit als der Kampf der Individuen vor, und in dem Felde dieser Besonderheit geht es ganz natürlich zu. Wie in der tierischen Natur die Erhaltung des Lebens Zweck und Instinkt des einzelnen ist, wie aber doch hier die Vernunft, das Allgemeine, vorherrscht, und die einzelnen fallen, so geht es auch in der geistigen Welt zu. Die Leidenschaften zerstören sich gegenseitig; die Vernunft allein wacht, verfolgt ihren Zweck und macht sich, geltend.»

Der einzelne kann nur in der Betrachtung, in seinem Denken den Allgeist umfassen. Nur in der Weltbetrachtung ist Gott in ihm ganz gegenwärtig. Wo der Mensch handelt, wo er ins tätige Leben eingreift, da ist er ein Glied und kann deshalb auch nur als Glied an der allgemeinen Vernunft teilnehmen. Aus solchen Gedanken fließt auch Hegels Staatslehre. Mit seinem Denken ist der Mensch allein; mit seinen Taten ist er Glied der Gemeinschaft. Die vernünftige Ordnung der Gemeinschaft, der Gedanke, der sie durchdringt, ist der Staat. Die einzelne Individualität als solche ist für Hegel nur insoweit etwas wert, als in ihr die allgemeine Vernunft, der Gedanke erscheint. Denn der Gedanke ist das Wesen der Dinge. Ein Naturprodukt hat es nicht in seiner Macht, den Gedanken in sich in seiner höchsten Form erscheinen zu lassen; der Mensch hat diese Macht.

Er wird daher nur seine Bestimmung erreichen, wenn er sich zum Träger des Gedankens macht. Da der Staat der realisierte Gedanke ist, und der einzelne Mensch nur ein Glied innerhalb desselben, so hat der Mensch dem Staate und nicht der Staat dem Menschen zu dienen. «Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist das Interesse der einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus ebenso, dass es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu sein. Er hat aber ein ganz anderes Verhältnis zum Individuum; indem er objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist. Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen; ihre weitere besondere Befriedigung, Tätigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Substantielle und allgemein Gültige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate.»

Wie steht es mit der Freiheit innerhalb einer solchen Lebensauffassung? Den Begriff einer Freiheit, welcher der einzelnen menschlichen Persönlichkeit ein unbedingtes Recht zuerkennt, das Ziel und die Bestimmung ihrer Tätigkeit sich selbst zu setzen, lässt Hegel nicht gelten. Denn was sollte es für einen Wert haben, wenn diese einzelne Persönlichkeit ihr Ziel nicht aus der vernünftigen Gedankenwelt nähme, sondern sich nach völliger Willkür entschiede? Das wäre, nach seiner Meinung, gerade die Unfreiheit. Ein solches Individuum entspräche nicht seinem Wesen; es wäre unvollkommen. Ein vollkommenes Individuum kann nur sein Wesen verwirklichen wollen; und das Vermögen, dies zu tun, ist seine Freiheit. Dieses sein Wesen ist aber verkörpert im Staate. Handelt der Mensch im Sinne des Staates, so handelt er demnach frei. «Der Staat, an und für sich, ist das sittliche Ganze, Verwirklichung der Freiheit, und es ist absoluter Zweck der Vernunft, dass die Freiheit wirklich sei. Der Staat ist der Geist, der in der Welt steht und sich in derselben mit Bewusstsein realisiert, während er sich in der Natur nur als das andere seiner, als schlafender Geist verwirklicht ... Es ist der Gang Gottes in der Welt, dass der Staat ist; sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft.»

Hegel kommt es nirgends auf die Dinge als solche, sondern stets auf den vernünftigen, gedanklichen Inhalt derselben an. Wie er auf dem Felde der Weltbetrachtung überall die Gedanken suchte, so wollte er auch das Leben vom Gesichtspunkte des Gedankens aus geleitet wissen. Deshalb kämpfte er gegen unbestimmte Staats- und Gesellschaftsideale und warf sich zum Verteidiger des Wirklich-Bestehenden auf. Wer für ein unbestimmtes Ideal in der Zukunft schwärmt, der glaubt, nach Hegels Meinung, dass die allgemeine Vernunft auf ihn gewartet habe, um zu erscheinen.

Einem solchen müsse man besonders klarmachen, dass in allem Wirklichen schon Vernunft sei. Er nannte den Professor Fries, dessen Kollege er in Jena, dessen Nachfolger er in Heidelberg war, den «Heerführer aller Seichtigkeit», weil dieser aus dem «Brei des Herzens» heraus ein solches Zukunftsideal habe formen wollen.

Die weitgehende Verteidigung des Wirklichen und Bestehenden hat Hegel selbst von seiten derjenigen, die seiner Ideenrichtung freundlich gegenüberstanden, schwere Vorwürfe eingetragen. Ein Anhänger Hegels, Johann Eduard Erdmann, schreibt darüber: «Das entschiedene Übergewicht, welches namentlich in der Mitte der zwanziger Jahre der Hegelschen Philosophie vor allen gleichzeitigen Systemen eingeräumt war, hat seinen Grund darin, dass der momentanen Ruhe, welche den wilden Kämpfen im politischen, religiösen und kirchlich-politischen Gebiete gefolgt war, eine Philosophie entsprach, welche Feinde tadelnd, Freunde lobend ‹Restaurationsphilosophie› genannt haben. Sie ist dies in viel weiterer Ausdehnung, als die den Namen erfanden, gemeint haben.»

Man darf aber auch nicht übersehen, dass gerade durch seinen Wirklichkeitssinn Hegel eine im hohen Grade lebensfreundliche Anschauung schuf. Schelling hat mit seiner «Philosophie der Offenbarung» eine Anschauung für das Leben schaffen wollen. Allein wie fremd sind die Begriffe seiner Gottesbetrachtung dem unmittelbar-wirklichen Leben. Es kann eine solche Anschauung höchstens ihren Wert für jene Feieraugenblicke des Lebens haben, in denen der Mensch sich von der Alltäglichkeit zurückzieht und den höchsten Stimmungen hingibt; in denen er, sozusagen, keinen Weltdienst, sondern allein noch Gottesdienst verrichtet. Hegel hat dagegen den Menschen mit dem Gefühle durchdringen wollen, dass er auch in der alltäglichen Wirklichkeit dem Allgemein-Göttlichen dient. Bei ihm reicht gleichsam das Göttliche herunter bis in die kleinsten Dinge, während es sich bei Schelling in die höchsten Regionen des Daseins zurückzieht. Weil er die Wirklichkeit und das Leben liebte, deshalb suchte Hegel sie so vernünftig als möglich vorzustellen. Er wollte, dass der Mensch jeden Schritt und Tritt mit Vernunft mache. Im Grunde schätzte er die Einzelpersönlichkeit doch nicht gering. Wir sehen dies aus Aussprüchen wie diesen: «Das Reichste ist das Konkreteste und Subjektivste und das sich in die einfachste Tiefe Zurücknehmende das Mächtigste und Übergreifendste.

Die höchste, zugeschärfteste Spitze ist die reine Persönlichkeit, die allein durch die absolute Dialektik, die ihre Natur ist, ebensosehr alles in sich befasst und hält, weil sie sich zum Freiesten macht, zur Einfachheit, welche die erste Unmittelbarkeit und Allgemeinheit ist.» Aber, um «reine Persönlichkeit» zu werden, muss sich der einzelne auch mit dem ganzen Vernünftigen durchdringen und es zu seinem Selbst machen. Denn die «reine Persönlichkeit» ist zugleich das Höchste, wozu sich der Mensch hinaufentwickeln kann, was er aber keineswegs von Natur aus schon ist. Hat er sich dahin erhoben, dann gilt von ihm das Hegelsche Wort: «Dass der Mensch von Gott weiß, ist nach der wesentlichen Gemeinschaft ein gemeinschaftliches Wissen, denn der Mensch weiß nur von Gott insofern Gott im Menschen von sich selbst weiß: dieses Wissen ist Selbstbewusstsein Gottes, aber ebenso ein Wissen desselben vom Menschen, und dies Wissen Gottes vom Menschen ist Wissen des Menschen von Gott. Der Geist des Menschen, von Gott zu wissen, ist nur der Geist Gottes selbst.»

Nur ein Mensch, in dem solches verwirklicht ist, verdient nach Hegels Meinung im höchsten Sinne des Wortes den Namen Persönlichkeit. Denn bei ihm fallen Vernunft und Individualität zusammen; er verwirklicht den Gott in sich, dem er in seinem Bewusstsein das Organ gibt, um sich selbst anzuschauen. Alle Gedanken blieben abstrakte, unbewusste, ideelle Gebilde, wenn sie im Menschen nicht lebendige Wirklichkeit gewännen. Ohne den Menschen wäre Gott in seiner höchsten Vollkommenheit gar nicht da. Er wäre das unfertige Welturwesen. Er wüsste nichts von sich.

Hegel hat diesen Gott vor seiner Verwirklichung im Leben dargestellt. Den Inhalt dieser Darstellung bildet die Logik. Sie ist ein Gebäude von leblosen, starren, stummen Gedanken. Hegel nennt sie selbst das «Reich der Schatten». Sie soll gewissermaßen zeigen, wie Gott in seinem innersten ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und des endlichen Geistes ist. Da aber die Selbstanschauung notwendig zum Wesen Gottes gehört. so ist der Inhalt der Logik noch der tote Gott, der nach Dasein verlangt. In Wirklichkeit ist dieses Reich der reinen, abstrakten Wahrheit nirgends vorhanden; nur unser Verstand kann es von dem lebendigen Wirklichen abtrennen. Es gibt im Sinne Hegels kein irgendwo existierendes, fertiges Urwesen, sondern nur ein solches, das in ewiger Bewegung, in stetem Werden ist.

Diese ewige Wesenheit ist «die ewig wirkliche Wahrheit, in welcher die ewig wirkende Vernunft frei für sich ist, und für die Notwendigkeit, Natur und Geschichte nur ihrer Offenbarung dienend und Gefäße ihrer Ehre sind». Wie sich im Menschen die Gedankenwelt selbst ergreift, das wollte Hegel darstellen. Er hat in anderer Form Goethes Anschauung ausgesprochen: «Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt, dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern.» In Hegels Sprache übersetzt heißt das: Wenn der Mensch denkend sein eigenes Wesen erlebt, dann hat dieser Akt nicht nur eine individuelle, persönliche Bedeutung, sondern eine universelle; das Wesen des Weltalls erreicht in der Selbsterkenntnis des Menschen seinen Gipfel, seine Vollendung, ohne die es Fragment bliebe.

Die Hegelsche Vorstellung des Erkennens fasst dieses nicht wie ein Erfassen eines Inhaltes auf, der ohne dasselbe fertig irgendwo in der Welt vorhanden ist, nicht als eine Tätigkeit, die Abbilder des wirklichen Geschehens schafft. Was im Sinne Hegels im denkenden Erkennen geschaffen wird, das ist sonst nirgends in der Welt vorhanden, nur eben im Erkennen. Wie die Pflanze auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung die Blüte hervorbringt, so erzeugt das Weltall den Inhalt der menschlichen Erkenntnis.

Und so wenig, wie die Blüte vor ihrer Entstehung vorhanden ist, so wenig ist es der Gedankeninhalt der Welt, der im menschlichen Geiste zum Vorschein kommt. Eine Weltanschauung, die der Meinung ist, dass in der Erkenntnis nur Abbilder von schon vorhandenem Inhalt entstehen sollen, macht den Menschen zum müßigen Zuschauer der Welt, die ohne ihn auch vollkommen fertig da wäre. Hegel macht dagegen den Menschen zum tätigen Mitarbeiter am Weltgeschehen, dem ohne ihn der Gipfel fehlen würde.

Grillparzer hat in seiner Art Hegels Meinung über das Verhältnis des Denkens zur Welt in einem bedeutsamen Ausspruch charakterisiert:

Möglich, dass du uns lehrst prophetisch das göttliche Denken,
Aber das menschliche, Freund, richtest du sicher zu Grund.

Der Dichter meint hier mit dem menschlichen Denken dasjenige, das eben seinen Inhalt fertig in der Welt voraussetzt und nichts sein will als das Abbild desselben. Für Hegel ist der Ausspruch kein Tadel.

Denn dieses Denken über etwas anderes ist, nach seiner Ansicht, noch nicht das höchste, das vollkommenste Denken. Wenn man über ein Ding der Natur nachdenkt, so sucht man einen Begriff, der mit seinem äußeren Gegenstande «übereinstimmt». Man begreift dann durch den Gedanken, den man sich bildet, was der äußere Gegenstand ist. Man hat es mit zweierlei zu tun, mit dem Gedanken und mit dem Gegenstande. Will man aber bis zum höchsten Gesichtspunkt emporsteigen, den der Mensch erklimmen kann, dann darf man sich nicht scheuen, auch noch zu fragen, was denn der Gedanke selbst ist. Dazu haben wir aber kein anderes Mittel als nur wieder den Gedanken. Im höchsten Erkennen ergreift also der Gedanke sich selbst. Er fragt nicht mehr nach einer Übereinstimmung mit etwas anderem. Er hat es nur mit sich allein zu tun. Dieses Denken, das keine Anlehnung an ein Äußeres, an irgendeinen Gegenstand hat, erscheint Grillparzer wie ein Zerstörer des Denkens, das die Aufschlüsse gibt über die in Zeit und Raum ausgebreiteten mannigfaltigen Dinge der sinnlichen und geistigen Wirklichkeit.

Aber so wenig der Maler die Natur zerstört, wenn er ihre Linien und Farben auf der Leinwand wiedergibt, so wenig zerstört der Denker die Ideen der Natur, wenn er sie in ihrer geistigen Reinheit ausspricht. Es ist merkwürdig, dass man gerade in dem Denken ein der Wirklichkeit feindliches Element sehen will, weil es von der Fülle des sinnlichen Inhaltes abstrahiert. Ja, abstrahiert denn der Maler nicht, indem er bloß Farbe, Ton und Linie gibt, von allen übrigen Merkmalen eines Gegenstandes?

Hegel hat alle solche Einwände mit einem hübschen Scherz getroffen: Wenn das in der Welt wirksame Urwesen «ausgleitet und aus dem Boden, wo es herumspaziert, ins Wasser fällt, so wird es ein Fisch, ein Organisches, ein Lebendiges. Wenn es nun ebenso ausgleitet und ins reine Denken fällt denn auch das reine Denken soll nicht sein Boden sein -, so soll es, da hineinplumpsend, etwas Schlechtes, Endliches werden, von dem man sich eigentlich schämen muss zu sprechen, wenn's nicht amtshalber geschähe und weil einmal nicht zu leugnen ist, dass eine Logik da sei. Das Wasser ist ein so kaltes, schlechtes Element und es ist dem Leben doch so wohl darin. Soll denn das Denken ein viel schlechteres Element sein? Soll das Absolute sich sogar schlecht darin befinden und sich auch schlecht darin aufführen?»

Es ist durchaus im Sinne Hegels gesprochen, wenn man behauptet, das Urwesen der Welt habe die niedere Natur und den Menschen geschaffen; an diesem Punkte angelangt, habe es sich beschieden, und es dem Menschen überlassen, zu der Außenwelt und zu sich selbst hinzu auch noch die Gedanken über die Dinge zu schaffen. So schafft das Urwesen im Verein mit dem Menschen den ganzen Inhalt der Welt. Der Mensch ist Mitschöpfer des Seins, nicht müßiger Zuschauer, nicht erkennender Wiederkäuer dessen, was ohne sein Dasein auch da wäre.

Was der Mensch in seinem innersten Dasein ist, das ist er nicht durch ein anderes, das ist er durch sich selbst. Deshalb betrachtet Hegel auch die Freiheit nicht als ein göttliches Geschenk, das dem Menschen ein für allemal in die Wiege gelegt worden ist, sondern als ein Ergebnis, zu dem er im Laufe seiner Entwicklung allmählich gelangt. Von dem Leben in der Außenwelt, von der Befriedigung im rein sinnlichen Dasein erhebt er sich zum Begreifen seines geistigen Wesens, seiner eigenen Innenwelt.

Dadurch macht er sich auch unabhängig von der Außenwelt; er folgt seiner inneren Wesenheit. Der Volksgeist enthält Naturnotwendigkeit und fühlt sich in bezug auf seine Sitten ganz abhängig von dem, was außer dem einzelnen Menschen Sitte und Brauch, moralische Anschauung ist. Aber allmählich ringt sich die Persönlichkeit los von dieser in der Außenwelt niedergelegten sittlichen Anschauungswelt und dringt in ihr Inneres vor, indem sie erkennt, dass sie aus ihrem eigenen Geist heraus sich sittliche Anschauungen entwickeln, moralische Vorschriften geben kann. Der Mensch erhebt sich zur Anschauung des in ihm walten den Urwesens, das auch der Quell seiner Sittlichkeit ist. Er sucht nicht mehr in der Außenwelt, sondern in der eigenen Seele seine Sittengebote. Er macht sich nur mehr von sich abhängig. (§ 552 von Hegels «Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften»). Diese Unabhängigkeit, diese Freiheit ist also nichts dem Menschen von vornherein Zukommendes, sie ist im Laufe der geschichtlichen Entwicklung erworben. Die Weltgeschichte ist der Fortschritt der Menschheit im Bewusstsein der Freiheit.

Dadurch, dass Hegel in den höchsten Äußerungen des menschlichen Geistes Vorgänge sieht, in denen das Urwesen der Welt den Abschluss seiner Entwicklung, seines Werdens findet, werden ihm alle anderen Erscheinungen zu Vorstufen dieses höchsten Gipfels; und dieser selbst erscheint als der Zweck, dem alles andere zustrebt. Diese Vorstellung von Zweckmäßigkeit im Weltall ist eine andere als diejenige, die sich die Weltschöpfung und Weltlenkung wie das Werk eines sinnreichen Technikers oder Maschinenkonstrukteurs denkt, der alle Dinge nützlichen Zielen gemäß eingerichtet hat. Solche Nützlichkeitslehre hat Goethe scharf abgewiesen. Er sagte am 20. Februar 1831 zu Eckermann (vgl. Gespräche Goethes mit Eckermann, Teil II): Der Mensch «unterlässt nicht, seine gewohnte Ansicht aus dem Leben auch in die Wissenschaft zu tragen und auch bei den einzelnen Teilen eines organischen Wesens nach deren Zweck und Nutzen zu fragen. Dies mag auch eine Weile gehen, und er mag auch in der Wissenschaft eine Weile durchkommen; allein gar bald wird er auf Erscheinungen stoßen, wo er mit einer so kleinen Ansicht nicht ausreicht, und wo er ohne höheren Halt sich in lauter Widersprüchen verwickelt. Solche Nützlichkeitslehrer sagen wohl: der Ochse habe Hörner, um sich damit zu wehren.

Nun, frage ich aber: warum hat das Schaf keine? Und wenn es welche hat, warum sind sie ihm um die Ohren gewickelt, so dass sie ihm zu nichts dienen? Etwas anderes aber ist es, wenn ich sage: Der Ochse wehrt sich mit seinen Hörnern, weil er sie hat. Die Frage nach dem Warum? ist durchaus ,nicht wissenschaftlich. Etwas weiter kommt man mit der Frage Wie? Denn wenn ich frage: Wie hat der Ochse Hörner? so führt mich das auf die Betrachtung seiner Organisation und belehrt mich zugleich, warum der Löwe keine Hörner hat und haben kann.»

Trotzdem sieht Goethe in anderem Sinne in der ganzen Natur eine zweckmäßige Einrichtung, die zuletzt im Menschen ihr Ziel erreicht, also gleichsam alle ihre Werke so einrichtet, dass dieser zuletzt seine Bestimmung findet. Wir lesen in seinem «Winckelmann»: «Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch seines Daseins erfreut?» Und auch davon ist Goethe überzeugt, dass das Wesen aller Erscheinungen in und durch den Menschen als Wahrheit zum Vorschein kommt. (Vgl. S. 205 f.)

Wie alles in der Welt darauf angelegt ist, dass der Mensch eine würdige Aufgabe hat und diese lösen kann: das zu begreifen ist das Ziel dieser Weltanschauung. Wie eine philosophische Rechtfertigung der Goetheschen Aussprüche nimmt sich aus, was Hegel am Schlusse seiner «Naturphilosophie» ausführt: «Im Lebendigen hat die Natur sich vollendet und ihren Frieden geschlossen, indem sie in ein Höheres umschlägt. Der Geist ist so aus der Natur hervorgegangen. Das Ziel der Natur ist, sich selbst zu töten, und ihre Rinde des Unmittelbaren, Sinnlichen zu durchbrechen, sich als Phönix zu verbrennen, um aus dieser Äußerlichkeit verjüngt als Geist hervorzutreten. Die Natur ist sich ein anderes geworden, um sich als Idee wieder zu erkennen und sich mit sich zu versöhnen ... Als der Zweck der Natur ist er (der Geist) eben darum vor ihr, sie ist aus ihm hervorgegangen.»

Dadurch vermochte diese Weltanschauung den Menschen so hoch zu stellen, weil sie in ihm verwirklicht sein lässt, was als Urkraft, als Urwesen aller Welt zugrunde liegt; was seine Verwirklichung durch den ganzen Stufengang aller übrigen Erscheinungen vorbereitet, aber erst im Menschen erreicht. Goethe und Hegel stimmen in dieser Vorstellung vollständig miteinander überein. Was der erstere aus seinem Anschauen der Natur und des Geistes heraus gewonnen hat, das spricht .der letztere auf Grund des hellen, reinen, im Selbstbewusstsein lebendigen Denkens aus.

Was Goethe mit einzelnen Naturvorgängen unternahm, sie durch ihr Werden, ihre Entwicklung zu erklären, das wendete Hegel auf den ganzen Kosmos an. Goethe fordert von dem, der das Wesen des Pflanzenorganismus begreifen will: «Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze, stufenweise geführt, bildet zu Blüte und Frucht.» Hegel will alle Welterscheinungen in der Stufenfolge ihres Werdens begreifen, vom einfachsten, dumpfen Wirken der trägen Materie bis hinauf zu dem selbstbewussten Geiste. Und in dem selbstbewussten Geiste sieht er die Offenbarung des Urwesens der Welt.

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