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Moderne idealistische Weltanschauungen

Durch drei Denkerköpfe ist in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die naturwissenschaftliche Vorstellungsart mit den idealistischen Traditionen aus der ersten Jahrhunderthälfte dreimal zu Weltanschauungen verschmolzen worden, die eine scharfe individuelle Physiognomie tragen, durch Hermann Lotze (1817-1881), Gustav Theodor Fechner (1801-1887) und Eduard von Hartmann (1842-1906).

Lotze trat in seiner 1843 veröffentlichten Arbeit über «Leben und Lebenskraft» (in R. Wagners Handwörterbuch der Physiologie) mit Entschiedenheit gegen den Glauben auf, dass in den Lebewesen eine besondere Kraft, die Lebenskraft, vorhanden sei, und verteidigte den Gedanken, dass die Lebenserscheinungen nur durch komplizierte Vorgänge von der Art zu erklären sind, wie sie sich auch in der leblosen Natur abspielen.

Er stellte sich in dieser Beziehung also durchaus auf die Seite der neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungsart, die den alten Gegensatz zwischen dem Leblosen und dem Lebendigen zu überbrücken suchte. Im Sinne eines solchen Gesichtspunktes sind seine Werke gehalten, die naturwissenschaftliche Dinge behandeln: seine «Allgemeine Pathologie und Therapie als mechanische Naturwissenschaften» (1842) und «Allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens» (1851). Fechner lieferte in seinen «Elementen der Psychophysik» (1860) und in seiner «Vorschule der Ästhetik» (1876) Werke, die den Geist streng naturwissenschaftlicher Vorstellungsart in sich tragen, und zwar auf Gebieten, die vor ihm fast ausnahmslos im Sinne einer idealistischen Denkweise bearbeitet worden waren.

Lotze und Fechner hatten aber das entschiedene Bedürfnis, über die naturwissenschaftliche Betrachtungsart hinaus sich eine idealistische Gedankenwelt zu erbauen.

Lotze wurde zu einer solchen durch die Beschaffenheit seines Gemütes gedrängt, das von ihm nicht nur ein denkendes Verfolgen der natürlichen Gesetzmäßigkeit in der Welt forderte, sondern das ihn in allen Dingen und Vorgängen Leben und Innerlichkeit von der Art suchen ließ, wie sie der Mensch selbst in seiner Brust empfindet. Er will «beständig gegen die Vorstellungen streiten, die von der Welt nur die eine und geringere Hälfte kennen wollen, nur das Entfalten von Tatsachen zu neuen Tatsachen, von Formen zu neuen Formen, aber nicht die beständige Wiederverinnerlichung all dieses Äußerlichen zu dem, was in der Welt allein Wert hat und Wahrheit, zu der Seligkeit und Verzweiflung, der Bewunderung und dem Abscheu, der Liebe und dem Hass, zu der fröhlichen Gewissheit und der zweifelnden Sehnsucht, zu all dem namenlosen Hangen und Bangen, in welchem das Leben verläuft, das allein Leben zu heißen verdient».

Lotze hat wie so viele das Gefühl, dass das menschliche Bild der Natur kalt und nüchtern wird, wenn wir in dasselbe nicht Vorstellungen hineintragen, die der menschlichen Seele entnommen sind. (Vgl. oben S.375.)

Was bei Lotze eine Folge seiner Gemütsanlage ist, das erscheint bei Fechner als Ergebnis einer reich entwickelten Phantasie, die so wirkt, dass sie von einer logischen Erfassung der Dinge stets zu einer poesievollen Auslegung derselben führt. Er kann nicht als naturwissenschaftlicher Denker bloß die Entstehungsbedingungen des Menschen suchen, und die Gesetze, die diesen nach einer gewissen Zeit wieder sterben lassen. Ihm werden Geburt und Tod zu Ereignissen, die seine Phantasie zu einem Leben vor der Geburt, und zu einem solchen nach dem Tode leiten.

«Der Mensch» - so führt Fechner in dem «Büchlein vom Leben nach dem Tode» aus - «lebt auf der Erde nicht einmal, sondern dreimal. Seine erste Lebensstufe ist ein steter Schlaf, die zweite eine Abwechslung zwischen Schlaf und Wachen, die dritte ein ewiges Wachen.

Auf der ersten Stufe lebt der Mensch einsam im Dunkel; auf der zweiten lebt er gesellig, aber gesondert neben und zwischen andern in einem Lichte, das ihm die Oberfläche abspiegelt; auf der dritten verflicht sich sein Leben mit dem von andern Geistern zu einem höhern Leben in dem höchsten Geiste und schaut er in das Wesen der endlichen Dinge.

Auf der ersten Stufe entwickelt sich der Körper aus dem Keime und erschafft sich seine Werkzeuge für die zweite; auf der zweiten entwickelt sich der Geist aus dem Keime und erschafft sich seine Werkzeuge für die dritte; auf der dritten entwickelt sich der göttliche Keim, der in jedes Menschen Geiste liegt und schon hier in ein für uns dunkles, für den Geist der dritten Stufe tageshelles Jenseits durch Ahnung, Glaube, Gefühl und Instinkt des Genius über den Menschen hinausweist.

Der Übergang von der ersten zur zweiten Lebensstufe heißt Geburt; der Übergang von der zweiten zur dritten heißt Tod.»

Lotze hat eine Auslegung der Welterscheinungen, wie sie den Bedürfnissen seines Gemütes entspricht, in seinem Werke «Mikrokosmos» (1856-1858) und in seinen Schriften «Drei Bücher der Logik» (1874) und «Drei Bücher der Metaphysik» (1879) gegeben. Auch sind die Nachschriften der Vorträge erschienen, die er über die verschiedenen Gebiete der Philosophie gehalten hat.

Sein Verfahren stellt sich dar als ein Verfolgen der streng natürlichen Gesetzmäßigkeit in der Welt, und ein nachheriges Zurechtlegen dieser Gesetzmäßigkeit im Sinne einer idealen, harmonischen, seelenvollen Ordnung und Wirksamkeit des Weltgrundes. Wir sehen ein Ding auf das andere wirken; aber das erstere könnte das zweite gar nicht zu einer Wirkung vermögen, wenn nicht eine ursprüngliche Verwandtschaft und Einheit zwischen den beiden bestünde. Dem zweiten Dinge müsste es gleichgültig bleiben, was das erste vollbringt, wenn es nicht die Fähigkeit hätte, im Sinne dessen, was das erste will, sein eigenes Tun einzurichten.

Eine Kugel kann durch eine andere, von der sie gestoßen wird, nur dann zu einer Bewegung veranlasst werden, wenn sie gewissermaßen der anderen mit Verständnis entgegenkommt, wenn in ihr dasselbe Verständnis von Bewegung ist wie in der ersten. Die Bewegungsfähigkeit ist etwas, was sowohl in der einen wie in der andern Kugel als ihr Gemeinsames enthalten ist. Alle Dinge und Vorgänge müssen ein solches Gemeinsames haben. Dass wir sie als Dinge und Vorkommnisse wahrnehmen, die voneinander getrennt sind, rührt daher, dass wir bei unserer Beobachtung nur ihre Außenseite kennenlernen; könnten wir in ihr Inneres sehen, so erschiene uns das, was sie nicht trennt, sondern zu einem großen Weltganzen verbindet.

Nur ein Wesen gibt es für uns, das wir nicht bloß von außen, sondern von innen kennen, das wir nicht nur anschauen, sondern in das wir hineinschauen können. Das ist unsere eigene Seele, das Ganze unserer geistigen Persönlichkeit. Weil aber alle Dinge in ihrem Innern ein Gemeinsames aufweisen müssen, so muss ihnen allen auch mit unserer Seele das gemeinsam sein, was deren innersten Kern ausmacht. Wir dürfen daher uns das Innere der Dinge ähnlich der Beschaffenheit unserer eigenen Seele vorstellen. Und der Weltgrund, der als das Gemeinsame aller Dinge waltet, kann von uns nicht anders gedacht werden, denn als eine umfassende Persönlichkeit nach dem Bilde unserer eigenen Persönlichkeit.

«Der Sehnsucht des Gemütes, das Höchste, was ihm zu ahnen gestattet ist, als Wirklichkeit zu fassen, kann keine andere Gestalt seines Daseins als die der Persönlichkeit genügen oder nur in Frage kommen. So sehr ist sie davon überzeugt, dass lebendige, sich selbst besitzende und sich genießende Ichheit die unabweisliche Vorbedingung und die einzig mögliche Heimat alles Guten und aller Güter ist, so sehr von stiller Geringschätzung gegen alles anscheinend leblose Dasein erfüllt, dass wir stets die beginnende Religion in ihren mythenbildenden Anfängen beschäftigt finden, die natürliche Wirklichkeit zur geistigen zu verklären, nie hat sie dagegen ein Bedürfnis empfunden, geistige Lebendigkeit auf blinde Realität als festeren Grund zurückzuführen.»

Und seine eigene Empfindung gegenüber den Dingen der Natur kleidet Lotze in die Worte:

«Ich kenne sie nicht, die toten Massen, von denen ihr redet; mir ist alles Leben und Regsamkeit und auch die Ruhe und der Tod nur dumpfer vorübergehender Schein rastlosen inneren Webens.»

Und wenn die Naturvorgänge, wie sie in der Beobachtung erscheinen, nur solch ein dumpfer vorübergehender Schein sind, so kann auch ihr tiefstes Wesen nicht in dieser der Beobachtung vorliegenden Gesetzmäßigkeit, sondern in dem «rastlosen Weben» der sie alle beseligenden Gesamtpersönlichkeit, in deren Zielen und Zwecken gesucht werden. Lotze stellt sich daher vor, dass sich in allem natürlichen Wirken ein von einer Persönlichkeit gesetzter moralischer Zweck zum Ausdrucke bringt, dem die Welt zustrebt. Die Naturgesetze sind der äußere Ausdruck einer allwaltenden ethischen Gesetzmäßigkeit der Welt. Es steht mit dieser ethischen Auslegung der Welt vollkommen im Einklang, was Lotze über das Fortleben der menschlichen Seele nach dem Tode vorbringt: «Kein anderer Gedanke steht uns außer der allgemeinen idealistischen Überzeugung zu Gebote: fortdauern werde jedes Geschaffene, dessen Fortdauer zu dem Sinne der Welt gehört; vergehen werde alles, dessen Wirklichkeit nur in einer vorübergehenden Phase des Weltlaufs seine berechtigte Stelle hatte.

Dass dieser Grundsatz keine weitere Anwendung in menschlichen Händen gestatte, bedarf kaum der Erwähnung; wir kennen sicher die Verdienste nicht, die dem einen Wesen Anspruch auf ewiges Bestehen erwerben können, noch die Mängel, die ihn anderen versagen.» (Drei Bücher der Metaphysik, § 245.)

Wo Lotze seine Betrachtungen einmünden lässt in das Gebiet der großen philosophischen Rätselfragen, erhalten seine Gedanken einen unsicheren Charakter. Es ist ihnen anzumerken, dass ihr Träger aus seinen beiden Erkenntnisquellen, der Naturwissenschaft und der seelischen Selbstbeobachtung, keine sichere Vorstellung gewinnen kann über das Verhältnis des Menschen zum Weltverlauf. Die innere Kraft der Selbstbeobachtung dringt nicht durch zu einem Gedanken, welcher dem Ich ein Recht geben könnte, sich als eine bestimmte Wesenheit innerhalb des Weltganzen zu erfühlen.

In seinen Vorlesungen über «Religionsphilosophie» steht (S. 82) zu lesen: «Der Glaube an Unsterblichkeit hat kein anderes sicheres Fundament als das religiöse Bedürfnis. Es lässt sich daher auch philosophisch über die Art der Fortdauer nichts weiter bestimmen, als was aus einem einfachen metaphysischen Satze fließen könnte. Nämlich: da wir jedes Wesen nur als Geschöpf Gottes betrachten, so gibt es durchaus kein ursprünglich gültiges Recht, auf welches die einzelne Seele, etwa als ‹Substanz› sich berufen könnte, um ewige individuelle Fortdauer zu fordern. Vielmehr können wir bloß behaupten: jedes Wesen werde so lange von Gott erhalten werden, als sein Dasein eine wertvolle Bedeutung für das Ganze seines Weltplanes hat ...»

In der Unbestimmtheit solcher Sätze drückt sich aus, welche Tragweite die Lotzeschen Ideen in das Gebiet der großen philosophischen Rätselfragen hinein entwickeln können.

In dem Schriftchen «Vom Leben nach dem Tode» spricht sich Fechner über das Verhältnis des Menschen zur Welt aus.

«Was sieht der Anatom, wenn er in das Gehirn des Menschen blickt? Ein Gewirr von weißen Fasern, dessen Sinn er nicht enträtseln kann. Und was sieht es in sich selbst? Eine Welt von Licht, Tönen, Gedanken, Erinnerungen, Phantasien, Empfindungen von Liebe und von Hass. So denke dir das Verhältnis dessen, was du, äußerlich der Welt gegenüberstehend, in ihr siehst, und was sie in sich selbst sieht und verlange nicht, dass beides, das Äußere und Inne), sich im Ganzen der Welt mehr ähnlich sehe als in dir, der nur ihr Teil. Und nur, dass du ein Teil von dieser Welt bist lässt dich auch einen Teil von dem, was sie in sich sieht in dir sehen.»

Fechner stellt sich vor, dass der Weltgeist zu der Weltmaterie dasselbe Verhältnis habe wie der Menschengeist zum Menschenkörper. Er sagt sich nun: der Mensch spricht von sich, wenn er von seinem Körper spricht; und er spricht auch von sich, wenn er von seinem Geiste redet. Der Anatom, der das Gewirr der Gehirnfasern untersucht, hat das Organ vor sich, dem einst Gedanken und Phantasien entsprungen sind. Als der Mensch noch lebte, dessen Gehirn der Anatom betrachtet, standen vor seiner Seele nicht die Gehirnfasern und ihre körperliche Tätigkeit, sondern eine Welt von Vorstellungen. Was ändert sich nun, wenn statt des Menschen, der in seine Seele blickt, der Anatom in das Gehirn, das körperliche Organ dieser Seele, schaut? Ist es nicht dasselbe Wesen, derselbe Mensch, der in dem einen und in dem andern Falle betrachtet wird?

Das Wesen, meint Fechner, sei dasselbe, nur der Standpunkt des Beobachters habe sich geändert. Der Anatom sieht sich von außen an, was der Mensch früher von innen angesehen hat. Es ist, wie wenn man einen Kreis einmal von außen, einmal von innen ansieht. Im ersten Fall erscheint er erhaben, im zweiten hohl. Beide Male ist es derselbe Kreis. So ist es auch mit dem Menschen: sieht er sich selbst von innen an, so ist er Geist; sieht ihn der Naturforscher von außen an, so ist er Körper, Materie. Im Sinne der Fechnerschen Vorstellungsart ist es nicht angebracht, darüber nachzudenken, wie Körper und Geist aufeinander wirken. Denn beides sind gar nicht zwei verschiedene Wesen; sie sind eines und dasselbe. Sie stellen sich nur als verschieden dar, wenn man sie von verschiedenen Standorten aus beobachtet. Im Menschen sieht Fechner einen Körper, der Geist zugleich ist.

Von diesem Gesichtspunkte aus ergibt sich für Fechner die Möglichkeit, sich die ganze Natur geistig, beseelt vorzustellen. Bei sich selbst ist der Mensch in der Lage, das Körperliche von innen anzuschauen, also die Innenseite unmittelbar als Geistiges zu erkennen. Liegt nun nicht der Gedanke nahe, dass alles Körperliche, wenn es von innen angeschaut werden könnte, als Geistiges erschiene? Die Pflanze können wir nur von außen sehen. Ist es nicht aber möglich, dass auch sie, von innen angeschaut, sich als Seele erwiese?

Diese Vorstellung wuchs sich in Fechners Phantasie zur Überzeugung aus: Alles Körperliche ist zugleich ein Geistiges. Das kleinste Materielle ist beseelt. Und wenn sich die materiellen Teile zu vollkommeneren materiellen Körpern aufbauen, so ist dieser Vorgang nur ein von außen angesehener; ihm entspricht ein innerer, der sich als Zusammensetzung von Einzelseelen zu vollkommeneren Gesamtseelen darstellen würde, wenn man ihn betrachten könnte: Wäre jemand imstande, das körperliche Getriebe auf unserer Erde mit den auf ihr lebenden Pflanzen, mit den sich darauf tummelnden Tieren und Menschen von innen anzusehen so stellte sich ihm dieses Ganze als Erdseele dar. Und ebenso wäre es beim ganzen Sonnensystem, ja bei der ganzen Welt Das Universum ist, von außen gesehen, der körperliche Kosmos; von innen angeschaut, Allgeist, vollkommenste Persönlichkeit, Gott.

Wer zu einer Weltanschauung gelangen will, muss über die Tatsachen, die ohne sein Zutun sich ihm darbieten, hinausgehen. Was durch ein solches Hinausgehen über die Welt der unmittelbaren Wahrnehmung erreicht wird, darüber herrschen die verschiedensten Ansichten. Kirchhoff hat 1874 die seinige (vgl. oben S.433 f.) dahin ausgesprochen, dass man auch durch die strengste Wissenschaft zu nichts anderem komme als zu einer vollständigen und einfachen Beschreibung der tatsächlichen Vorgänge.

Fechner geht von einem anderen Gesichtspunkt aus. Er ist der Meinung, es sei «das die große Kunst des Schlusses vom Diesseits auf das Jenseits nicht von Gründen, die wir nicht kennen, noch von Voraussetzungen, die wir machen, sondern von Tatsachen, die wir kennen, auf die größeren und höheren Tatsachen des Jenseits zu schließen, und dadurch den praktisch geforderten, an höheren Gesichtspunkten hängenden Glauben von unten her zu festigen, zu stützen, und mit dem Leben in lebendigen Bezug zu setzen». (Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, 4. Aufl. S. 69).

Im Sinne dieser Meinung sucht Fechner nicht nur den Zusammenhang der körperlichen Erscheinungen, die der Beobachtung gegeben sind, mit den geistigen Erscheinungen der Beobachtung; sondern er fügt zu den beobachteten Seelenerscheinungen andere hinzu, den Erdgeist, den Planetengeist, den Weltgeist.

Fechner lässt sich durch sein auf sicherer Grundlage ruhendes naturwissenschaftliches Wissen nicht abhalten, die Gedanken von der Sinnenwelt aus zu erheben in Regionen, wo ihnen Weltenwesen und Weltenvorgänge vorschweben, die der Sinnenbeobachtung entrückt sein müssen, wenn sie existieren. Er fühlt sich zu solcher Erhebung angeregt durch sein sinniges Betrachten der Sinnenwelt, die seinem Denken mehr sagt, als ihm die bloße Sinneswahrnehmung sagen kann. Dieses «Mehr» fühlt er sich veranlasst zur Ersinnung außersinnlicher Wesen zu gebrauchen.

Auf diese seine Art strebt er danach, sich eine Welt auszumalen, in welche er lebendig gewordene Gedanken hineinzuführen verspricht. Solche Überschreitung der Sinnesgrenzen hat Fechner nicht abgehalten, sogar in einem Gebiete, das an das Seelische grenzt, nach strengster naturwissenschaftlicher Methode zu verfahren. Er ist es gewesen, der für dieses Gebiet die wissenschaftlichen Methoden geschaffen hat.

Seine «Elemente der Psychophysik» (1860) sind auf diesem Felde das grundlegende Werk. Das Grundgesetz, auf das er die Psychophysik stellte, ist, dass die Empfindungszunahme, die im Menschen durch einen wachsenden Eindruck von außen bewirkt wird, in einem bestimmten Verhältnisse langsamer erfolgt als der Stärkezuwachs des Eindruckes. Die Empfindung wächst um so weniger, je größer die bereits vorhandene Stärke des Reizes war. Von diesem Gedanken ausgehend, ist es möglich, ein Maßverhältnis zwischen dem äußeren Reiz (zum Beispiel der physischen Lichtstärke) und der Empfindung (zum Beispiel der Lichtempfindung) zu gewinnen.

Das Beschreiten des von Fechner eingeschlagenen Weges hat zum Ausbau der Psychophysik als einer ganz neuen Wissenschaft von dem Verhältnis der Reize zu den Empfindungen, also des Körperlichen zu dem Seelischen geführt. Wilhelm Wundt, der auf diesem Gebiete in Fechners Geist weitergearbeitet hat, charakterisiert den Begründer der «Psychophysik» in ausgezeichneter Weise:

«Vielleicht in keiner seiner sonstigen wissenschaftlichen Leistungen tritt die seltene Vereinigung von Gaben, über die Fechner verfügte, so glänzend hervor, wie in seinen psychophysischen Arbeiten. Zu einem Werke, wie den Elementen der Psychophysik, bedurfte es einer Vertrautheit mit den Prinzipien exakter physikalisch-mathematischer Methodik und zugleich einer Neigung, in die tiefsten Probleme des Seins sich zu vertiefen, wie in dieser Vereinigung nur er sie besaß. Und dazu brauchte er jene Ursprünglichkeit des Denkens, welche die überkommenen Hilfsmittel frei nach eigenen Bedürfnissen umzugestalten wusste und kein Bedenken trug, neue und ungewohnte Wege einzuschlagen. Die um ihrer genialen Einfachheit halber bewundernswerten, aber doch nur beschränkten Beobachtungen E. H. Webers, die vereinzelten, oft mehr zufällig als planmäßig gefundenen Versuchsweisen und Ergebnisse anderer Physiologen - sie bildeten das bescheidene Material, aus dem er eine neue Wissenschaft aufbaute.»

Wichtige Aufschlüsse über die Wechselwirkungen von Leib und Seele ergaben sich durch die von Fechner angeregte experimentelle Methode auf diesem Gebiete. Wundt charakterisiert die neue Wissenschaft in seinen «Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele» (1863):

«Ich werde in den nachfolgenden Untersuchungen zeigen, dass das Experiment in der Psychologie das Hauptmittel ist, das uns von den Tatsachen des Bewusstseins auf jene Vorgänge hinleitet, die im dunklen Hintergrunde der Seele das bewusste Leben vorbereiten. Die Selbstbeobachtung liefert uns, wie die Beobachtung überhaupt, nur die zusammengesetzte Erscheinung.

In dem Experiment erst entkleiden wir die Erscheinung aller der zufälligen Umstände, an die sie in der Natur gebunden ist. Durch das Experiment erzeugen wir die Erscheinung künstlich aus den Bedingungen heraus, die wir in der Hand halten. Wir verändern diese Bedingungen und verändern dadurch in messbarer Weise auch die Erscheinung. So leitet uns immer und überall erst das Experiment zu den Naturgesetzen, weil wir nur im Experiment gleichzeitig die Ursachen und die Erfolge zu überschauen vermögen.»

Zweifellos ist es nur ein Grenzgebiet der Psychologie, auf dem das Experiment fruchtbar ist, eben das Gebiet, auf dem die bewussten Vorgänge hinüberführen in die nicht mehr bewussten, ins Materielle leitenden Hintergründe des Seelenlebens. Die eigentlichen Seelenerscheinungen sind ja doch nur durch die rein geistige Beobachtung zu gewinnen. Dennoch hat der Satz E. Kraepelins, eines Psychophysikers, volle Berechtigung, dass «die junge Wissenschaft ... dauernd ihren selbständigen Platz neben den übrigen Zweigen der Naturwissenschaft und insonderheit der Physiologie zu behaupten imstande sein wird». (Psychologische Arbeiten, herausgegeben von E. Kraepelin, I. Band, I. Heft, S.4.)

*

Eduard von Hartmann hatte, als er 1869 mit seiner «Philosophie des Unbewussten» auftrat, weniger eine Weltanschauung im Auge, die mit den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft rechnet, als vielmehr eine solche, welche die ihm in vielen Punkten ungenügend erscheinenden Ideen der idealistischen Systeme aus der ersten Jahrhunderthälfte auf eine höhere Stufe hebt, sie von Widersprüchen reinigt und allseitig ausgestaltet. Ihm schienen sowohl in Hegels wie in Schellings und auch in Schopenhauers Gedanken richtige Keime zu stecken, die nur zur Reife gebracht werden müssten.

Der Mensch kann sich nicht mit der Beobachtung der Tatsachen begnügen, wenn er die Dinge und Vorgänge der Welt erkennen will. Er muss von den Tatsachen zu Ideen fortschreiten. Diese Ideen können nicht etwas sein, das durch das Denken willkürlich zu den Tatsachen hinzugefügt wird. Es muss ihnen in den Dingen und Vorkommnissen etwas entsprechen. Dieses Entsprechende können nicht bewusste Ideen sein, denn solche kommen nur durch die materiellen Vorgänge des menschlichen Gehirns zustande. Ohne Gehirn gibt es kein Bewusstsein. Man muss sich also vorstellen, dass den bewussten Ideen des menschlichen Geistes ein unbewusstes Ideelles in der Wirklichkeit entspricht.

Wie Hegel, betrachtet auch Hartmann die Idee als das Wirkliche in den Dingen, das in ihnen vorhanden ist über das bloß Wahrnehmbare' der sinnlichen Beobachtung zugängliche, hinaus.

Der bloße Ideengehalt der Dinge könnte aber niemals ein wirkliches Geschehen in ihnen hervorbringen. Die Idee einer Kugel kann nicht die Idee einer anderen Kugel stoßen. Die Idee eines Tisches kann auch auf das menschliche Auge keinen Eindruck hervorrufen. Ein wirkliches Geschehen setzt eine wirkliche Kraft voraus. Um über eine solche eine Vorstellung zu gewinnen, lehnt sich Hartmann an Schopenhauer an. Der Mensch findet in der eigenen Seele eine Kraft, durch die er seinen eigenen Gedanken, seinen Entschlüssen Wirklichkeit verleiht, den Willen.

So wie der Wille in der menschlichen Seele sich äußert, hat er das Vorhandensein des menschlichen Organismus zur Voraussetzung. Durch den Organismus ist der Wille ein bewusster. Wollen wir uns in den Dingen eine Kraft denken, so können wir sie uns nur ähnlich dem Willen, der einzigen uns unmittelbar bekannten Kraft, vorstellen. Nur muss man wieder vom Bewusstsein absehen. Außer uns herrscht also in den Dingen ein unbewusster Wille, welcher den Ideen die Möglichkeit gibt, sich zu verwirklichen. Der Ideen- und der Willensgehalt der Welt machen in ihrer Vereinigung die unbewusste Grundlage der Welt aus.

Wenn auch die Welt wegen ihres Ideengehaltes eine durchaus logische Struktur aufweist, so verdankt sie ihr wirkliches Dasein doch dem unlogischen, vernunftlosen Willen. Ihr Inhalt ist vernünftig; dass dieser Inhalt eine Wirklichkeit ist, hat seinen Grund in der Unvernunft. Das Walten des Unvernünftigen drückt sich in dem Vorhandensein der Schmerzen aus, die alle Wesen quälen. Der Schmerz überwiegt in der Welt gegenüber der Lust.

Diese Tatsache, die philosophisch aus dem unlogischen Willenselemente des Daseins zu erklären ist, sucht Eduard von Hartmann durch sorgfältige Betrachtungen über das Verhältnis von Lust und Unlust in der Welt zu erhärten. Wer sich keiner Illusion hingibt, sondern objektiv die Übel der Welt betrachtet, kann zu keinem anderen Ergebnis gelangen, als dass die Unlust in weit größerem Maße vorhanden ist als die Lust. Daraus aber folgt, dass das Nichtsein dem Dasein vorzuziehen ist. Das Nichtsein kann aber nur erreicht werden, wenn die logisch-vernünftige Idee den Willen, das Dasein vernichtet.

Als eine allmähliche Vernichtung des unvernünftigen Willens durch die vernünftige Ideenwelt sieht daher Hartmann den Weltprozess an. Es muss die höchste sittliche Aufgabe des Menschen die sein, an der Überwindung des Willens mitzuwirken. Aller Kulturfortschritt muss zuletzt darauf hinauslaufen, diese Überwindung endlich herbeizuführen. Der Mensch ist mithin sittlich gut, wenn er an dem Kulturfortschritt teilnimmt, wenn er nichts für sich verlangt, sondern sich selbstlos dem großen Werke der Befreiung vom Dasein widmet. Er wird das zweifellos tun, wenn er einsieht, dass die Unlust immer größer sein muss als die Lust, ein Glück demnach unmöglich ist. Nur der kann in egoistischer Weise nach dem Glück Verlangen tragen, der es für möglich hält. Die pessimistische Ansicht von dem Überwiegen des Schmerzes über die Lust ist das beste Heilmittel gegen den Egoismus. Nur in dem Aufgehen im Weltprozesse kann der einzelne sein Heil finden. Der wahre Pessimist wird zu einem unegoistischen Handeln geführt.

Was der Mensch bewusst vollbringt, ist aber nur das ins Bewusstsein heraufgehobene Unbewusste. Dem bewussten menschlichen Mitarbeiten an dem Kulturfortschritt entspricht ein unbewusster Gesamtprozess, der in der fortschreitenden Befreiung des Urwesens der Welt von dem Willen besteht. Diesem Ziel muss auch schon der Weltanfang dienstbar gewesen sein. Das Urwesen musste . Welt schaffen, um allmählich mit Hilfe der Idee vorn Willen zu befreien.

«Das reale Dasein ist die Inkarnation der Gottheit, der Weltprozess die Passionsgeschichte des fleischgewordenen Gottes, und zugleich der Weg zur Erlösung des im Fleische Gekreuzigten; die Sittlichkeit aber ist die Mitarbeit an der Abkürzung dieses Leidens- und Erlösungsweges.» (Hartmann, Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins, 1879, S. 871)

Hartmann hat in einer Reihe umfassender Werke und in einer großen Zahl von Monographien und Aufsätzen seine Weltanschauung allseitig ausgebaut Diese Schriften bergen geistige Schätze von hervorragender Bedeutung in sich. Dies ist namentlich deswegen der Fall, weil Hartmann es versteht, bei der Behandlung einzelner Fragen der Wissenschaft und des Lebens sich von seinen Grundgedanken nicht tyrannisieren zu lassen, sondern sich einer unbefangenen Betrachtung der Dinge hinzugeben. In besonders hohem Grade gilt dies von seiner «Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins», in der er die verschiedenen Arten menschlicher Sittenlehren in logischer Gliederung vorführt. Er hat damit eine Art «Naturgeschichte» der verschiedenen sittlichen Standpunkte gegeben, von der egoistischen Jagd nach Glück durch viele Zwischenstufen hindurch bis zu der selbstlosen Hingabe an den allgemeinen Weltprozess, durch den das göttliche Urwesen sich von der Unseligkeit des Daseins befreit.

Da Hartmann den Zweckgedanken in sein Weltbild aufnimmt, so ist es begreiflich, dass ihm die auf dem Darwinismus ruhende naturwissenschaftliche Denkweise als eine einseitige Ideenströmung erscheint. Wie die Idee im Ganzen der Welt nach dem Ziele des Nichtseins hinarbeitet, so ist auch im einzelnen der ideelle Gehalt ein zweckvoller. In der Entwicklung des Organismus sieht Hartmann einen sich verwirklichenden Zweck; und der Kampf ums Dasein mit der natürlichen Zuchtwahl sind nur Handlanger der zweckvoll waltenden Ideen. (Philosophie des Unbewussten, 10. Aufl., Band III, S. 403.)

Von verschiedenen Seiten her mündet das Gedankenleben des neunzehnten Jahrhunderts in eine Weltanschauung der Denkunsicherheit und der Trostlosigkeit.

Richard Wahle erklärt dem Denken mit aller Bestimmtheit, dass es unfähig sei, für die Lösung «überschwänglicher» höchster Fragen etwas zu tun; und Eduard von Hartmann sieht in der ganzen Kulturarbeit nur einen Umweg, um endlich die völlige Erlösung vom Dasein, als letzten Endzweck, herbeizuführen.

Gegen solche Ideenströmungen darf ein schönes Wort gehalten werden, das ein deutscher Sprachforscher, Wilhelm Wackernagel, 1843 (in seinem Buche «Über den Unterricht in der Muttersprache») niedergeschrieben hat.

Er meint, der Zweifel könne keine Grundlage zu einer Weltanschauung abgeben; er sei vielmehr eine «Injurie» gegen die Persönlichkeit, die etwas erkennen will, und ebenso gegen die Dinge, die erkannt werden sollen. «Erkenntnis fängt mit Vertrauen an.» Solches Vertrauen hat die neuere Zeit allerdings für die Ideen gezeitigt, welche auf den Methoden der naturwissenschaftlichen Forschung ruhen; nicht aber für ein Erkennen, das sich die Kraft der Wahrheit aus dem selbstbewussten Ich holt. Die Impulse, welche in den Tiefen der Entwicklung des geistigen Lebens liegen, fordern eine solche Kraft der Wahrheit. Die forschende Menschenseele fühlt instinktiv, dass sie nur durch eine solche Kraft sich befriedigt finden kann. Es ringt die philosophische Forschung nach einer solchen Kraft. Sie kann sie aber nicht in dem finden, was sie an Gedanken für eine Weltanschauung aus sich herauszutreiben vermag. Die Leistungen des Gedankenlebens bleiben hinter dem zurück, was die Seele fordert. Die naturwissenschaftlichen Vorstellungen empfangen ihre Gewissheit von der Beobachtung der Außenwelt.

Im Innern der Seele fühlt man nicht eine Kraft, welche die gleiche Gewissheit verbürgt. Man möchte Wahrheiten über die geistige Welt, über das Schicksal der Seele und deren Zusammenhang mit der Welt, die so gewonnen sind wie die naturwissenschaftlichen Vorstellungen. Der Denker, der ebenso gründlich aus dem philosophischen Denken der Vergangenheit schöpfte, wie er sich in die Art der naturwissenschaftlichen Forschung eingelebt hat, Franz Brentano, hat für die Philosophie die Forderung aufgestellt, sie müsse zu ihren Ergebnissen auf die gleiche Art gelangen wie die Naturwissenschaft. Er hoffte, dass zum Beispiel die Seelenwissenschaft (Psychologie) wegen dieser Nachbildung der naturwissenschaftlichen Methoden nicht darauf zu verzichten brauchte, Aufschluss über die wertvollsten Fragen des Seelenlebens zu gewinnen.

«Für die Hoffnungen eines Platon und Aristoteles, über das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auflösung des Leibes Sicherheit zu gewinnen, würden dagegen die Gesetze der Assoziation von Vorstellungen, der Entwicklung von Überzeugungen und Meinungen und des Keimens und Treibens von Lust und Liebe alles andere, nur nicht eine wahre Entschädigung sein ... Und wenn wirklich» - die neue naturwissenschaftliche Denkungsart - «den Ausschluss der Frage nach der Unsterblichkeit besagte, so wäre er für die Psychologie ein überaus bedeutender zu nennen.»

Solches spricht Brentano in seiner «Psychologie vom empirischen Standpunkt» 1874 (S. 20) aus. Bedeutungsvoll für die geringe Tragfähigkeit der Seelenforschung, die sich völlig der Naturwissenschaft nachbilden will, ist, dass ein solch ernster Wahrheitssucher wie Franz Brentano dem ersten Bande seiner Psychologie, der sich nur mit Fragen beschäftigt, die «alles andere, nur nicht eine wahre Entschädigung» für die höchsten Seelenfragen sein können, keinen weiteren hat nachfolgen lassen, der an die höchsten Fragen wirklich herantrete. Es fehlt den Denkern die Spannkraft, welche den Forderungen der neueren Zeit wirklich entsprechen könnte.

Der griechische Gedanke bewältigte das Naturbild und das Bild des Seelenlebens so, dass die beiden sich zu einem Gesamtgemälde vereinigten. In der Folgezeit entfaltete sich in den Tiefen des Seelenlebens das Gedankenleben selbständig, in Absonderung von der Natur; die neuere Naturwissenschaft lieferte ein Bild der Natur.

Diesem gegenüber entstand die Notwendigkeit, ein Bild des Seelenlebens - im selbstbewussten Ich - zu finden, das sich stark genug erweist, um mit dem Bilde der Natur zusammen in einem allgemeinen Weltbilde bestehen zu können. Dazu ist notwendig, in der Seele selbst einen Stützpunkt der Gewissheit zu finden, der so sicher trägt wie die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung. Spinoza glaubte ihn gefunden zu haben dadurch, dass er sein Weltbild der mathematischen Art nachbildete; Kant gibt die Erkenntnisse einer an sich bestehenden Welt preis und sucht Ideen zu gewinnen, welche durch ihre moralische Schwerkraft zwar kein Wissen, wohl aber einen sicheren Glauben ergeben sollen.

Man sieht das Streben nach einer Verknappung des Seelenlebens in dem Gesamtgebäude der Welt bei den forschenden Philosophen. Doch die Spannkraft will sich nicht einstellen, welche die Vorstellungen über das Seelenleben so gestaltet, dass daraus sich Aussichten für eine Lösung der Seelenfragen ergeben. Unsicherheit entsteht über die wahre Bedeutung dessen, was man als Mensch in der Seele erlebt.

Die Naturwissenschaft im Sinne Haeckels verfolgt die durch die Sinne wahrnehmbaren Naturvorgänge und sieht in dem Seelenleben eine höhere Stufe solcher Naturvorgänge. Andere Denker finden, dass in allem, was die Seele so wahrnimmt, nur die Wirkungen unbekannter, nie zu erkennender außermenschlicher Vorgänge gegeben sind. Die Welt wird für diese Denker zur «Illusion», wenn auch zu einer durch die menschliche Organisation naturnotwendig hervorgerufenen Illusion.

«Solange das Kunststück, um die Ecke zu schauen, das heißt ohne Vorstellung vorzustellen, nicht erfunden ist, wird es bei der stolzen Selbstbescheidung Kants sein Bewenden haben, dass vom Seienden dessen Dass, niemals aber dessen Was erkennbar ist.»

So spricht ein Philosoph aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts: Robert Zimmermann.

Für eine solche Weltanschauung segelt die Menschenseele, welche von ihrer Wesenheit - ihrem «Was» - nichts wissen kann, in dem Meer der Vorstellungen, ohne sich ihrer Fähigkeit bewusst zu werden, in dem weiten Vorstellungsmeere etwas zu finden, was Ausblicke in das Wesen des Daseins geben könnte. Hegel hatte verneint, in dem Denken selbst die innere Lebekraft zu vernehmen, welche das Menschen-Ich in das Sein führt. Der folgenden Zeit wurde das «bloße Denken» zu einem leichten Vorstellungsgebilde' das nichts in sich schließt von dem Wesen des wahren Seins.

Wo eine Meinung über einen im Denken liegenden Schwerpunkt des Wahrheitsuchens auftaucht, da klingt Unsicherheit durch die vorgebrachten Gedanken.

So, wenn Gideon Spicker sagt: «Dass das Denken an sich richtig sei, können wir nie erfahren, weder empirisch noch logisch mit Sicherheit feststellen ...» (Lessings Weltanschauung, 1883, S.5.)

In hinreißender Form hat Philipp Mainländer (1841 bis 1876) in seiner «Philosophie der Erlösung» (1876) die Vertrauenslosigkeit gegenüber dem Dasein zum Ausdruck gebracht.

Mainländer sieht sich dem Weltbilde gegenüber, zu dem die moderne Naturwissenschaft drängt. Aber er sucht vergebens nach einer Möglichkeit, das selbstbewusste Ich in einer geistigen Welt zu verankern. Er kann nicht dazu kommen, aus diesem selbstbewussten Ich heraus das zu gewinnen, wozu bei Goethe die Ansätze vorhanden waren: nämlich in der Seele innere lebendige Wesenheit auferstehen zu fühlen, welche sich als geistig-lebendig in einem Geistig-Lebendigen hinter der bloßen äußeren Natur empfindet. So erscheint ihm die Welt ohne Geist. Da er sie aber doch nur so denken kann, als ob sie aus dem Geiste stamme, so wird sie ihm zu dem Überbleibsel eines vergangenen Geisteslebens.

Ergreifend wirken Sätze wie der folgende Mainländers:

«Jetzt haben wir das Recht, diesem Wesen den bekannten Namen zu geben, der von jeher das bezeichnete, was keine Vorstellungskraft, kein Flug der kühnsten Phantasie, kein abstraktes, noch so tiefes Denken, kein gesammeltes, andachtsvolles Gemüt, kein entzückter, erdentrückter Geist je erreicht hat: Gott. Aber diese einfache Einheit ist gewesen; sie ist nicht mehr. Sie hat sich, ihr Wesen verändernd, voll und ganz zu einer Welt der Vielheit zersplittert.» (Hingewiesen sei auf Max Seilings Schrift «Mainländer, ein neuer Messias».)

Bietet der Anblick des Daseins nur Wertloses, nur den Rest von Wertvollem, so kann nur dessen Vernichtung das Ziel der Welt sein. Der Mensch kann seine Aufgabe nur darin sehen, an der Vernichtung mitzuwirken. (Mainländer endete durch Selbstmord.) Gott hat, nach der Meinung Mainländers, die Welt nur geschaffen, um sich durch sie von der Qual des eigenen Daseins zu befreien. «Die Welt ist das Mittel zum Zwecke des Nichtseins, und zwar ist die Welt das einzig mögliche Mittel zum Zwecke. Gott erkannte, dass er nur durch das Werden einer realen Welt der Vielheit ..aus dem Übersein in das Nichtsein treten könne». (Philosophie der Erlösung, S. 352).

In kraftvoller Weise ist der Dichter Robert Hamerling (1830-1889) in seinem Weltanschauungswerk «Atomistik des Willens» (das nach seinem Tode erschienen ist) der Ansicht entgegengetreten, die aus dem Mistrauen in die Welt entspringt. Er lehnt logische Untersuchungen über den Wert oder Unwert des Daseins ab und nimmt seinen Ausgangspunkt von einem ursprünglichen Erlebnis.

«Die Hauptsache ist nicht, ob die Menschen recht haben, dass sie alle, alle mit verschwindend kleinen Ausnahmen, leben wollen, leben um jeden Preis, - gleichviel, ob es ihnen gut ergeht, ob schlecht.

Die Hauptsache ist, dass sie es wollen: und dies ist schlechterdings nicht zu leugnen. Und doch rechnen mit dieser entscheidenden Tatsache die doktrinären Pessimisten nicht. Sie wägen immer nur in gelehrten Erörterungen Lust und Unlust, wie es das Lehen im besonderen bringt, verständig gegeneinander ab; aber da Lust und Unlust Gefühlssache sind, so ist es das Gefühl, und nicht der Verstand, welcher die Bilanz zwischen Lust und Unlust endgültig und entscheidend zieht. Und diese Bilanz fällt tatsächlich bei der gesamten Menschheit, ja man kann sagen bei allem, was Leben hat, zugunsten der Lust des Daseins aus.

Dass alles, was da lebt, leben will, leben unter allen Umständen, leben um jeden Preis, das ist die große Tatsache, und dieser Tatsache gegenüber ist alles doktrinäre Gerede machtlos.»

Vor Hamerlings Seele steht somit der Gedanke: In den Tiefen der Seele gibt es etwas, das an einem Dasein hängt und welches wahrer das Wesen der Seele ausspricht als die Urteile, die unter der Last neuerer naturwissenschaftlicher Vorstellungsart über den Wert des Lebens sprechen. Man möchte sagen, Hamerling ahnt in den Tiefen der Seele einen geistigen Schwerpunkt, welcher das selbstbewusste Ich im Weltenleben befestigt. Er möchte deswegen in diesem Ich etwas sehen, was dessen Dasein mehr verbürgt als die Gedankengebäude der Philosophen der neueren Zeit.

Er sieht einen Hauptfehler der neueren Weltanschauungen in der Meinung: «dass in der neuesten Philosophie so viel am Ich herumgenörgelt wird», und er möchte dies erklären «aus der Angst vor einer Seele einem Seelensein oder gar einem Seelending». Hamerling deutet bedeutungsvoll auf das, worauf es ankommt: «In den Ichgedanken spielen Gefühlsmomente hinein... Was der Geist nicht erlebt hat, das ist er auch zu denken nicht fähig ...» Es hängt für Hamerling alle höhere Weltanschauung davon ab, das Denken selbst zu fühlen, es zu erleben.

Vor die Möglichkeit eines Eindringens in diejenigen Seelentiefen, in denen die lebendigen Vorstellungen zu gewinnen sind, welche zum Erkennen des Seelenwesens - durch die innere Tragkraft des selbstbewussten Ich - führen, lagern sich für Hamerling die aus der neueren Weltanschauungsentwicklung stammenden Begriffe welche das Weltbild doch zu einem bloßen Meere von Vorstellungen machen. So leitet er denn seine Weltbetrachtungen mit Worten ein wie diese:

«Gewisse Reizungen erzeugen den Geruch in unserem Riech-Organ... . Die Rose duftet also nicht, wenn sie niemand riecht. - Gewisse Luftschwingungen erzeugen in unserem Ohr den Klang Der Klang existiert also nicht ohne ein Ohr. Der Flintenschuss würde also nicht knallen, wenn ihn niemand hörte.»

Solche Vorstellungen sind durch die Macht der neueren Weltanschauungsentwicklung zu einem so festen Bestandteil des Denkens geworden, dass Hamerling an die angeführte Auseinandersetzung die Worte fügt:

«Leuchtet dir, lieber Leser, das nicht ein und bäumt dein Verstand sich vor dieser Tatsache wie ein scheues Pferd, so lies keine Zeile weiter; lass dieses und alle anderen Bücher, die von philosophischen Dingen handeln, ungelesen; denn es fehlt dir die hierzu nötige Fähigkeit, eine Tatsache unbefangen aufzufassen und in Gedanken festzuhalten.»

Hamerling rang sich von der Seele als sein letztes poetisches Werk seinen «Homunculus». Er wollte in demselben eine Kritik der modernen Gesittung geben. In radikaler Weise entwickelt er in poetischer Bilderreihe, wohin eine seelenlos werdende, nur an die Macht der äußerlich-natürlichen Gesetze glaubende Menschheit treibe. Er macht als Dichter des «Homunculus» vor nichts halt, was ihm an der modernen Gesittung diesem falschen Glauben entsprungen scheint; als Denker streicht aber Hamerling im vollsten Sinne des Wortes doch die Segel ein vor der Vorstellungsart, die in dieser Schrift im Kapitel «Die Welt als Illusion» dargestellt ist. Er schreckt nicht zurück vor Worten wie diesen:

«Die ausgedehnte, räumliche Körperwelt existiert als solche nur, insofern wir sie wahrnehmen.

Wer dies festhält, wird begreifen, welch ein naiver Irrtum es ist, zu glauben, dass neben der von uns ,Pferd' genannten Vorstellung ... noch ein anderes, und zwar erst das rechte, wirkliche Pferd existiere, von dem unsere Anschauung eine Art von Abbild ist. Außer nur ist - wiederholt sei es gesagt - nur die Summe jener Bedingungen, welche bewirken, dass sich in meinen Sinnen eine Anschauung erzeugt, die ich Pferd nenne.»

Hamerling fühlt sich dem Seelenleben so gegenüber, als ob in dessen Vorstellungsmeer nichts hineinspielen könnte von dem Eigenwesen der Welt.

Er hat aber eine Empfindung von dem, was in den Tiefen der neueren Seelenentwicklung sich abspielt. Er fühlt: Die Erkenntnis der neuzeitlichen Menschen muss mit ihrer eigenen Wahrheitskraft lebendig in dem selbstbewussten Ich aufleuchten, wie sie sich in dem wahrgenommenen Gedanken dem griechischen Menschen dargestellt hat. Er tastet immer wieder an den Punkt, wo das selbstbewusste Ich sich innerlich mit der Kraft seines wahren Seins begabt fühlt, das zugleich sich in dem Geistesleben der Welt stehend fühlt. Da sich ihm anderes nicht offenbart, indem er so tastet, hält er sich an das in der Seele lebende Seinsgefühl, das ihm wesenhafter, daseinsvoller zu sein scheint als die bloße Vorstellung vom Ich, als der Ich-Gedanke.

«Aus dem Bewusstsein oder Gefühl des eigenen Seins gewinnen wir den Begriff eines Seins, welches über das bloße Gedachtwerden hinausgeht. Wir gewinnen den Begriff eines Seins, das nicht bloß gedacht wird, sondern denkt.»

Von diesem in seinem Existenzgefühl sich ergreifenden Ich aus sucht nun Hamerling ein Weltbild zu gewinnen. Was das Ich in seinem Existenzgefühl erlebt, ist - so spricht sich Hamerling aus - «das Atomgefühl in uns». Das Ich weiß, sich fühlend, von sich; und es weiß sich dadurch der Welt gegenüber als «Atom». Es muss sich andere Wesen so vorstellen, wie es sich selbst in sich erfindet; als sich erlebende, sich erfühlende Atome; was gleichbedeutend erscheint für Hamerling mit Willensatomen, wollenden Monaden. Die Welt wird in Hamerlings «Atomistik des Willens» zu einer Vielheit von Willensmonaden und die menschliche Seele ist eine dieser Willensmonaden.

Der Denker eines solchen Weltbildes blickt um sich und schaut die Welt zwar als Geist, doch alles, was er in diesem Geiste erblicken kann, ist Willensoffenbarung. Mehr lässt sich darüber nicht sagen. Aus diesem Weltbilde spricht nichts, was auf die Fragen antwortet: Wie steht die Menschenseele in dem Werden der Welt darinnen? Denn ob man diese Seele als das ansieht, als was sie vor allem philosophischen Denken erscheint, oder oh man sie, nach diesem Denken, als Willensmonade charakterisiert: man hat beiden Seelenvorstellungen gegenüber die gleichen Rätselfragen aufzuwerfen. Und ein mit Brentano Denkender könnte sagen:

«Für die Hoffnungen eines Platon und Aristoteles, über das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auflösung des Leibes Sicherheit zu gewinnen, würde das Wissen, dass die Seele Willensmonade unter anderen Willensmonaden ist, alles andere, nur nicht eine wahre Entschädigung sein.»

In vielen Strömungen des neueren Weltanschauungslebens bemerkt man den instinktiven (im Unterbewusstsein der Denker lebenden) Drang, im selbstbewussten Ich eine Kraft zu finden, welche nicht diejenige des Spinoza, Kant, Leibniz und anderer ist, und durch welche dieses Ich - der Kern der menschlichen Seele - so vorgestellt werden kann, dass sich die Stellung des Menschen im Weltgange und im Werden der Welt offenbare.

Zugleich zeigt sich an diesen Weltanschauungsströmungen, dass die Mittel, die angewendet werden, eine solche Kraft zu finden, nicht Spannkraft genug haben, um die «Hoffnung des Platon und Aristoteles» (im Sinne Brentanos) so zu erfüllen, wie es den neueren Seelenerfordernissen entspricht. Man bringt es dazu, Meinungen zu entwickeln, wie sich die Wahrnehmung etwa zu den Dingen außerhalb der Seele verhalten könnte, wie sich Vorstellungen entwickeln und verketten, wie Erinnerung entsteht, wie sich das Gefühl und der Wille zum Vorstellen verhalten; man schließt sich aber die Türe durch die eigene Vorstellungsart zu, wenn es sich um die «Hoffnungen des Platon und Aristoteles» handelt.

Man glaubt durch alles, was über diese «Hoffnungen» erdacht werden könnte, sogleich die Forderungen einer strengen Wissenschaftlichkeit zu verletzen, welche durch die naturwissenschaftliche Denkungsart gestellt sind.

Ein philosophisches Gedankenbild, welches sich mit seinen Ideen nirgends höher erheben will, als es der naturwissenschaftliche Boden gestattet, ist dasjenige Wilhelm Wundts (1832-1920).

Für Wundt ist Philosophie «die allgemeine Wissenschaft, welche die durch die Einzelwissenschaften vermittelten allgemeinen Erkenntnisse zu einem widerspruchslosen System zu vereinigen hat». (Wundt, System der Philosophie, S. 21.) Auf dem Wege, der mit einer derartigen Philosophie gesucht wird, ist nur möglich, die durch die Einzelwissenschaften geschaffenen Gedankengänge weiterzuführen, sie zu verbinden und zu einem übersichtlichen Ganzen zu ordnen. Das vollbringt Wundt, und er verfährt dabei so, dass das Gepräge, welches er seinen Ideen gibt, ganz abhängig ist von den Vorstellungsgewohnheiten, die sich bei einem Denker ausbilden, der - wie Wundt - ein Kenner der einzelnen Wissenschaften ist und eine Persönlichkeit, welche praktisch in einzelnen Wissensgebieten (zum Beispiel dem psychophysischen Teil der Seelenkunde) gearbeitet hat.

Wundts Blick ist auf das Weltbild gerichtet, welches durch die Sinneserfahrung von der menschlichen Seele aufgebaut wird, und auf die Vorstellungen, welche in der Seele unter dem Eindrucke dieses Weltbildes erlebt werden. Die naturwissenschaftliche Vorstellungsart betrachtet die Sinnesempfindungen so, dass sie dieselben als Wirkungen auffasst von außer dem Menschen befindlichen Vorgängen. Für Wundt ist diese Vorstellungsart in gewissem Sinne etwas Selbstverständliches. Deshalb betrachtet er als äußere Wirklichkeit diejenige, welche auf Grund der Sinneswahrnehmungen begrifflich erschlossen wird. Diese äußere Wirklichkeit wird also nicht erlebt; sie wird auf solche Art von der Seele vorausgesetzt, wie vorausgesetzt wird, es sei ein Vorgang außer dem Menschen vorhanden, der auf das Auge wirkt und im Auge durch dessen Tätigkeit die Lichtempfindung hervorruft.

Im Gegensatze hierzu werden die Vorgänge in der Seele unmittelbar erlebt. Bei diesen Vorgängen hat die Erkenntnis nichts zu erschließen, sondern nur zu beobachten, wie die Vorstellungen sich bilden, verknüpfen, wie sie mit Gefühlen und Willensimpulsen in Verbindung stehen. Innerhalb dieser Beobachtung hat man es nur mit seelischen Tätigkeiten zu tun, die im Strom des inneren Erlebens sich darbieten; außer diesem Strome des dahinflutenden Seelenlebens noch von einer in diesem Leben sich offenbarenden Seele zu sprechen, hat man keine Berechtigung. Den Naturerscheinungen die Materie zugrunde zu legen, ist berechtigt, denn man muss auf die Vorgänge in dem materiellen Sein von den Sinneswahrnehmungen aus begrifflich schließen; nicht in gleichem Sinne kann man auf eine Seele aus den seelischen Vorgängen schließen.

«Der Hilfsbegriff der Materie ist ... an die mittelbare oder begriffliche Beschaffenheit aller Naturerkenntnis gebunden. Es ist schlechterdings nicht abzusehen, wie die unmittelbare und anschauliche innere Erfahrung ebenfalls einen solchen Hilfsbegriff fordern sollte ...» (System der Philosophie, S. 369 f.).

So ist die Frage nach dem Wesen der Seele für Wundt ein Problem, zu dem im Grunde weder die Beobachtung der inneren Erlebnisse führt, noch irgend etwas, das aus diesen inneren Erlebnissen zu erschließen wäre. Wundt nimmt keine Seele wahr; nur seelische Tätigkeit.

Und diese seelische Tätigkeit stellt sich so dar, dass überall da, wo Seelisches vorliegt, ein mit diesem parallel laufender körperlicher Vorgang stattfindet. Beides, seelische Tätigkeit und körperlicher Vorgang, bilden eine Einheit: sie sind im Grunde eines und dasselbe; nur der beobachtende Mensch trennt sie in seiner Anschauung. Wundt meint, dass die wissenschaftliche Erfahrung nur solche geistige Vorgänge anerkennen kann, welche an körperliche Vorgänge gebunden sind.

Für Wundt zerfließt das selbstbewusste Ich in den seelischen Organismus der geistigen Vorgänge, die ihm das gleiche sind wie die körperlichen Vorgänge; nur dass diese, von innen angesehen, eben als geistig-seelisch erscheinen. Wenn das Ich nun aber versucht, das in sich zu erfinden, was es als ein ihm Charakteristisches ansehen kann, so entdeckt es seine Willenstätigkeit. Nur im Wollen unterscheidet es sich als selbständige Wesenheit von der übrigen Welt. Dadurch sieht es sich veranlasst, in dem Willen den Grundcharakter des Seins anzuerkennen. Es gesteht sich, dass es im Hinblick auf seine eigene Wesenheit den Quell der Welt in Willenstätigkeit annehmen darf.

Das eigene Sein der Dinge, die der Mensch in der äußeren Welt beobachtet, bleibt ihm hinter der Beobachtung verborgen; in seinem inneren Sein erkennt er den Willen als das Wesentliche; er darf schließen, dass, was von der Außenwelt her auf seinen Willen stößt, mit diesem gleichartig ist. Indem die Willenstätigkeiten der Welt in Wechselwirkung treten, bringen sie ineinander die Vorstellungen, das innere Leben der Willenseinheiten hervor.

Aus all dem ergibt sich, wie Wundt getrieben wird von dem Grundimpuls des selbstbewussten Ich. Er steigt bis zu dem sich als Willen betätigenden Ich in die eigene menschliche Wesenheit hinunter; und in dem Willenswesen des Ich stehend, fühlt er sich berechtigt, der gesamten Welt das gleiche Wesen zuzuschreiben, das die Seele in sich erlebt.

Auch aus dieser Willenswelt antwortet nichts auf die «Hoffnungen des Platon und Aristoteles».

Hamerling stellt sich den Welt- und Seelenrätseln gegenüber als ein Mensch des neunzehnten Jahrhunderts mit einer Gesinnung, welche die in seiner Zeit wirksamen Geistesimpulse in der Seele beleben. Er empfindet diese Geistesimpulse aus einem vollen freien Menschentum heraus, dem es selbstverständlich ist, die Daseinsrätselfragen zu stellen, wie es dem natürlichen Menschen selbstverständlich ist, Hunger und Durst zu fühlen. Er sagt über sein Verhältnis zur Philosophie:

«Ich habe mich vor allem als Mensch gefühlt, als ganzer voller Mensch, und da lagen mir von allen geistigen Interessen die großen Probleme des Daseins und Lebens am nächsten.» «Ich habe mich nicht plötzlich auf die Philosophie geworfen, etwa weil ich zufällig Lust dazu bekam oder weil ich mich einmal auf einem anderen Gebiete versuchen wollte. Ich habe mich mit den großen Problemen der menschlichen Erkenntnis beschäftigt von meiner frühen Jugend an, infolge des natürlichen unabweisbaren Dranges, welcher den Menschen überhaupt zur Erforschung der Wahrheit und zur Lösung der Rätsel des Daseins treibt. Auch habe ich in der Philosophie niemals eine spezielle Fachwissenschaft erblicken können, deren Studium man betreiben oder beiseite lassen kann, wie das der Statistik oder der Forstwissenschaft, sondern sie stets als die Erforschung desjenigen betrachtet, was jedem das Nächste, Wichtigste und Interessanteste ist.»

Auf den Wegen, welche Hamerling zu dieser Erforschung nahm, drängten sich in seine Betrachtung ein die Richtkräfte des Denkens, welche bei Kant dem Wissen die Macht entzogen haben, in den Daseinsquell zu dringen, und welche dann im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts die Welt als eine Vorstellungsillusion erscheinen ließen. Hamerling ergab sich diesen Richtkräften nicht unbedingt; doch lasteten sie auf seiner Betrachtung. Diese suchte im selbstbewussten Ich nach einem Schwerpunkt, in dem das Sein zu erleben ist, und glaubte diesen in dem Willen zu finden. Das Denken wollte auf Hamerling nicht so wirken, wie es auf Hegel wirkte. Es ergab sich ihm nur als «bloßes Denken», welches das Sein nicht in sich ergreifen kann, um, in sich erkraftet, in das Meer des Weltendaseins hineinzusegeln; so ergab sich Hamerling dem Willen, in dem er die Kraft des Seins zu fühlen vermeinte; und erkraftet durch den im Ich erfassten Willen dachte Hamerling in eine Welt von Willensmonaden seinskräftig unterzutauchen.

Hamerling nimmt seinen Ausgangspunkt von dem, was im Menschen ganz unmittelbar die Weltenrätselfragen wie ein seelisches Hungergefühl belebt, Wundt lässt sich zur Stellung dieser Fragen drängen durch alles das, was auf dem breiten Boden der einzelnen Wissenschaften die neuere Zeit gereift hat. In der Art, wie er aus diesen Wissenschaften heraus die Fragen stellt, waltet die eigene Kraft und Gesinnung dieser Wissenschaften; in dem, was er zur Antwort für dieses Fragen aufzubringen hat, leben wie bei Hamerling die Richtkräfte des neueren Denkens, welche aus diesem Denken die Macht entfernen, sich im Quellpunkte des Daseins zu erleben. Im Grunde wird daher Wundts Weltbild eine «bloß ideelle Überschau» über das Naturbild der neueren Vorstellungsart. Und auch bei Wundt erweist sich nur der Wille in der Menschenseele als ein Element, welches sich von der Ohnmacht des Denkens nicht um das Sein bringen lässt. Der Wille drängt sich der Weltbetrachtung so auf, dass er allwaltend im Umkreis des Daseins sich zu verraten scheint.

Mit Hamerling und Wundt stehen zwei Persönlichkeiten in der neuzeitlichen Weltanschauungsentwicklung, in deren Seelen die Kräfte wirken, welche diese Entwicklung innerhalb gewisser Strömungen hervorgebracht hat, um denkend die Welträtsel zu bewältigen, welche Erleben und Wissenschaft der Menschenseele stellen.

In beiden Persönlichkeiten wirken diese Kräfte so, dass sie in ihrer Entfaltung in sich selber nichts finden, durch das sich das selbstbewusste Ich in dem Quell seines Daseins erfühlt. Es kommen diese Kräfte vielmehr an einem Punkte an, in dem sie sich nur noch etwas bewahren können, was mit den großen Welträtseln nicht mehr sich beschäftigen kann.

Es klammern sich diese Kräfte an den Willen; doch auch aus der errungenen Willenswelt heraus tönt nichts, was «über das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auflösung des Leibes» Sicherheit gewinnen lässt, oder was dergleichen Seelen- und Weltenrätsel berührt. Solche Weltanschauungen entspringen dem natürlichen, unabweisbaren Drange, «welcher den Menschen überhaupt zur Erforschung der Wahrheit und zur Lösung der Rätsel des Daseins treibt»; aber, indem sie sich der Mittel zu dieser Lösung bedienen, welche ihnen nach der Meinung gewisser Zeitströmungen als die einzig berechtigten erscheinen, dringen sie zu einer Betrachtung vor, innerhalb welcher keine Erlebniselemente mehr vorhanden sind, um die Lösung zu bewirken. Man sieht: dem Menschen werden in einer gewissen Zeit die Weltenfragen auf ganz bestimmte Art gestellt; er empfindet instinktiv das, was ihm obliegt. An ihm ist, die Mittel der Antwort zu finden.

Er kann in der Betätigung dieser Mittel zurückbleiben hinter dem, was in den Tiefen der Entwicklung als Forderung an ihn herantritt. Philosophien, welche sich in solcher Betätigung bewegen, stellen das Ringen nach einem im Bewusstsein noch nicht vollergriffenen Ziele dar. Das Ziel der neueren Weltanschauungsentwicklung ist, im selbstbewussten Ich etwas zu erleben, was den Ideen des Weltbildes Sein und Wesen gibt; die charakterisierten philosophischen Strömungen erweisen sich ohnmächtig, es zu solchem Leben, zu solchem Sein zu bringen. Der wahrgenommene Gedanke gibt dem Ich - der selbstbewussten Seele - nicht mehr, was Dasein verbürgt; dieses Ich hat sich, um an solche Bürgschaft so glauben zu können, wie daran in Griechenland geglaubt worden ist, zu weit von dem Naturboden entfernt; und es hat in sich selbst noch nicht belebt, was dieser Naturboden, ohne seelische Eigen-Schöpfungen zu fordern, ihm einst gewährt hat.

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