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Der moderne Mensch und seine Weltanschauung

Weite Perspektiven der Weltanschauung und Lebensgestaltung suchte aus dem Darwinismus heraus der österreichische Denker Bartholomäus Carneri (1821-1909) zu eröffnen.

Er trat elf Jahre nach dem Erscheinen von Darwins «Entstehung der Arten» mit seinem Buche «Sittlichkeit und Darwinismus» (Wien 1871) hervor, in dem er in umfassender Weise die neue Ideenwelt zur Grundlage einer ethischen Weltanschauung machte. Seitdem war er unablässig bemüht, die Darwinistische Ethik auszubauen. (Vgl. seine Schriften «Grundlegung der Ethik», 1881; «Der Mensch als Selbstzweck», 1878, und «Der moderne Mensch. Versuche einer Lebensführung», 1891.)

Carneri versucht, in dem Bild der Natur die Elemente zu finden, durch welche sich das selbstbewusste Ich innerhalb dieses Bildes vorstellen lässt. Er möchte dieses Naturbild so weit und groß denken, dass es die menschliche Seele mit umfassen kann. So ist es ihm um Wiedervereinigung des Ich, das sich von dem Naturmutterboden abgetrennt hat, mit diesem Mutterboden zu tun. Er stellt in seiner Weltauffassung den Gegensatz zu derjenigen dar, welcher die Welt zur Vorstellungsillusion wird, und die dadurch auf allen Zusammenhang mit dem Weltendasein für das Wissen verzichtet.

Carneri lehnt alle Moralanschauung ab, die dem Menschen andere Sittengebote geben will als diejenigen sind, die sich aus der eigenen menschlichen Natur ergeben. Man muss an dem Gedanken festhalten, dass der Mensch nicht als ein besonderes Wesen neben allen anderen Naturdingen aufgefasst werde, sondern als ein solches, das sich aus niederen Wesenheiten allmählich nach rein natürlichen Gesetzen entwickelt hat. Carneri ist davon überzeugt, dass alles Leben wie ein chemischer Prozess ist: «Die Verdauung beim Menschen ist ein solcher wie die Ernährung der Pflanze.»

Er betont aber zugleich, dass sich der chemische Prozess zu einer höheren Entwicklungsform erheben muss, wenn er Pflanze oder Tier werden soll.

«Das Leben ist ein chemischer Prozess eigener Art, es ist der individuell gewordene chemische Prozess. Der chemische Prozess kann nämlich einen Punkt erreichen, auf welchem er gewisser Bedingungen, deren er bis dahin bedurfte, ... entraten kann.»

Man sieht, Carneri verfolgt, wie sich niedere natürliche Vorgänge steigern zu höheren, wie der Stoff durch Vervollkommnung seiner Wirkungsweisen zu höheren Daseinsformen kommt.

«Als Materie fassen wir den Stoff, insofern die aus seiner Teilbarkeit und Bewegung sich ergebenden Erscheinungen körperlich, das ist als Masse, auf unsere Sinne wirken. Geht die Teilung oder Differenzierung so weit, dass die daraus sich ergebenden Erscheinungen nicht mehr sinnlich, sondern nur mehr dem Denker wahrnehmbar sind, so ist die Wirkung des Stoffes eine geistige.»

Auch das Sittliche ist nicht als eine besondere Form des Daseins vorhanden; es ist ein Naturprozess auf einer höheren Stufe. Es kann demnach nicht die Frage entstehen: Was soll der Mensch im Sinne irgendwelcher besonders für ihn geltenden Sittengebote tun? - sondern nur die: Was erscheint als Sittlichkeit, wenn die niederen Vorgänge sich zu den höchsten geistigen steigern?

«Während die Moralphilosophie bestimmte Sittengesetze aufstellt und zu halten befiehlt, damit der Mensch sei, was er soll, entwickelt die Ethik den Menschen, wie er ist, darauf sich beschränkend, ihm zu zeigen, was noch aus ihm werden kann: dort gibt es Pflichten, deren Befolgung Strafen zu erzwingen suchen, hier gibt es ein Ideal, von dem aller Zwang ablenken würde, weil die Annäherung nur auf dem Wege der Erkenntnis und Freiheit vor sich geht.»

So wie der chemische Prozess sich auf höherer Stufe zum Lebewesen individualisiert, so erhebt sich auf noch höherer das Leben zum Selbstbewusstsein. Das seiner selbst bewusste Wesen sieht nicht mehr bloß hinaus in die Natur; es schaut in sich hinein.

«Das erwachende Selbstbewusstsein war, dualistisch aufgefasst, ein Bruch mit der Natur, und der Mensch fühlte sich von ihr getrennt. Der Riss war nur für ihn da, aber für ihn war er vollständig. So plötzlich, wie es die Genesis lehrt, war er nicht entstanden, wie auch die Schöpfungstage nicht wörtlich zu nehmen sind; aber mit der Vollendung des Selbstbewusstseins war der Riss eine Tatsache, und mit dem Gefühl grenzenloser Vereinsamung, das damit den Menschen überkam, hat seine ethische Entwicklung begonnen.»

Bis zu einem gewissen Punkte führt die Natur das Leben. Auf diesem Punkte entsteht das Selbstbewusstsein, es entsteht der Mensch.

«Seine weitere Entwicklung ist sein eigenes Werk, und, was auf der Bahn des Fortschritts ihn erhalten hat, war die Macht und allmähliche Klärung seiner Wünsche.»

Für alle übrigen Wesen sorgt die Natur: den Menschen begabt sie mit Begierden, für deren Befriedigung sie ihn selbst sorgen lässt. Er hat den Trieb in sich, sich sein Dasein seinen Wünschen entsprechend zu gestalten. Dieser Trieb ist der Glückseligkeitstrieb.

«Dem Tiere ist dieser Trieb fremd: es kennt nur den Selbsterhaltungstrieb, und ihn zum Glückseligkeitstrieb zu erheben, hat das menschliche Selbstbewusstsein zur Grundbedingung.»

Das Streben nach Glück liegt allem Handeln zugrunde.

«Der Märtyrer, der hier für seine wissenschaftliche Überzeugung, dort für seinen Gottesglauben das Leben hingibt, hat auch nichts anderes im Sinn als sein Glück; jener findet es in seiner Überzeugungstreue, dieser sucht es in einer besseren Welt. Allen ist Glückseligkeit das letzte Ziel und wie verschieden auch das Bild sein mag, das sich das Individuum von ihr macht, von den rohesten Zeiten bis zu den gebildetsten, ist sie dem empfindenden Lebewesen Anfang und Ende seines Denkens und Fühlens.»

Da die Natur dem Menschen nur das Bedürfnis nach dem Glücke gibt, muss das Bild des Glückes aus ihm selbst entspringen. Der Mensch schafft sich die Bilder seines Glückes. Sie entspringen aus seiner ethischen Phantasie. In dieser Phantasie findet Carneri den neuen Begriff, der unserem Denken die Ideale unseres Handelns vorzeichnet. Das «Gute» ist für Carneri «identisch mit Fortentwicklung. Und da die Fortentwicklung Lust ist, so bildete ... die Glückseligkeit nicht nur das Ziel, sondern auch das bewegende Element, das dem Ziel entgegentreibt.» Carneri suchte den Weg zu finden von der Naturgesetzlichkeit zu den Quellen des Sittlichen. Er glaubt die ideale Macht gefunden zu haben, die als treibendes Element der sittlichen Weltordnung ebenso schöpferisch von ethischem Vorkommnis zu ethischem Vorkommnis wirkt, wie die materiellen Kräfte im Physischen Gebilde aus Gebilde, Tatsache aus Tatsache entwickeln.

Die Vorstellungsart Carneris ist ganz im Sinne der Entwicklungsidee, die nicht das Spätere im Früheren schon vorgebildet sein lässt, sondern der das Spätere eine wirkliche Neubildung ist. (Vgl. I. Band, S.286 ff.) Der chemische Prozess enthält nicht das tierische Leben schon eingewickelt, die Glückseligkeit bildet sich als vollkommen neues Element auf Grund des Selbsterhaltungstriebes der Tiere.

Die Schwierigkeit, die in diesem Gedanken liegt, gab einem scharfsinnigen Denker, W. H. Rolph, den Anstoß zu den Ausführungen, die er in dem Buche «Biologische Probleme, zugleich als Versuch zur Entwicklung einer rationellen Ethik» niedergelegt hat. (Leipzig 1884.)

Rolph fragt sich: Welches ist der Grund, dass eine Lebensform nicht auf einer bestimmten Stufe stehen bleibt, sondern sich weiterentwickelt, vervollkommnet? Wer das Spätere in dem Früheren schon eingewickelt sein lässt, findet in dieser Frage keine Schwierigkeit. Denn es ist für ihn ohne weiteres klar, dass sich das Eingewickelte in einem bestimmten Zeitpunkt auswickelt. Rolph aber wollte sich diese Antwort nicht geben. Anderseits genügte ihm aber auch der bloße «Kampf ums Dasein» der Lebewesen nicht. Kämpft ein Lebewesen nur um Erfüllung seiner notwendigen Bedürfnisse, so wird es zwar andere schwächere Formen aus dem Felde schlagen; aber es wird selbst das bleiben, was es ist. Will man in dasselbe nicht ein geheimnisvolles, mystisches Streben nach Vervollkommnung legen, so muss man die Gründe zu dieser Vervollkommnung in äußeren, natürlichen Verhältnissen suchen.

Rolph findet sie darin, dass jedes Wesen seine Bedürfnisse in reichlicherem Maße befriedigt, wenn dazu die Möglichkeit vorhanden ist, als die unmittelbare Notdurft verlangt.

«Erst durch die Einführung der Unersättlichkeit wird das Darwinistische Prinzip der Vervollkommnung im Lebenskampfe annehmbar. Denn nun erst haben wir eine Erklärung für die Tatsache, dass das Geschöpf, wo immer es kann, mehr erwirbt, als es zur Erhaltung seines Status quo bedarf, dass es im Übermaß wächst, wo die Gelegenheit dazu gegeben ist.» (Biologische Probleme, S.96 f.)

Nach Rolphs Meinung spielt sich im Reich der Lebewesen nicht ein Kampf um die Erwerbung der notwendigsten Lebensbedürfnisse ab, sondern ein «Kampf um Mehrerwerb».

«Während es also für den Darwinisten überall da keinen Daseinskampf gibt, wo die Existenz des Geschöpfes nicht bedroht ist, ist für mich der Kampf ein allgegenwärtiger. Er ist eben primär ein Lebenskampf, ein Kampf um Lebensmehrung, aber kein Kampf ums Dasein.» (Biologische Probleme, S. 97.)

Rolph zieht aus diesen naturwissenschaftlichen Voraussetzungen die Folgerungen für die Ethik. «Lebensmehrung, nicht Lebenserhaltung, Kampf um Bevorzugung, nicht um Existenz ist die Losung. Der bloße Erwerb der Lebensnotdurft und Nahrung genügt nicht, es muss auch Gemächlichkeit, wenn nicht gar Reichtum, Macht und Einfluss erworben werden. Die Sucht, das Streben nach stetiger Verbesserung der Lebenslage ist der charakteristische Trieb von Tier und Mensch.» (Biologische Probleme, S. 222 f.)

Von Rolphs Gedanken angeregt wurde Friedrich Nietzsche (1844-1900) zu seinen Entwicklungsideen, nachdem er erst durch andere Gestaltungen seines Seelenlebens hindurchgegangen war. Er stand im Beginne seiner schriftstellerischen Laufbahn dem Entwicklungsgedanken wie überhaupt der Naturwissenschaft fern.

Er empfing zunächst einen großen Eindruck von der Weltanschauung Arthur Schopenhauers. Der Schmerz auf dem Grunde alles Daseins ist eine Vorstellung, die er von Schopenhauer aufnahm. Er suchte die Erlösung von diesem Schmerz nicht in der Erfüllung moralischer Aufgaben wie Schopenhauer und Eduard von Hartmann; er glaubte vielmehr, dass die Gestaltung des Lebens zum Kunstwerke über den Daseinsschmerz hinwegführe. Die Griechen haben sich eine Welt des Schönen, des Scheins erschaffen, um sich das schmerzerfüllte Dasein erträglich zu machen.

Und in Richard Wagners musikalischem Drama glaubte er eine Welt zu finden, die durch das Schöne den Menschen über den Schmerz erhebt. Es war in gewissem Sinne eine Welt der Illusion, die Nietzsche ganz bewusst suchte, um über das Elend der Welt hinwegzukommen. Er war der Meinung, dass der ältesten griechischen Kultur der Trieb des Menschen zugrunde liege, sich durch Versetzung in einen Rauschzustand zum Vergessen der wirklichen Welt zu bringen.

«Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinschaft. Er hat das Gehen und Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen.»

So schildert und erläutert Nietzsche den Kultus der alten Dionysos-Diener, in dem die Wurzel aller Kunst liegt. Sokrates habe diesen dionysischen Trieb dadurch gebändigt, dass er den Verstand zum Richter über die Impulse gesetzt habe. Der Satz «Die Tugend ist lehrbar», bedeutet die Ablösung einer umfassenden impulsiven Kultur durch eine verwässerte, vom Denken im Zaum gehaltene.

Solche Ideen entstanden in Nietzsche unter Schopenhauers Einfluss, der den ungebändigten, rastlosen Willen über die ordnende Vorstellung setzte, und durch Richard Wagner, der sich als Mensch und Künstler zu Schopenhauer bekannte. Aber Nietzsche war, seinem Wesen nach, zugleich eine betrachtende Natur. Er empfand, nachdem er sich der Anschauung von einer Welterlösung durch den schönen Schein eine Zeitlang hingegeben hatte, diese Anschauung als ein fremdes Element in seinem eigensten Wesen, das durch den persönlichen Einfluss des ihm befreundeten Richard Wagner in ihn verpflanzt worden war. Er suchte sich von dieser Ideenrichtung loszumachen und einer ihm entsprechenderen Auffassung der Wirklichkeit hinzugeben.

Nietzsche war durch den Grundcharakter seiner Persönlichkeit dazu gedrängt, in sich die Ideen und Impulse der neueren Weltanschauungsentwicklung als unmittelbares individuelles Schicksal zu erleben. Andere haben Weltanschauungsbilder geformt, und in diesem Formen ging ihr Philosophieren auf. Nietzsche stellt sich den Weltanschauungen der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gegenüber. Und sein Schicksal wird es, alle Seligkeit, aber auch alles Leid persönlich durchzuleben, das diese Weltanschauungen erzeugen können, wenn sie sich über das ganze Sein der Menschenseele ergießen. Nicht theoretisch, nein, mit Einsetzung seiner ganzen Individualität gestaltete sich das Weltanschauungsleben in Nietzsche so, dass charakteristische Weltanschauungen der neueren Zeit ihn ganz ergriffen und er im allerpersönlichsten Dasein die Lebenslösungen durchdringen musste. Wie lässt sich leben, wenn man sich vorzuhalten hat, die Welt sei so, wie sie von Schopenhauer und Richard Wagner vorgestellt wird, das wurde für ihn das Rätsel; aber nicht ein Rätsel, auf das er durch Denken, durch Wissen Antwort suchte, sondern dessen Lösung er mit jeder Faser seines Wesens erleben musste.

Andere denken Philosophie; Nietzsche musste Philosophie leben. Das neuere Weltanschauungsleben wird in Nietzsche selbst Persönlichkeit. Dem Betrachter treten die Weltanschauungen anderer Denker so entgegen, dass ihm die Vorstellungen aufstoßen: das ist einseitig, das ist unrichtig usw.; bei Nietzsche sieht sich dieser Betrachter dem Leben der Weltanschauung in einem Menschenwesen gegenübergestellt; und er sieht, dieses Menschenwesen wird gesund durch die eine, leidend durch die andere Idee.

Dies ist der Grund, warum Nietzsche immer mehr in seiner Weltanschauungsdarstellung zum Dichter wird, und warum derjenige, der sich mit dieser Darstellung als Philosophie nicht befreunden will, noch immer sie durch ihre dichterische Kraft bewundern kann. Welch ein ganz anderer Ton kommt in die neuere Weltanschauungsentwicklung durch Nietzsche als durch Hamerling, Wundt, ja selbst durch Schopenhauer! Diese suchen durch Betrachtung nach dem Daseinsgrunde und kommen zu dem Willen, den sie in den Tiefen der Menschenseele finden. In Nietzsche lebt dieser Wille; und er nimmt in sich auf die philosophischen Ideen, durchglüht sie mit seiner Willensnatur und stellt dann ein Neues hin: ein Leben, in dem willengetragene Idee, ideen-durchleuchteter Wille pulsen.

So geschieht es durch Nietzsche in seiner ersten Schaffensperiode, die mit der «Geburt der Tragödie» 1870) begann, und die in den vier «Unzeitgemäßen Betrachtungen» (David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller; Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben; Schopenhauer als Erzieher; Richard Wagner in Bayreuth) zur Offenbarung kam.

In einer zweiten Lebensperiode war es Nietzsches Geschick, zu durchleben, was der Menschenseele eine Weltanschauung sein kann, welche nur auf die naturwissenschaftlichen Denkgewohnheiten sich stützt. Dieser Lebensabschnitt kommt in den Werken «Menschliches, Allzumenschliches» (1878), «Morgenröte», «Die fröhliche Wissenschaft» (1881) zum Ausdrucke. Die Ideale, die Nietzsches Seele in seiner ersten Periode beleben, erkalten in ihm nun; sie erweisen sich als leichte Erkenntnis-Schaumgebilde; die Seele will sich durchkraften, in ihrem Erfühlen verstärken durch den «realen» Inhalt dessen, was die naturwissenschaftliche Vorstellungsart geben kann.

Doch Nietzsches Seele ist voll Leben; die Kraft dieses inneren Lebens strebt hinaus über das, was sie der Naturbetrachtung verdanken kann. Die Naturbetrachtung zeigt, wie das Tier zum Menschen wird, im Erfühlen der inneren Lebekraft der Seele entsteht die Vorstellung: Das Tier hat den Menschen in sich getragen; muss nicht der Mensch in sich ein Höheres, den Übermenschen tragen? Und nun erlebt Nietzsches Seele in sich das Sich-Entringen des Übermenschen aus dem Menschen; diese Seele schwelgt darin, die neuere Entwicklungsidee, welche sich auf die Sinneswelt stützt, hinaufzuheben in das Gebiet, das die Sinne nicht schauen, das erfühlt wird, wenn die Seele den Sinn der Entwicklung in sich erlebt. Was Rolph durch seine Betrachtung sich errungen hat: «Der bloße Erwerb der Lebensnotdurft und Nahrung genügt nicht, es muss auch Gemächlichkeit, wenn nicht gar Reichtum, Macht und Einfluss erworben werden. Die Sucht, das Streben nach stetiger Verbesserung der Lebenslage ist der charakteristische Trieb von Tier und Mensch», - bei Nietzsche wird dies Betrachtungsergebnis zum inneren Erlebnis, zum grandiosen Erkenntnishymnus.

Das Erkennen, das die Außenwelt wiedergibt, genügt nicht: es muss diese Erkenntnis in sich fruchtbar sich steigern; Selbstbetrachtung ist innere Armut. Erzeugnis eines neuen Innern, das alles überstrahlt, was der Mensch in sich schon ist, ersteht in Nietzsches Seele: im Menschen wird das Noch-nicht-Daseiende, der Übermensch, als der Sinn des Daseins, geboren. Erkenntnis wächst über das hinaus, was sie war; sie wird zur schaffenden Macht. Und indem der Mensch schafft, stellt er sich in den Sinn des Lebens hinein. In lyrischen Schwung. kleidet sich bei Nietzsche in seinem «Zarathustra» (1884) das, was seine Seele erfühlt; erlebt in der Schaffensseligkeit des «Übermenschen» aus dem Menschen heraus. Solch sich schaffend fühlende Erkenntnis empfindet im Ich des Menschen mehr, als was sich im Einzel-Lebenslaufe ausleben lässt; was da in diesem Einzelleben vorhanden ist, kann sich in diesem nicht erschöpfen. Es wird immer wiederkehren zu neuem Leben. So drängte sich bei Nietzsche zur Idee des Übermenschen diejenige der «ewigen Wiederkehr» der Menschenseele hinzu.

Rolphs Idee von der «Lebensmehrung» wächst sich bei Nietzsche zu der Vorstellung des «Willens zur Macht» aus, den er allem Sein und Leben in Tier- und Menschen weit zuschreibt. Dieser sieht im Leben «Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigener Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens Ausbeutung». In «Also sprach Zarathustra» hat Nietzsche dem Glauben an die Wirklichkeit, an die Entwicklung des Menschen zum «Übermenschen» ein «Hohes Lied» gesungen; in dem unvollendet gebliebenen Werke «Der Wille zur Macht (Umwertung aller Werte)» wollte er die Umprägung aller Vorstellungen von dem Gesichtspunkte aus vollziehen, dass kein anderer Wille im Menschen die höchste Herrschaft habe als allein derjenige zur «Macht».

Das Erkenntnisstreben wird bei Nietzsche zu einem Daseinswesen, das sich in der Menschenseele belebt. Indem Nietzsche diese Belebung in sich erfühlt, stellt sich ihm das Leben über die nicht zum Leben sich befeuernde Erkenntnis und Wahrheit. Das hat bei ihm zu einer Absage an alle Wahrheit geführt und zum Ersatz des Willens zur Wahrheit durch den «Willen zur Macht», der nicht mehr fragt: Ist eine Erkenntnis wahr, sondern: Ist sie lebenerhaltend, lebenfördernd?

«Bei allem Philosophieren handelte es sich gar nicht um ,Wahrheit, sondern um etwas ganz anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachstum, Macht, Leben ... »

Eigentlich strebte der Mensch immer nach Macht; nur gab er sich der Illusion hin, dass er «Wahrheit» wolle. Er verwechselte das Mittel mit dem Zweck. Die Wahrheit ist nur Mittel zum Zweck «Macht». «Die Falschheit eines Urteils ist noch kein Einwand gegen das Urteil.» Es kommt nicht darauf an, ob ein Urteil wahr ist, sondern «wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, arterhaltend, vielleicht gar artzüchtend» ist. «Das meiste Denken des Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen.»

Nietzsches Weltanschauung ist persönliche Empfindung als individuelles Erlebnis und Schicksal. Bei Goethe trat der tiefe Impuls des neueren Weltanschauungslebens hervor; er fühlte im selbstbewussten Ich die Idee sich so beleben, dass mit der belebten Idee dieses Ich sich im Innern des Weltendaseins wissen kann; bei Nietzsche ist der Trieb vorhanden, den Menschen über sich hinausleben zu lassen; er fühlt, dass dann im innerlich Selbsterzeugten der Sinn des Lebens sich enthüllen muss. Doch er dringt nicht wesenhaft vor zu dem, was sich im Menschen über den Menschen hinaus als Sinn des Lebens erzeugt. Er besingt in grandioser Weise den Übermenschen, doch er gestaltet ihn nicht; er fühlt sein webendes Dasein, doch er schaut ihn nicht. Er spricht von einer «ewigen Wiederkehr», doch er schildert nicht, was wiederkehrt. Er spricht von Lebenserhöhung durch den Willen zur Macht, doch die Gestalt des erhöhten Lebens - Wo ist deren Schilderung? Nietzsche spricht von etwas, das im Unbekannten da sein muss, doch bleibt es bei der Hindeutung auf das Unbekannte. Die im selbstbewussten Ich entfalteten Kräfte reichen auch bei Nietzsche nicht aus, um anschaulich zu schaffen, wovon er weiß, dass es webt und weht in der Menschennatur.

Ein Gegenbild hat Nietzsches Weltauffassung in der materialistischen Geschichtsauffassung und Lebensanschauung, die ihren prägnantesten Ausdruck durch Karl Marx (1818-1883) gefunden hat. Marx hat der Idee jeden Anteil an der geschichtlichen Entwicklung abgesprochen.

Was dieser Entwicklung wirklich zugrunde liegen soll, sind die realen Faktoren des Lebens, aus denen die Meinungen über die Welt entstanden sind, welche sich die Menschen haben bilden können, je nachdem sie in ihre besonderen Lebenslagen gebracht worden sind. Der physisch Arbeitende, von einem andern beherrscht, hat eine andere Weltauffassung als der geistig Arbeitende. Ein Zeitalter, das eine alte Wirtschaftsform durch eine andere ersetzt, bringt auch andere Lebensanschauungen an die Oberfläche der Geschichte.

Will man irgendein Zeitalter verstehen, so muss man zur Erklärung seine sozialen Verhältnisse, seine wirtschaftlichen Vorkommnisse heranziehen. Alle politischen und geistigen Strömungen sind nur ein an der Oberfläche sich abspielendes Spiegelbild dieser Vorkommnisse. Sie stellen sich ihrem Wesen nach als ideale Folgen der realen Tatsachen dar; an diesen Tatsachen selbst haben sie keinen Anteil. Es kann somit auch keine durch ideale Faktoren zustande gekommene Weltanschauung Anteil haben an der Fortentwicklung der gegenwärtigen Lebensführung; sondern es ist die Aufgabe, die realen Konflikte da aufzunehmen, wo sie heute angelangt sind und sie in gleichem Sinne fortzuführen.

Diese Anschauung ist durch eine materialistische Umdeutung des Hegelianismus entstanden. Bei Hegel ist die Idee in ewiger Fortentwicklung, und die Folgen dieser Fortentwicklung sind die tatsächlichen Vorkommnisse des Lebens.

Was August Comte aus naturwissenschaftlichen Vorstellungen heraus gestaltet, eine Gesellschaftsauffassung auf der Grundlage der tatsächlichen Vorkommnisse des Lebens, dazu will Karl Marx durch die unmittelbare Anschauung der wirtschaftlichen Entwicklung gelangen. Der Marxismus ist die kühnste Ausgestaltung einer Geistesströmung, die in der Beobachtung der äußeren, der unmittelbaren Wahrnehmung zugänglichen geschichtlichen Erscheinungen den Ausgangspunkt nimmt, um das geistige Leben, die ganze Kulturentwicklung des Menschen zu verstehen.

Es ist dies die moderne «Soziologie». Sie nimmt den Menschen nach keiner Richtung hin als Einzelwesen, sondern als ein Glied der sozialen Entwicklung. Wie der Mensch vorstellt, erkennt, handelt, fühlt: das alles wird als ein Ergebnis sozialer Mächte aufgefasst, unter deren Einfluss der einzelne steht.

Hippolyte Taine (1828-1893) nennt die Gesamtheit der Mächte, die jedes Kulturvorkommnis bestimmen, das «Milieu». Jedes Kunstwerk, jede Einrichtung, jede Handlung ist aus den vorhergehenden und gleichzeitigen Umständen zu erklären. Kennt man Rasse, Milieu und Moment, aus denen und in dem ein menschliches Werk entsteht, so hat man es erklärt. Ferdinand Lasalle (1825 bis 1864) hat in seinem «System der erworbenen Rechte» gezeigt, wie Rechtseinrichtungen: Eigentum, Vertrag, Familie, Erbrecht usw. aus den Vorstellungskreisen eines Volkes entstehen und sich entwickeln. Die Vorstellungsart des Römers hat eine andere Art von Rechten geschaffen als die des Deutschen.

Es wird bei allen diesen Gedankenkreisen nicht die Frage aufgeworfen: Was entsteht im einzelnen menschlichen Individuum, was vollbringt dieses aus seiner ureigensten Natur heraus? sondern die: Welche Ursachen liegen in den geselligen sozialen Verbänden für den Lebensinhalt des einzelnen? Man kann in dieser Strömung eine entgegengesetzte Vorliebe gegenüber derjenigen sehen, die in bezug auf die Fragen nach dem Verhältnis des Menschen zur Welt am Anfange des Jahrhunderts geherrscht hat. Damals fragte man: Welche Rechte kommen dem einzelnen Menschen durch seine eigene Wesenheit zu (Naturrechte), oder wie erkennt der Mensch in Gemäßheit seiner individuellen Vernunft?

Die soziologische Strömung fragt dagegen: Welche Rechtsvorstellungen, welche Erkenntnisbegriffe legen die sozialen Verbände in den einzelnen? Dass ich mir gewisse Vorstellungen über die Dinge mache, hängt nicht von meiner Vernunft ab, sondern ist ein Ergebnis der Entwicklung, aus der ich herausgeboren bin.

In dem Marxismus wird das selbstbewusste Ich seiner eigenen Wesenheit völlig entkleidet; es treibt in dem Meere der Tatsachen, welche nach den Gesetzen der Naturwissenschaft und der sozialen Verhältnisse sich abspielen. In dieser Weltauffassung drängt die Ohnmacht des neueren Philosophierens gegenüber der Menschenseele zu einem Extrem.

Das «Ich» - die selbstbewusste Menschenseele - will in sich das Wesen finden, durch das es sich im Weltendasein Geltung schafft; es will aber nicht in sich sich vertiefen; es fürchtet, in den eigenen Tiefen nicht das zu finden, was ihm Dasein und Wesenheit gibt. Es will sich aus einem Wesen, das außer ihm liegt, seine eigene Wesenheit verleihen lassen.

Dabei wendet es sich nach den Denkgewohnheiten, welche die neuere Zeit unter naturwissenschaftlichem Einfluss erzeugt hat, entweder an die Welt des materiellen Geschehens oder des sozialen Werdens. Es glaubt, sich im Lebensganzen zu verstehen, wenn es sich sagen kann: Ich bin von diesem Geschehen, von diesem Werden in einer gewissen Art bedingt.

An solchem Weltanschauungsstreben tritt hervor, wie in den Seelen Kräfte nach Erkenntnis hinarbeiten, von denen diese Seelen ein dunkles Gefühl haben, denen sie aber zunächst keine Befriedigung verschaffen können mit dem, was die neueren Denk- und Forschungsgewohnheiten hervorgebracht haben.

Ein dem Bewusstsein verborgenes Geistesleben arbeitet in den Seelen. Es treibt diese Seelen, in das selbstbewusste Ich so tief hinunterzusteigen, dass dieses Ich in seinen Tiefen etwas finden kann, was in den Quell des Weltendaseins führt, - in jenen Quell, in dem die Menschenseele sich mit einem Weltenwesen verwandt fühlt, das nicht in den bloßen Naturerscheinungen und Naturwesen selbst zutage tritt.

Diesen Naturerscheinungen und Naturwesen gegenüber hat es die neuere Zeit zu einem Ideal der Forschung gebracht, mit dem sie sich in ihrem Suchen sicher fühlt. So sicher fühlen möchte man sich nun auch bei Erforschung der menschlichen Seelenwesenheit. Die vorangehenden Ausführungen haben gezeigt, wie bei tonangebenden Denkern das Streben nach solcher Sicherheit im Forschen zu Weltbildern geführt hat, welche nichts mehr von Elementen enthalten, aus denen befriedigende Vorstellungen über die Menschenseele gewonnen werden können.

Man will die Philosophie naturwissenschaftlich gestalten; doch man verliert bei dieser Gestaltung den Sinn der philosophischen Fragestellungen. Die Aufgabe, welche der Menschenseele aus ihren Tiefen herauf gestellt ist, geht weit über dasjenige hinaus, was die Denkerpersönlichkeiten als sichere Forschungsweisen nach den neueren Denkgewohnheiten anerkennen wollen.

Überblickt man die so charakterisierte Lage der neueren Weltanschauungsentwicklung, so ergibt sich als ihr hervorragendstes Kennzeichen der Druck, welchen die naturwissenschaftliche Denkungsart seit ihrem Emporblühen auf die Geister ausgeübt hat. Und als Grund für diesen Druck erkennt man die Fruchtbarkeit, die Tragkraft dieser Denkungsart.

Man blicke, um das bekräftigt zu sehen, auf einen naturwissenschaftlichen Denker wie Thomas Henry Huxley (1825-1895). Dieser bekennt sich nicht zu der Ansicht, dass in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis etwas gesehen werden könne, was die letzten Fragen über die Menschenseele beantwortet. Aber er glaubt, dass das menschliche Forschen innerhalb der naturwissenschaftlichen Betrachtungsart stehenbleiben und sich eingestehen müsse, der Mensch habe eben kein Mittel, um ein Wissen über das zu erwerben, was hinter der Natur liegt. Es ist das Ergebnis dieser Meinung: Naturwissenschaft sagt nichts aus über des Menschen höchste Erkenntnishoffnungen; aber sie gibt das Gefühl, dass sie das Forschen auf einen sicheren Boden stellt; also lasse man alles andere, was nicht in ihrem Bereich liegt, auf sich beruhen oder Gegenstand des Glaubens sein.

Deutlich ausgeprägt zeigt sich die Wirkung dieses aus der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart kommenden Druckes an der Gedankenströmung, die unter dem Namen des «Pragmatismus» an der Wende des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts alles menschliche Wahrheitsstreben auf einen sicheren Boden stellen will.

Der Name «Pragmatismus» stammt aus einem 1878 in der amerikanischen Zeitschrift «Popular Science» von Charles Peirce veröffentlichten Aufsatz. Die wirkungsvollsten Träger dieser Vorstellungsart sind William James (1842-1910) in Amerika und F. C. Schiller in England. (Der letztere gebraucht den Namen «Humanismus»: vgl. «Humanism» 1903, «Studies in Humanism» 1907.)

Man kann den Pragmatismus Unglauben an die Kraft des Gedankens nennen. Er spricht dem Denken, das in sich bleiben wollte, die Fähigkeit ab, etwas zu erzeugen, das sich als Wahrheit, als durch sich berechtigte Erkenntnis ausweisen kann. Der Mensch steht den Vorgängen der Welt gegenüber und muss handeln. Dabei dient ihm das Denken als Helfer. Es fasst die Tatsachen der äußeren Welt in Ideen zusammen, kombiniert sie. Und diejenigen Ideen sind die besten, welche dem Menschen zu rechtem Handeln so verhelfen, dass er seine Ziele im Einklange mit den Welterscheinungen finden kann.

Und solche beste Ideen anerkennt der Mensch als seine Wahrheit. Der Wille ist Herrscher im Verhältnis des Menschen zur Welt, nicht das Denken. In seinem Buche «Der Wille zum Glauben» (1899 ins Deutsche übersetzt) spricht sich James so aus:

«Der Wille bestimmt das Leben, das ist sein Urrecht; also wird er auch ein Recht haben, auf die Gedanken einen Einfluss zu üben. Nicht zwar auf die Feststellung der Tatsachen im einzelnen: hier soll sich der Verstand allein nach den Tatsachen selbst richten; wohl aber auf die Auffassung und Deutung der Wirklichkeit im ganzen. Reichte die wissenschaftliche Erkenntnis bis an das Ende der Dinge, dann möchten wir allein durch Wissenschaft leben. Da sie uns nur die Ränder des dunklen Kontinents, den wir das Universum nennen, ein wenig erleuchtet, und da wir uns doch auf unsere Gefahr irgendwelche Gedanken von dem Universum, dem wir mit unserem Leben angehören, bilden müssen, so werden wir recht tun, wenn wir uns solche Gedanken bilden, die unserem Wesen entsprechen; Gedanken, die uns ermöglichen, zu wirken, zu hoffen, zu leben.»

Der Gedanke hat nach dieser Anschauung kein Eigenleben, das sich in sich vertiefen und, etwa im Sinne Hegels, zum Quell des Daseins dringen könne; er leuchtet im menschlichen Ich nur auf, um dem Ich zu folgen, wenn es wollend und lebend in die Welt eingreift.

Der Pragmatismus entkleidet den Gedanken der Macht, welche er seit dem Heraufkommen der griechischen Weltanschauung gehabt hat. Die Erkenntnis ist dadurch zu einem Erzeugnis des menschlichen Wollens gemacht; sie kann im Grunde nicht mehr das Element sein, in welches der Mensch untertaucht, um sich selbst in seinem wahren Wesen zu finden. Das selbstbewusste Ich taucht nicht denkend in sich unter; es verliert sich in die dunklen Untergründe des Willens, in denen der Gedanke nichts beleuchtet als die Ziele des Lebens, die als solche aber nicht aus dem Gedanken entspringen.

Die Macht der äußeren Tatsachen über den Menschen ist überstark geworden; das Bewusstsein, im Eigenleben des Denkens ein Licht zu finden, das letzte Daseinsfragen beleuchtet, ist auf den Nullpunkt herabgesunken. Im Pragmatismus ist die Leistung der neueren Weltanschauungsentwicklung am meisten von dem entfernt, was der Geist dieser Entwicklung fordert: mit dem selbstbewussten Ich denkend in Weltentiefen sich zu finden, in denen sich dieses Ich so mit dem Quellpunkt des Daseins verbunden fühlt wie das griechische Forschen durch den wahrgenommenen Gedanken. Dass dieser Geist ein solches fordert, offenbart sich aber besonders durch den Pragmatismus.

Er stellt «den Menschen» in den Blickpunkt seines Weltbildes. Am Menschen soll sich zeigen, wie Wirklichkeit im Dasein waltet. So richtet sich die Hauptfrage nach dem Elemente, in dem das selbstbewusste Ich ruht. Aber die Kraft des Gedankens reicht nicht aus, Licht in dieses Element zu tragen.

Der Gedanke bleibt in den oberen Schichten der Seele zurück, wenn das Ich den Weg in seine Tiefen gehen will.

Auf den gleichen Wegen wie der Pragmatismus wandelt in Deutschland die «Philosophie des Als ob» Hans Vaihingers (1852-1933).

Dieser Philosoph sieht in den leitenden Ideen, welche sich der Mensch über die Welterscheinungen macht, nicht Gedankenbilder, durch die sich die erkennende Seele in eine geistige Wirklichkeit hineinstellt, sondern Fiktionen, die ihn führen, wenn es gilt, sich in der Welt zurechtzufinden.

Das «Atom» zum Beispiel ist unwahrnehmbar. Der Mensch bildet den Gedanken des «Atoms». Er kann ihn nicht so bilden, dass er damit von einer Wirklichkeit etwas weiß, sondern so, «als ob» die äußeren Naturerscheinungen durch das Zusammenwirken von Atomen entständen. Stellt man sich vor, es seien Atome vorhanden, dann kommt Ordnung in das Chaos der wahrgenommenen Naturerscheinungen.

Und so ist es mit allen leitenden Ideen. Sie werden nicht angenommen, um Tatsächliches abzubilden, was allein durch die Wahrnehmung gegeben ist; sie werden erdacht, und die Wirklichkeit wird so zurechtgelegt, «als ob» das in ihnen Vorgestellte dieser Wirklichkeit zugrunde läge.

Die Ohnmacht des Gedankens wird damit bewusst in den Mittelpunkt des Philosophierens gerückt. Die Macht der äußeren Tatsachen drückt so gewaltig auf den Geist des Denkers, dass er es nicht wagt, mit dem «bloßen Gedanken» in diejenigen Regionen vorzudringen, aus denen die äußere Wirklichkeit als aus ihrem Urgrunde hervorquillt. Da aber nur dann eine Hoffnung besteht, über die Wesenheit des Menschen etwas zu ergründen, wenn man ein geistiges Mittel hat, bis in die charakterisierten Regionen vorzudringen, so kann von einem Nahen an die höchsten Weltenrätsel bei der «Als-ob-Philosophie» keine Rede sein.

Nun sind sowohl der Pragmatismus wie die Als-ob-Philosophie aus der Denkerpraxis des durch die naturwissenschaftliche Vorstellungsart beherrschten Zeitalters herausgewachsen.

Der Naturwissenschaft kann es nur auf die Erforschung des Zusammenhanges der äußeren Tatsachen ankommen, - derjenigen Tatsachen, welche sich auf dem Felde der Sinnesbeobachtung abspielen. Dabei kann es sich für sie nicht darum handeln, dass auch die Zusammenhänge, welche sie erforscht, sinnlich wahrnehmbar sind, sondern darauf, dass sich diese Zusammenhänge auf dem angedeuteten Felde ergeben.

Durch die Beachtung dieser ihrer Grundlage ist die neuere Naturwissenschaft zum Vorbild für alles wissenschaftliche Erkennen geworden. Und sie ist gegen die Gegenwart zu immer mehr zu einer Denkpraxis getrieben worden, welche im Sinne des Pragmatismus und der Als-ob-Philosophie liegt. Der Darwinismus zum Beispiel wurde zuerst dazu getrieben, eine Entwicklungslinie der Lebewesen von den unvollkommensten zu den vollkommensten aufzustellen, und dabei den Menschen wie eine höhere Entwicklungsform der menschenähnlichen Affen aufzufassen.

Der Anatom Karl Gegenbaur (vgl. oben S. 407) hat aber bereits 1870 darauf aufmerksam gemacht, dass die Art der Forschung, welche für eine solche Entwicklungsidee angewendet wird, das Fruchtbare ist. Nun wurde diese Art der Forschung in der neueren Zeit fortgesetzt; und man ist wohl berechtigt zu sagen, dass diese Forschungsart, indem sie sich selbst treu geblieben ist, über die Ansichten hinausgeführt hat, mit denen sie zuerst verbunden war. Man forschte, «als ob» der Mensch in der Fortschrittslinie der menschenähnlichen Affen zu suchen sei; und man ist gegenwärtig nahe daran zu erkennen, dass dies nicht sein kann, sondern dass es in der Vorzeit ein Wesen gegeben haben müsse, das im Menschen seinen wahren Nachkommen habe, während die menschenähnlichen Affen sich von diesem Wesen hinweg zu einer unvollkommeneren Art gebildet haben.

So war der ursprüngliche neuere Entwicklungsgedanke nur ein Helfer der Forschung.

Indem solche Denkpraxis in der Naturwissenschaft waltet, scheint es bei ihr berechtigt, einem reinen Gedankenforschen, einem Sinnen nach der Lösung der Welträtsel im selbstbewussten Ich jeden wissenschaftlichen Erkenntniswert abzusprechen. Der Naturforscher fühlt, dass er auf einer sicheren Grundlage steht, wenn er in dem Denken nur ein Mittel sieht, um sich in der Welt der äußeren Tatsachen zu orientieren. Die großen Errungenschaften, welche die Naturwissenschaft an der Wende des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts aufzuweisen hat, vertragen sich gut mit solcher Denkpraxis.

In der Forschungsart der Naturwissenschaft wirkt der Pragmatismus und die Als-ob-Philosophie; wenn nun diese auch noch als philosophische Gedankenrichtungen auftauchen, so offenbart sich in dieser Tatsache das naturwissenschaftliche Grundgepräge der neueren Weltanschauungsentwicklung.

Denker, welche instinktiv die Forderung des im Verborgenen wirkenden neueren Weltanschauungsgeistes empfinden, werden daher begreiflicherweise vor die Frage gestellt: Wie lässt sich der vorbildlichen Naturwissenschaft gegenüber eine Vorstellung des selbstbewussten Ich halten?

Man kann sagen, die Naturwissenschaft ist auf dem Wege, ein Weltbild hervorzubringen, in dem das selbstbewusste Ich keine Stelle hat.

Denn was die Naturwissenschaft als Bild des (äußeren) Menschen geben kann, das enthält die selbstbewusste Seele nur so, wie der Magnet seine Kraft an sich hat.

Man hat nun zwei Möglichkeiten. Entweder man gibt sich der Täuschung hin, dass man mit dem Ausdruck «das Gehirn denkt» wirklich etwas Ernstliches gesagt hat, und dass der «geistige Mensch» nur die Oberflächenäußerung des Materiellen ist; oder man erkennt in diesem «geistigen Menschen» eine in sich selbständig wesenhafte Wirklichkeit, dann wird man mit der Erkenntnis des Menschen aus der Naturwissenschaft herausgetrieben.

Denker, welche unter dem Eindrucke der letzteren Möglichkeit stehen, sind die französischen Philosophen Emile Boutroux (1845 bis 1921) und Henri Bergson (1859-1890).

Boutroux nimmt zum Ausgangspunkt eine Kritik der neueren Vorstellungsart, welche alles Weltgeschehen auf naturwissenschaftlich begreifliche Gesetze zurückführen will.

Man versteht seinen Gedankengang, wenn man erwägt, dass zum Beispiel eine Pflanze wohl Vorgänge in sich enthält, welche nach den Gesetzen verlaufen, die auch in der mineralischen Welt wirksam sind, dass es aber gänzlich unmöglich ist, sich vorzustellen, die mineralischen Gesetze rufen aus ihrem eigenen Inhalte Pflanzenleben hervor. Will man anerkennen, dass sich Pflanzendasein auf dem Boden mineralischer Wirksamkeit entwickele, so muss man voraussetzen, dass es dem Mineralischen ganz gleichgültig ist, ob aus ihm das Pflanzliche hervorgehe. Es muss vielmehr etwas Eigenschöpferisches zu dem Mineralischen hinzutreten, wenn Pflanzliches entstehen soll. In der Naturordnung waltet daher überall Schöpferisches.

Das Mineralreich ist da; aber hinter ihm steht ein Schöpferisches. Dieses lässt aus sich hervorgehen das Pflanzliche und stellt es auf den Boden des Mineralischen. Und so ist es mit allen Sphären in der Naturordnung bis herauf zur bewussten Menschenseele, ja bis zum soziologischen Geschehen. Die Menschenseele entspringt nicht aus den bloßen Lebensgesetzen, sondern unmittelbar aus dem Urschöpferischen und eignet sich zu ihrer Wesenheit die Lebensgesetze an.

Auch im Soziologischen offenbart sich ein Urschöpferisches, das die Menschenseelen in den entsprechenden Zusammenhang und in Wechselwirkung bringt. In Boutroux' Buche «Über den Begriff des Naturgesetzes in der Wissenschaft und in der Philosophie der Gegenwart» finden sich die Sätze:

«Die Wissenschaft zeigt uns ... eine Hierarchie der Wissenschaften, eine Hierarchie der Gesetze, die wir zwar einander näher bringen, aber nicht zu einer einzigen Wissenschaft und zu einem einzigen Gesetz verschmelzen können. Zudem zeigt sie uns, nebst der relativen Ungleichartigkeit der Gesetze, ihre gegenseitige Beeinflussung. Die physikalischen Gesetze nötigen sich dem Lebewesen auf, aber die biologischen Gesetze wirken mit den physikalischen mit.» (Deutsche Ausgabe, 1907, S.130.)

So wendet Boutroux den betrachtenden Blick von den im Denken vergegenwärtigten Naturgesetzen hinweg zu dem hinter diesen Gesetzen waltenden Schöpferischen. Und aus diesem unmittelbar hervorgehend sind ihm die die Welt erfüllenden Wesen. Wie sich diese Wesen zueinander verhalten, wie sie in Wechselwirkung treten, das kann durch Gesetze ausgedrückt werden, die im Denken erfassbar sind. Das Gedachte wird damit zu einer Offenbarung der Wesen in der Welt. Und wie zu einer Grundlage der Naturgesetze wird für diese Vorstellungsart die Materie. Die Wesen sind wirklich und offenbaren sich nach Gesetzen; die Gesamtheit dieser Gesetze, also im Grunde das Unwirkliche, an ein vorgestelltes Sein geknüpft, gibt die Materie.

So kann Boutroux sagen: «Die Bewegung» (er meint die Gesamtheit dessen, was nach Naturgesetzen durch die Wesen zwischen diesen geschieht) «an sich ist offenbar ebensogut eine Abstraktion wie das Denken an sich. Tatsächlich gibt es nur Lebewesen, deren Natur ein Mittelding zwischen dem reinen Begriff des Denkens und der Bewegung ist. Diese Lebewesen bilden eine Hierarchie, und die Tätigkeit zirkuliert in ihnen von oben nach unten und von unten nach oben. Der Geist bewegt weder unmittelbar noch mittelbar die Materie. Aber es gibt keine rohe Materie, und das, was das Wesen der Materie ausmacht, hängt mit dem, was das Wesen des Geistes ausmacht, eng zusammen.» (In demselben Buche, S. 131.)

Wenn aber die Naturgesetze nur die Zusammenfassung des Wechselverhältnisses der Wesen sind, so steht auch die Menschenseele im Weltganzen nicht so darinnen, dass sie aus den Naturgesetzen heraus erklärbar ist, sondern sie bringt aus ihrem Eigenwesen zu den anderen Gesetzen ihre Offenbarung hinzu. Damit aber ist der Menschenseele die Freiheit, die Selbstoffenbarung ihres Wesens gesichert.

Man kann in dieser philosophischen Denkungsart den Versuch sehen, über das wahre Wesen des Naturbildes ins klare zu kommen, um zu ergründen, wie sich die Menschenseele zu diesem Bilde verhält. Und Boutroux kommt zu einer solchen Vorstellung der Menschenseele, welche nur der Selbstoffenbarung derselben selbst entspringen kann. In früheren Zeiten sah man, so meint Boutroux, in den Wechselwirkungen der Wesen die Offenbarung von «Laune und Willkür» geistiger Wesen; davon ist das neuere Denken durch die Erkenntnis der Naturgesetze befreit. Da diese nur im Zusammenwirken der Wesen Bestand haben, kann in ihnen nichts enthalten sein, was die Wesen bestimmt.

«Die durch die moderne Wissenschaft entdeckten mechanischen Naturgesetze sind in der Tat das Band, welches das Äußere mit dem Inneren verknüpft. Weit davon entfernt, eine Notwendigkeit zu sein, befreien sie uns; sie gestatten uns, zu der Kontemplation, in der die Alten eingeschlossen waren, hinzuzusetzen eine Wissenschaft der Tat.» (Am Schlusse des erwähnten Buches.)

Dies ist ein Hinweis auf die öfters in dieser Schrift erwähnte Forderung des neueren Weltanschauungsgeistes. Die Alten mussten bei der Kontemplation (Betrachtung) stehenbleiben. Für ihre Empfindung war eben in der Gedankenbetrachtung die Seele im Elemente ihrer wahren Wesenheit. Die neuere Entwicklung fordert eine «Wissenschaft der Tat». Die könnte aber nur entstehen, wenn die Seele sich im selbstbewussten Ich denkend ergriffe und in geistigem Erleben zu inneren Selbsterzeugnissen käme, mit denen sie sich in ihrem Wesen stehend sehen kann.

Auf einem anderen Wege sucht Henri Bergson zu dem Wesen des selbstbewussten Ich so vorzudringen, dass bei diesem Vordringen die naturwissenschaftliche Vorstellungsart nicht zum Hemmnis wird.

Das Wesen des Denkens ist durch die Entwicklung der Weltanschauungen von der Griechenzeit bis zur Gegenwart selbst wie zu einem Welträtsel geworden. Der Gedanke hat die Menschenseele herausgehoben aus dem Weltganzen. So lebt sie gleichsam mit dem Gedanken und muss an ihn die Frage richten: Wie bringst du mich wieder zu einem Elemente, in dem ich mich wirklich in dem Weltganzen geborgen fühlen kann?

Bergson betrachtet das wissenschaftliche Denken. Er findet in ihm nicht die Kraft, durch welche es sich gewissermaßen in eine wahre Wirklichkeit hineinschwingen könnte Es steht die denkende Seele der Wirklichkeit gegenüber und gewinnt von ihr Gedankenbilder. Diese setzt sie zusammen. Aber, was sie so gewinnt, steht nicht in der Wirklichkeit darinnen; es steht außerhalb derselben. Bergson spricht vom Denken so:

«Man begreift, dass durch unser Denken feste Begriffe aus der beweglichen Realität gezogen werden können; aber es ist durchaus unmöglich, mit der Festigkeit der Begriffe die Beweglichkeit des Wirklichen zu rekonstruieren ... » (So in der Schrift «Einführung in die Metaphysik». Deutsche Ausgabe, 1909, S.42.)

Von solchen Gedanken ausgehend findet Bergson, dass alle Versuche, vom Denken aus in die Wirklichkeit zu dringen, scheitern mussten, weil sie etwas unternommen haben, wozu das Denken - so wie es im Leben und in der Wissenschaft waltet - ohnmächtig ist, in die wahre Wirklichkeit einzudringen. Wenn in dieser Art Bergson die Ohnmacht des Denkens zu erkennen vermeint, so ist dies für ihn kein Grund, durch rechtes Erleben im selbstbewussten Ich zur wahren Wirklichkeit zu kommen. Denn es gibt einen außergedanklichen Weg im Ich, eben den Weg des unmittelbaren Erlebens, der Intuition.

«Philosophieren besteht darin, die gewohnte Richtung der Denkarbeit umzukehren.» «Relativ ist die symbolische Erkenntnis durch vorher bestehende Begriffe, welche vom Festen zum sich Bewegenden geht, aber keineswegs die intuitive Erkenntnis, die sich in das sich Bewegende hineinversetzt und das Leben der Dinge selbst sich zu eigen macht.» (Einführung in die Metaphysik, S.46.)

Bergson hält eine Umwandlung des gewöhnlichen Denkens für möglich, so dass durch diese Umwandlung die Seele sich in einer Tätigkeit - in einem intuitiven Wahrnehmen - erlebt, die eins ist mit einem Dasein hinter demjenigen, welches durch die gewöhnliche Erkenntnis wahrgenommen wird. In solchem intuitiven Wahrnehmen erlebt sich die Seele als ein Wesen, das nicht bedingt ist durch die körperlichen Vorgänge. Durch diese Vorgänge wird die Empfindung hervorgerufen und werden die Bewegungen des Menschen zustande gebracht. Wenn der Mensch durch die Sinne wahrnimmt, wenn er seine Glieder bewegt, so ist in ihm ein körperliches Wesen tätig; aber schon, wenn er sich an eine Vorstellung erinnert, so spielt sich ein rein seelisch-geistiger Vorgang ab, der nicht durch entsprechende körperliche Vorgänge bedingt ist. Und so ist das ganze Seelen-Innenleben ein Eigenleben seelisch-geistiger Art, das im und am Leibe, nicht aber durch denselben abläuft.

Bergson hat in ausführlicher Art diejenigen naturwissenschaftlichen Ergebnisse untersucht, welche seiner Anschauung entgegenstehen. Es scheint ja in der Tat der Gedanke so berechtigt, dass die seelischen Äußerungen nur in leiblichen Vorgängen wurzeln, wenn man sich vergegenwärtigt, wie zum Beispiel die Erkrankung eines Gehirnteiles den Ausfall der Sprechtätigkeit bedingt. Eine unbegrenzte Zahl von Tatsachen dieser Art kann angeführt werden. Bergson setzt sich mit ihnen auseinander in seiner Schrift «Materie und Gedächtnis» (deutsch 908) . Und er findet, dass sie nichts Beweisendes erbringen gegen die Anschauung von dem geistig-seelischen Eigenleben.

So scheint sich die neuzeitliche Philosophie in Bergson zu ihrer von der Zeit geforderten Aufgabe zu wenden, der Vertiefung in das Erleben des selbstbewussten Ich; aber sie vollbringt diesen Schritt, indem sie dem Gedanken seine Ohnmacht dekretiert. Da, wo das Ich sich in seinem Wesen erleben sollte kann es mit dem Denken nichts anfangen.

Und so ist es auch für Bergson mit der Erforschung des Lebens. Was da in der Entwicklung der Lebewesen treibt, was diese Wesen hinstellt in die Welt in einer Reihe vom Unvollkommenen zum Vollkommenen, ergibt sich dem Erkennen nicht durch die denkende Betrachtung der Lebewesen, wie sie vor den Menschen in ihren Formen sich hinstellen.

Nein, wenn der Mensch als seelisches Leben sich in sich selbst erlebt, so steht er in dem Lebenselement, das in den Wesen lebt, und das in ihm erkennend sich selbst anschaut. Dieses Lebenselement hat sich erst in den unzähligen Formen ausgießen müssen, um sich durch dieses Ausgießen vorzubereiten zu dem, was es im Menschen geworden ist. Die Lebensschwungkraft, die im Menschen zum denkenden Wesen sich errafft, ist schon da, wenn sie sich in dem einfachsten Lebewesen offenbart; sie hat dann im Schaffen der Lebewesen sich so verausgabt, dass ihr bei der Offenbarung im Menschen nur ein Teil ihrer Gesamtwesenheit zurückgeblieben ist, allerdings derjenige, der sich als Frucht alles vorangehenden Lebensschaffens offenbart.

So ist die Wesenheit des Menschen vor allen anderen Lebewesen vorhanden; sie kann sich aber erst als Mensch ausleben, wenn sie die anderen Lebensformen abgestoßen hat, die der Mensch dann nur von außen, als eine unter denselben, beobachten kann. Aus seinem intuitiven Erkennen will Bergson sich die naturwissenschaftlichen Ergebnisse so beleben lassen, dass er aussprechen kann:

«Alles geht vor sich, als ob ein unbestimmtes und wollendes Wesen, mag man es nun Mensch oder Übermensch nennen, nach Verwirklichung getrachtet und diese nur dadurch erreicht hätte, dass es einen Teil seines Wesens unterwegs aufgab. Diese Verluste sind es, welche die übrige Tierheit, ja auch die Pflanzenwelt darstellt; insoweit mindestens, als sie etwas Positives, etwas den Zufällen der Entwicklung Enthobenes bedeuten.» (Bergson, Schöpferische Entwicklung. Deutsche Ausgabe, 1912, Seite 270.)

Aus leicht gewobenem, leicht erringbarem Nachdenken bringt damit Bergson eine Idee der Entwicklung hervor, welche bereits vorher 1882 Wilhelm Heinrich Preuß in seinem Buche «Geist und Stoff» (Neuauflage Stuttgart 1922) gedankentief ausgesprochen hat.

Auch diesem Denker ist der Mensch nicht hervorgegangen aus den anderen Naturwesen, sondern er ist, vom Anfang an, die Grundwesenheit, die nur, bevor sie sich die ihr auf der Erde zukommende Gestalt geben konnte, erst in den anderen Lebewesen ihre Vorstufe abstoßen musste. Man liest in dem genannten Buche:

«Es dürfte ... an der Zeit sein, eine ... Lehre von der Entstehung der organischen Arten aufzustellen, welche sich nicht allein auf einseitig aufgestellte Sätze aus der beschreibenden Naturwissenschaft gründet, sondern auch mit den übrigen Naturgesetzen, welche zugleich auch Gesetze des menschlichen Denkens sind, in voller Übereinstimmung ist. Eine Lehre zugleich, die alles Hypothetisierens bar ist und nur auf strengen Schlüssen aus naturwissenschaftlichen Beobachtungen im weitesten Sinne beruht; eine Lehre, die den Artbegriff nach tatsächlicher Möglichkeit rettet aber zugleich den von Darwin aufgestellten Begriff der Entwicklung hinübernimmt auf ihr Gebiet und fruchtbar zu machen sucht.

Der Mittelpunkt dieser neuen Lehre nun ist der Mensch, die nur einmal auf unserem Planeten wiederkehrende Spezies: Homo sapiens. Merkwürdig, dass die älteren Beobachter bei den Naturgegenständen anfingen und sich dann dermaßen verirrten, dass sie den Weg zum Menschen nicht fanden, was ja auch Darwin nur in kümmerlichster und durchaus unbefriedigender Weise gelang, indem er den Stammvater des Herrn der Schöpfung unter den Tieren suchte - während der Naturforscher bei sich als Menschen anfangen müsste, um so fortschreitend durch das ganze Gebiet des Seins und Denkens zur Menschheit zurückzukehren ... Es war nicht Zufall, dass die menschliche Natur aus der Entwicklung alles Irdischen hervorging, sondern Notwendigkeit. Der Mensch ist das Ziel aller tellurischen Vorgänge und jede andere neben ihm auftauchende Form hat aus der seinigen ihre Züge entlehnt. Der Mensch ist das erstgeborene Wesen des ganzen Kosmos ... Als seine Keime entstanden waren, hatte der gebliebene organische Rückstand nicht die nötige Kraft mehr, um weitere menschliche Keime zu erzeugen. Was noch entstand, wurde Tier oder Pflanze ... »

Solche Anschauung strebt dahin, den durch die neuere Weltanschauungsentwicklung auf sich selbst - außer die Natur - gestellten Menschen zu erkennen, um dann in solcher Menschenkenntnis etwas zu finden, das Licht wirft auf das Wesen der den Menschen umgebenden Welt.

In dem wenig gekannten Denker von Elsfleth, W. H. Preuß, taucht die Sehnsucht auf, durch Menschen-Erkenntnis zugleich Welt-Erkenntnis zu gewinnen. Seine energischen und bedeutsamen Ideen sind unmittelbar auf die Menschenwesenheit hin gerichtet. Er schaut diese Wesenheit sich ins Dasein ringend. Und was sie auf ihrem Wege zurücklassen - von sich abstreifen - muss, das bleibt als die Natur mit ihren Wesenheiten in der Entwicklung auf niederer Stufe stehen und stellt sich als des Menschen Umwelt hin.

Dass der Weg zu den Weltenrätseln in der neueren Philosophie durch eine Ergründung der Menschenwesenheit, die sich im selbstbewussten Ich offenbart, zu nehmen ist: das zeigt die Entwicklung dieser Philosophie. Je mehr man in deren Streben und Suchen einzudringen sich bemüht, um so mehr kann man gewahr werden, wie dieses Suchen nach solchen Erlebnissen in der Menschenseele gerichtet ist, die nicht bloß über diese Menschenseele selber aufklären, sondern in denen etwas aufleuchtet, das über die außerhalb des Menschen liegende Welt sicheren Aufschluss gibt. Der Blick auf die Anschauung Hegels und verwandter Denker erzeugte bei den neueren Philosophen Zweifel daran, dass im Gedankenleben die Kraft liegen könne, über den Umkreis des Seelenwesens hinauszuleuchten. Es schien das Gedankenelement zu schwach zu sein, um in sich ein Leben zu entfalten, in dem Enthüllungen über das Wesen der Welt enthalten sein könnten. Die naturwissenschaftliche Vorstellungsart verlangte ein solches Eindringen in den Seelenkern, das sich auf einen festeren Boden stellt, als der Gedanke ihn liefern kann.

Bedeutsam stellen sich in dieses Suchen und Streben der neuesten Zeit die Bemühungen Wilhelm Diltheys (1833 bis 1911) hinein. Er hat in Schriften wie «Einleitung in die Geisteswissenschaften» und in seiner Berliner Akademieabhandlung «Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht» (1890) Ausführungen geboten, die unmittelbar erfüllt sind von allem, was als philosophische Rätsel auf der neueren Weltanschauungsentwicklung lastet. Die in der gegenwärtig gebräuchlichen gelehrten Ausdrucksform gehaltene Darstellung Diltheys verhindert allerdings, dass allgemeineren Eindruck machte, was er zu sagen hatte.

Diltheys Anschauung ist, dass mit dem, was in seiner Seele gedankenhaft, vorstellungsmäßig ist, der Mensch nicht einmal zu einer Gewissheit darüber kommen könne, ob dem, was die Sinne wahrnehmen, eine wirkliche, vom Menschen unabhängige Wesenheit entspreche. Alles Gedankenhafte, Vorstellungsgemäße, Sinnlich-Empfundene ist Bild; und die Welt, welche den Menschen umgibt, könnte ein Traum von Bildern seiner eigenen Wesenheit, ohne von ihm unabhängige Wirklichkeit, sein, wenn er nur allein darauf angewiesen wäre, die Wirklichkeit durch solche Bilder gewahrzuwerden.

Doch offenbaren sich in der Seele nicht allein diese Bilder. Es offenbart, sich in ihr ein Lebenszusammenhang in Wille, Streben, Gefühl, der von ihr ausgeht, in dem sie sich selbst darinnen erfühlt, und dessen Wirklichkeit, sie nicht nur durch gedankenhafte Erkenntnis, sondern durch unmittelbares Erleben anerkennen muss. Wollend und fühlend erlebt, sich die Seele selbst als Wirklichkeit,. Doch wenn sie sich nur so erlebte, müsste sie glauben, dass ihre Wirklichkeit, die einzige in der Welt sei. Das wäre nur berechtigt, wenn ihr Wollen nach allen Seiten ausstrahlen könnte, ohne Widerstand zu finden. Das aber ist nicht der Fall. Die Absichten des Willens können sich so nicht ausleben. Es drängt sich etwas in sie herein, das sie nicht selbst hervorbringen, und das sie doch in sich selber aufnehmen müssen.

Haarspalterisch kann dem «gesunden Menschenverstand» solcher Gedankengang eines Philosophen erscheinen. Die geschichtliche Betrachtung darf nicht auf solche Beurteilung sehen. Für sie ist wichtig, Einblick zu gewinnen in die Schwierigkeit, welche die neuere Philosophie sich selbst bereiten muss gegenüber der einfachen, dem «gesunden Menschenverstand» sogar überflüssig dünkenden Frage: Ob denn die Welt, welche der Mensch sieht, hört usw., mit Recht wirklich genannt werden dürfe?

Das «Ich», das sich - wie die hier vorliegende Entwicklungsgeschichte der philosophischen Weltenrätsel gezeigt hat - von der Welt losgelöst hat - will in seiner für die eigene Betrachtung einsam gewordenen Wesenheit den Weg wieder zurück zur Welt finden.

Dilthey meint, dieser Weg könne nicht etwa dadurch gefunden werden, dass man sagt: Die Seele erlebt Bilder (Gedanken, Vorstellungen, Empfindungen), und da diese Bilder im Bewusstsein auftreten, so müssen sie in einer wirklichen Außenwelt ihre Ursachen haben Solch ein Schluss gäbe - nach Diltheys Meinung - kein Recht, von einer wirklichen Außenwelt zu sprechen. Denn es ist dieser Schluss innerhalb der Seele, nach den Bedürfnissen dieser Seele, vollzogen; und nichts bürgt dafür, dass in der Außenwelt wirklich dasjenige sei, wovon die Seele nach ihren Bedürfnissen glaubt, dass es sein müsse. Nein, schließen auf eine Außenwelt kann die Seele nicht; sie setzt sich damit der Gefahr aus, dass ihre Schlussfolgerung nur ein Leben in ihr selber hat und für die Außenwelt ohne alle Bedeutung bleibt. Sicherheit über eine Außenwelt kann die Seele nur gewinnen, wenn diese Außenwelt in das innere Leben des «Ich» hereindringt, so dass in diesem «Ich» nicht bloß das «Ich» , sondern die Außenwelt selbst lebt.

Das geschieht - nach Diltheys Ansicht -, wenn die Seele in ihrem Wollen und Fühlen etwas erfährt, was nicht aus ihr selbst stammt. Dilthey bemüht sich, an den allerselbstverständlichsten Tatbeständen eine Frage zu entscheiden die ihm eine Grundfrage aller Weltanschauung ist. Man nehme die folgende Ausführung, die er gibt:

«Indem ein Kind die Hand gegen den Stuhl stemmt, ihn zu bewegen, misst sich seine Kraft am Widerstande: Eigenleben und Objekte werden zusammen erfahren. Nun aber sei das Kind eingesperrt, es rüttle umsonst an der Tür: dann wird sein ganzes aufgeregtes Willensleben den Druck einer übermächtigen Außenwelt inne, welche sein Eigenleben hemmt, beschränkt und gleichsam zusammendrückt. Dem Streben, der Unlust zu entrinnen, all seinen Trieben Befriedigung zu verschaffen, folgt Bewusstsein der Hemmung, Unlust, Unbefriedigung. Was das Kind erfährt, geht durch das ganze Leben des Erwachsenen hindurch. Der Widerstand wird zum Druck, ringsum scheinen uns Wände von Tatsächlichkeit zu umgeben, die wir nicht durchbrechen können. Die Eindrücke halten stand, gleichviel, ob wir sie ändern möchten; sie verschwinden, obwohl wir sie festzuhalten streben; gewissen Bewegungsantrieben, die von der Vorstellung, dem Unlusterregenden auszuweichen, geleitet werden, folgen unter bestimmten Umständen regelmäßig Gemütsbewegungen, die uns in dem Bezirk des Unlustvollen festhalten. Und so verdichtet sich um uns gleichsam immer mehr die Realität der Außenwelt.»

Wozu wird solch eine für viele Menschen unbeträchtlich erscheinende Betrachtung im Zusammenhang mit hohen Weltanschauungsfragen angestellt? Aussichtslos erscheint es doch, von solchen Ausgangspunkten aus zu einer Ansicht, darüber zu kommen, was die Stellung der Menschenseele im Weltganzen ist. Das Wesentliche aber ist, dass die Philosophie zu solcher Betrachtung gelangt ist auf dem Wege, der - noch einmal sei an Brentanos Worte erinnert - unternommen worden ist, «für die Hoffnungen eines Platon und Aristoteles über das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auflösung unseres Leibes Sicherheit zu gewinnen ...».

Solche Sicherheit zu gewinnen, erscheint immer schwieriger, je weiter die Gedankenentwicklung fortschreitet. Das «selbstbewusste Ich» fühlt, sich immer mehr herausgestoßen aus der Welt; es scheint immer weniger in sich die Elemente zu finden, welche es mit der Welt verbinden noch in einer anderen Weise als durch den der «Auflösung» unterworfenen «Leib». Indem es nach einer sicheren Erkenntnis über seinen Zusammenhang mit einer ewigen Welt des Geistes suchte, verlor es selbst die Sicherheit einer Einsicht in den Zusammenhang mit der Welt, welche den Wahrnehmungen der Sinne sich offenbart.

Bei Betrachtung von Goethes Weltanschauung durfte darauf aufmerksam gemacht werden wie innerhalb derselben gesucht wird nach solchen Erlebnissen in der Seele, die diese Seele hinausragen in eine Wirklichkeit, welche hinter der Sinneswahrnehmung als eine geistige Welt liegt. Da wird also innerhalb der Seele etwas zu erleben gesucht, durch das die Seele nicht mehr bloß in sich steht, trotzdem sie das Erlebte als ihr eigenes erfühlt. Die Seele sucht in sich Welterlebnisse, durch welche sie dasjenige in der Welt miterlebt, was zu erleben ihr durch die Vermittelung der bloßen Leibesorgane unmöglich ist.

Dilthey steht trotz des scheinbar Überflüssigen seiner Betrachtungsart in derselben Strömung der Philosophieentwicklung darinnen. Er möchte innerhalb der Seele etwas aufzeigen, das, so wahr es in der Seele erlebt wird, doch nicht ihr angehört, sondern einem von ihr Unabhängigen. Er möchte beweisen, dass die Welt in das Erleben der Seele hereinragt. Dass dieses Hereinragen im Gedankenhaften sein könne, daran glaubt er nicht wohl aber nimmt für ihn die Seele in ihren ganzen Lebensinhalt in Wollen, Streben und Fühlen etwas in sich herein, dass nicht bloß Seele, sondern die wirkliche Außenwelt ist.

Nicht dadurch erkennt die Seele einen ihr gegenüberstehenden Menschen als in der Außenwelt wirklich, dass ihr dieser Mensch gegenübersteht und sie sich eine Vorstellung von ihm bildet, sondern dadurch, dass sie sein Wollen, sein Fühlen, seinen lebendigen Seelenzusammenhang in ihr eigenes Wollen und Empfinden aufnimmt. Somit lässt die Menschenseele im Sinne Diltheys eine wirkliche Außenwelt nicht deshalb gelten, weil diese Außenwelt sich dem Gedankenhaften als wirklich verkündet, sondern weil die Seele, das selbstbewusste Ich, in sich selbst die Außenwelt erlebt.

Damit steht dieser Philosoph vor der Anerkennung der höheren Bedeutung des Geisteslebens gegenüber dem bloßen Naturdasein. Er stellt mit dieser Anschauung der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart ein Gegengewicht gegenüber. Ja, er meint, die Natur als wirkliche Außenwelt, wird nur deshalb anerkannt, weil sie von dem Geistigen in der Seele erlebt wird. Das Erlebnis des Natürlichen ist ein Untergebiet im allgemeinen Seelenerleben, das geistiger Art ist. Und geistig steht die Seele in einem allgemeinen Geistentfalten des Erdendaseins drinnen. Ein großer Geistorganismus entwickelt und entfaltet sich in den Kultursystemen, in dem geistigen Erleben und Schaffen der Völker und Zeiten. Was in diesem Geistesorganismus seine Kräfte entwickelt, das durchdringt die einzelnen Menschenseelen. Diese sind in dem Geistorganismus eingebettet. Was sie erleben, vollbringen, schaffen, erhält nicht bloß von den Naturantrieben her seine Impulse, sondern von dem umfassenden geistigen Leben.

Diltheys Art ist voll des Verständnisses für die naturwissenschaftliche Vorstellungsart. Er kommt bei seinen Ausführungen oft auf die Ergebnisse der Naturforscher zu sprechen.

Doch setzt er der Anerkennung der natürlichen Entwicklung den selbständigen Bestand einer geistigen Welt gegenüber. Den Inhalt einer Wissenschaft des Geistigen liefert, für ihn der Anblick dessen, was die Kulturen der Völker und Zeiten enthalten.

Zu einer ähnlichen Anerkennung einer selbständigen geistigen Welt gelangt Rudolf Eucken (1846-1926).

Er findet, dass die naturwissenschaftliche Denkungsart mit sich selbst in Widerspruch gerät, wenn sie mehr sein will als eine Betrachtungsweise von nur einer Seite des Daseins, wenn sie dasjenige zur einzigen Wirklichkeit erklären will, was ihr möglich ist zu erkennen. Beobachtete man die Natur, wie sie allein den Sinnen sich darbietet, so könnte man nie zu einer Gesamtanschauung über sie gelangen. Man muss, um die Natur zu erklären, das heranziehen, was der Geist nur durch sich selbst erleben kann, was er aus der Außenbeobachtung niemals holen kann.

Eucken geht von dem lebendigen Gefühl aus, das die Seele von ihrem eigenen, in sich selbständigen Arbeiten und Schaffen auch dann hat, wenn sie sich der Betrachtung der äußeren Natur hingibt. Er verkennt nicht, wie die Seele abhängig ist, von dem, was sie mit ihren sinnlichen Werkzeugen empfindet, wahrnimmt, wie sie bestimmt ist durch alles, was in der Naturgrundlage des Leibes gelegen ist. Aber er richtet den Blick auf die selbständige, vom Leibe unabhängige, ordnende, belebende Tätigkeit der Seele. Die Seele gibt der Empfindungs-, der Wahrnehmungswelt die Richtung, den in sich geschlossenen Zusammenhang.

Sie wird nicht bloß von Impulsen bestimmt, die ihr durch die physische Welt kommen, sondern sie erlebt in sich rein geistige Antriebe. Durch diese weiß sie sich in einer wirklichen geistigen Welt drinnenstehendem. In dasjenige, was sie erlebt, schafft, wirken Kräfte aus einer Geisteswelt herein, der sie angehört. Diese geistige Welt wird unmittelbar wirklich in der Seele erlebt, indem sich die Seele eins mit ihr weiß. So sieht sich, im Sinne Euckens, die Seele getragen von einer in sich lebendigen, schaffenden Geisteswelt.

Und Eucken ist der Ansicht, dass das Gedankenhafte, das Intellektuelle nicht mächtig genug ist, um die Tiefen dieser Geisteswelt auszuschöpfen. Was von der Geisteswelt in den Menschen hereinströmt, ergießt sich in das ganze umfassende Seelenleben, nicht bloß in den Intellekt. Von einer wesenhaften, mit Persönlichkeitscharakter ausgestatteten Art ist die Geisteswelt. Sie befruchtet auch das Gedankenhafte, aber nicht allein dieses. In einem wesenhaften Geistzusammenhange darf sich die Seele erfühlen.

In einer schwungvollen Art weiß Eucken in seinen zahlreichen Schriften das Weben und Wesen dieser geistigen Welt darzustellen. Im «Kampf um den geistigen Lebensinhalt», in «Der Wahrheitsgehalt der Religion», «Grundlinien einer neuen Lebensanschauung», «Geistige Strömungen der Gegenwart», «Lebensanschauungen der großen Denker», «Erkennen und Leben» sucht er von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu zeigen, wie die Menschenseele, indem sie sich selbst erlebt und in diesem Erleben recht versteht, sich durchsetzt und durchpulst weiß von einem schaffenden, lebendigen Geistessein, innerhalb dessen sie ein Teil und Glied ist. Gleich Dilthey schildert auch Eucken als den Inhalt des selbständigen Geisteslebens dasjenige, was sich in der Menschheitskultur, in den sittlichen, technischen, sozialen, künstlerischen Schöpfungen der Völker und Zeiten darstellt.

In einer geschichtlichen Darstellung, wie sie hier angestrebt wird, ist kein Platz für eine Kritik der geschilderten Weltanschauungen. Doch ist es nicht Kritik, wenn darauf hingewiesen wird, wie eine Weltanschauung durch ihren eigenen Charakter neue Fragen aus sich heraustreibt. Denn dadurch wird sie zu einem Glied der geschichtlichen Entwicklung.

Dilthey und Eucken sprechen von einer selbständigen Geisteswelt, in welche die einzelne Menschenseele eingebettet ist. Ihre Wissenschaft von dieser Geisteswelt lässt aber die Fragen offen: Was ist diese Geisteswelt und wie gehört ihr die Menschenseele an? Entschwindet die Einzelseele mit der Auflösung des Leibes, nachdem sie innerhalb dieses Leibes an der Entwicklung des Geisteslebens teilgenommen hat, das in den Kulturschöpfungen der Völker und Zeiten sich darlebt?

Gewiss, es kann - von Diltheys und Euckens Gesichtspunkt aus - auf diese Fragen geantwortet werden: Zu Ergebnissen über diese Fragen führt eben nicht dasjenige, was die Menschenseele in ihrem Eigenleben erkennen kann. Doch ist gerade dieses zur Charakteristik solcher Weltanschauungen zu sagen, dass sie durch ihre Betrachtungsart nicht zu Erkenntnismitteln geführt werden, welche die Seele - oder das selbstbewusste Ich - über das hinausführen, was im Zusammenhange mit dem Leibe erlebt wird.

So intensiv Eucken die Selbständigkeit und Wirklichkeit der Geisteswelt betont: was nach seiner Weltansicht die Seele an und mit dieser Geisteswelt erlebt, das erlebt sie mit dem Leibe. Die oft in dieser Schrift angeführten Hoffnungen des Platon und Aristoteles in bezug auf das Wesen der Seele und ihr leibfreies Verhältnis zur Geisteswelt werden durch eine solche Weltanschauung nicht berührt,. Es wird nicht mehr gezeigt, als dass die Seele solange sie im Leibe erscheint, an einer mit Recht ‹wirklich› genannten Geisteswelt teilnimmt. Was sie in der Geisteswelt als selbständige geistige Wesenheit ist, davon kann innerhalb dieser Philosophie nicht im eigentlichen Sinne gesprochen werden.

Es ist das Charakteristische dieser Vorstellungsarten, dass sie zwar zur Anerkennung ein Welt und auch der geistigen Natur der Menschenseele kommen, dass sich aber aus dieser Anerkennung keine Erkenntnis darüber ergibt, welche Stellung in der Weltenwirklichkeit die Seele - das selbstbewusste Ich hat, abgesehen davon, dass sie durch das Leibesleben sich ein Bewusstsein von der Geisteswelt erwirbt. Auf die geschichtliche Stellung dieser Vorstellungsarten in der Philosophieentwicklung wird Licht geworfen, wenn man erkennt, dass sie Fragen erzeugen, die sie mit ihren eigenen Mitteln nicht, beantworten können. Energisch behaupten sie, dass die Seele in sich selber sich einer von ihr unabhängigen Geisteswelt bewusst werde.

Aber wie ist dieses Bewusstsein errungen? Doch nur mit den Erkenntnismitteln, welche die Seele innerhalb ihres leiblichen Daseins und durch dasselbe hat. Innerhalb dieses Daseins entsteht Gewissheit darüber, dass eine geistige Welt besteht. Aber die Seele findet keinen Weg, um ihr eigenes, in sich geschlossenes Wesen außerhalb des Leibesdaseins im Geiste zu erleben. Was der Geist in ihr auslebt, anregt, schafft, das nimmt sie wahr, soweit ihr das leibliche Dasein die Möglichkeit dazu gibt. Was sie als Geist in der Geisteswelt ist, ja ob sie darinnen eine besondere Wesenheit ist, das ist eine Frage, die man nicht beantworten kann durch die bloße Anerkennung der Tatsache, dass die Seele im Leibe sich eins wissen kann mit einer lebendigen, schaffenden Geisteswelt.

Für eine solche Antwort wäre notwendig, dass die selbstbewusste Menschenseele, indem sie zu einer Erkenntnis der geistigen Welt vordringt, sich nun auch bewusst werden könnte, wie sie in der Geisteswelt selbst, lebt, unabhängig vom Leibesdasein. Die Geisteswelt müsste dem Seelenwesen nicht bloß die Möglichkeit, geben, dass es sie anerkennen kann, sondern sie müsste ihm etwas von ihrer eigenen Art mitteilen. Sie müsste ihm zeigen, wie sie anders ist als die Sinnenwelt und wie sie das Seelenwesen Anteil nehmen lässt an dieser ihrer anderen Daseinsart.

Ein Gefühl für diese Frage lebt bei denjenigen Philosophen, welche die geistige Welt dadurch betrachten wollen, dass sie den Blick auf etwas richten, das innerhalb der bloßen Naturbetrachtung nach ihrer Meinung nicht auftreten kann. Gäbe es etwas, dem gegenüber sich die naturwissenschaftliche Vorstellungsart machtlos erwiese, so könnte in einem solchen eine Bürgschaft für die Berechtigung zur Annahme einer geistigen Welt liegen.

Angedeutet ist eine solche Denkrichtung schon von Lotze (vgl. S.503); energische Vertreter hat sie in der Gegenwart gefunden in Wilhelm Windelband (1848-1915), Heinrich Rickert (1863-1936) und anderen Philosophen. Diese sind der Ansicht, dass ein Element in die Betrachtung der Welt eintritt, an dem die naturwissenschaftliche Vorstellungsart abprallt, wenn man die Aufmerksamkeit auf die «Werte» lenkt, welche im Menschenleben bestimmendem sind.

Die Welt ist kein Traum, sondern eine Wirklichkeit, wenn sich nachweisen lässt, dass in den Erlebnissen der Seele etwas von der Seele selbst Unabhängiges lebt. Die Handlungen, Strebungen, Willensimpulse der Seele sind nicht, aufblitzende und wieder vergehende Funken im Meere des Daseins, wenn man anerkennen muss, es verleihe ihnen etwas Werte, die unabhängig von der Seele sind. Solche Werte muss aber die Seele für ihre Willensimpulse, ihre Handlungen genau so gelten lassen, wie sie für ihre Wahrnehmungen gelten lassen muss, dass diese nicht bloß in ihr erzeugt sind. Eine Handlung, ein Wollen des Menschen treten nicht bloß wie Naturtatsachen auf; sie müssen von dem Gesichtspunkte eines rechtlichen, sittlichen, sozialen, ästhetischen, wissenschaftlichen Wertes aus gedacht werden.

Und wenn auch mit Recht betont wird, dass im Laufe der Entwicklung bei Völkern und im Lauf der Zeiten die Anschauungen der Menschen über Rechts-, Sitten-, Schönheits-, Wahrheitswerte sich ändern, wenn auch Nietzsche von einer «Umwertung aller Werte» sprechen konnte, so muss doch anerkannt werden, dass der Wert eines Tuns, Denkens, Wollens in ähnlicher Art von außen bestimmt wird, wie einer Vorstellung von außen der Charakter der Wirklichkeit gegeben wird.

Im Sinn der «Wert-Philosophie» kann gesagt, werden: Wie der Druck oder Widerstand der natürlichen Außenwelt entscheidet, ob eine Vorstellung Phantasiebild oder Wirklichkeit ist, so entscheidet der Glanz und die Billigung, die von der geistigen Außenwelt auf das Seelenleben fallen, ob ein Willensimpuls, ein Tun, ein Denken Wert im Weltenzusammenhang haben oder nur willkürliche Ausflüsse der Seele sind.

Als ein Strom von Werten fließt die geistige Welt durch das Leben der Menschen im Laufe der Geschichte. Indem die Menschenseele sich in einer Welt stehend empfindet, die von Werten bestimmt ist, erlebt sie sich in einem geistigen Elemente.

Wenn mit dieser Vorstellungsart völlig Ernst gemacht werden sollte, so müssten alle Aussagen, welche der Mensch über das Geistige macht, sich in der Form von Werturteilen kundgeben. Man müsste bei allem, was nicht naturhaft sich offenbart und deshalb durch die naturwissenschaftliche Vorstellungsart nicht erkannt wird, nur davon sprechen, wie und in welcher Richtung ihm ein von der Seele unabhängiger Wert im Weltall zukommt.

Als Frage müsste sich diese ergeben: Wenn man bei der Menschenseele von allem absieht, was über sie die Naturwissenschaft zu sagen hat, ist sie dann als Angehörige der Geisteswelt ein Wertvolles, dessen Wert von ihr selbst nicht, abhängt? Und können die philosophischen Rätsel in bezug auf die Seele gelöst werden, wenn man nicht von ihrem Dasein, sondern nur von ihrem Werte sprechen kann? Wird die Wert-Philosophie für diese Rätsel nicht immer eine Redewendung annehmen müssen, ähnlich derjenigen, in welcher Lotze von der Seelenfortdauer spricht? (vgl. S. 508):

«Da wir jedes Wesen nur als Geschöpf Gottes betrachten, so gibt es durchaus kein ursprünglich gültiges Recht, auf welches die einzelne Seele, etwa als ‹Substanz› sich berufen könnte, um ewige individuelle Fortdauer zu fordern. Vielmehr können wir bloß behaupten: jedes Wesen werde so lange von Gott erhalten werden, als sein Dasein eine wertvolle Bedeutung für das Ganze seines Weltplanes hat ...»

Hier wird von dem «Wertvollen» der Seele als dem Entscheidenden gesprochen; aber es wird doch darauf Rücksicht genommen, inwiefern dieses Wertvolle mit der Erhaltung des Daseins zusammenhängen könne. Die Stellung der Wert-Philosophie in der Weltanschauungsentwicklung kann man verstehen, wenn man bedenkt, dass die naturwissenschaftliche Vorstellungsart die Neigung hat, alle Erkenntnis des Daseins für sich in Anspruch zu nehmen. Dann bleibt der Philosophie nur übrig, etwas anderes als das Dasein zu untersuchen. Ein solch Anderes wird in den «Werten» gesehen.

Als ungelöste Frage lässt sich aus dem Ausspruch Lotzes diese erkennen: Ist es überhaupt möglich, bei der Wertbestimmung stehen zu bleiben und auf eine Erkenntnis der Daseinsform der Werte zu verzichten?

Viele der neuesten Gedankenrichtungen stellen sich als Versuche dar, in dem selbstbewussten Ich, das sich mit dem Verlaufe der Philosophieentwicklung immer mehr losgelöst von der Welt empfindet, etwas zu suchen, das wieder zur Verbindung mit ihr führt. Diltheys, Euckens, Windelbands, Rickerts und anderer Vorstellungen sind solche Versuche innerhalb der Philosophie der Gegenwart, welche den Anforderungen der Naturerkenntnis und der Betrachtung des seelischen Erlebens so Rechnung tragen wollen, dass neben der Naturwissenschaft eine Geisteswissenschaft möglich erscheint.

Von einem gleichen Ziele getragen sind die Denkrichtungen, welche Hermann Cohen (1842-1918; vgl. S. 473), Paul Natorp (1854-1924), August Stadler (1850-1910), Ernst Cassirer (1874 bis 1945), Walter Kinkel (geb. 1871) und deren philosophische Gesinnungsgenossen verfolgen.

Indem diese Denker den geistigen Blick auf das Denken selbst richten, glauben sie in der höchsten denkerischen Betätigung des selbstbewussten Ich einen Seelenbesitz zu ergreifen, welcher die Seele in das wirkliche Dasein untertauchen lässt. Sie richten ihre Aufmerksamkeit, auf dasjenige, was ihnen als höchste Frucht des Denkens erscheint: auf das nicht mehr an der Wahrnehmung hängende, auf das reine, nur mit Gedanken (Begriffen) betätigte Denken.

Ein einfaches Beispiel davon wäre das Denken eines Kreises, bei dem man ganz absieht von der Vorstellung dieses oder jenes Kreises. Soviel man in dieser Art rein denken kann, so weit reicht in der Seele die Kraft desjenigen, was in die Wirklichkeit untertauchen kann. Denn, was man so denken kann, das spricht sein eigenes Wesen durch das Denken im Menschenbewusstsein aus.

Die Wissenschaften streben danach, durch ihre Beobachtungen, Experimente und Methoden hindurch zu solchen Ergebnissen über die Welt zu kommen, welche im reinen Denken erfasst werden. Sie werden die Erreichung dieses Zieles allerdings einer fernen Zukunft überlassen müssen; aber trotzdem kann man sagen: Insofern sie danach streben, reine Gedanken zu haben, ringen sie auch danach, das wahre Wesen der Dinge in den Besitz des selbstbewussten Ich hereinzubringen.

Wenn der Mensch in der sinnlichen Außenwelt oder auch im Verlauf des geschichtlichen Lebens etwas beobachtet, so hat er - im Sinne dieser Vorstellungsart - keine wahre Wirklichkeit vor sich. Was die Beobachtung der Sinne darbietet, ist nur die Aufforderung, eine Wirklichkeit zu suchen, nicht eine Wirklichkeit selbst. Erst wenn durch die Betätigung der Seele gewissermaßen an der Stelle, wo die Beobachtung auftritt, ein Gedanke gesehen wird, ist die Wirklichkeit dessen erkannt, was an dieser Stelle ist,. Die fortschreitende Erkenntnis setzt an die Stelle des in der Welt Beobachteten die Gedanken. Was die Beobachtung zuerst zeigte, war nur da, weil der Mensch mit seinen Sinnen, mit seinen alltäglichen Vorstellungen die Dinge und Wesen in seiner beschränkten Art sich vergegenwärtigt. Was er sich so vergegenwärtigt, hat keine Bedeutung in der Welt außer ihm. Was er als Gedanke an die Stelle des Beobachteten setzt, hat nichts mehr mit seiner Beschränkung zu tun. Es ist, so, wie es gedacht wird. Denn der Gedanke bestimmt sich selbst und offenbart sich nach seinem eigenen Charakter im selbstbewussten Ich. Er lässt sich seinen Charakter in keiner Weise von diesem Ich bestimmen.

In dieser Weltanschauung lebt eine Empfindung von der Entwicklung des Gedankenlebens seit dessen philosophischem Erblühen innerhalb des griechischen Geisteslebens. Das Gedankenerleben hat dem selbstbewussten Ich die Kraft gegeben, sich in seiner selbständigen Wesenheit kraftvoll zu wissen.

In der Gegenwart kann diese Kraft des Gedankens in der Seele als der Impuls erlebt werden, welcher im selbstbewussten Ich erfasst, diesem ein Bewusstsein gibt davon, dass es nicht ein bloßer äußerer Betrachter der Dinge ist, sondern wesenhaft mit der Wirklichkeit der Dinge lebt. In dem Gedanken selbst kann die Seele erfühlen, dass in ihm wahres, auf sich selbst gestelltes Dasein vorhanden ist. Indem sich die Seele so mit dem Gedanken als mit einem Lebensinhalt verwoben fühlt, der Wirklichkeit atmet, kann sie die Tragkraft des Gedankens wieder so empfinden, wie sie in der griechischen Philosophie empfunden worden ist, in jener Philosophie, welcher der Gedanke als Wahrnehmung galt.

Der Weltanschauung Cohens und verwandter Geister kann allerdings der Gedanke nicht im Sinne der griechischen Philosophie als Wahrnehmung gelten; aber sie erlebt das innere Verwobensein des Ich mit der durch dieses Ich erarbeiteten Gedankenwelt so, dass mit diesem Erleben zugleich das Erleben der Wirklichkeit empfunden wird. Der Zusammenhang mit der griechischen Philosophie wird von den hier in Betracht kommenden Denkern betont.

Cohen lässt sich so vernehmen: «Es muss bei der Relation verbleiben, die Parmenides von der Identität von Denken und Sein geschmiedet hat.» Und ein anderer Bekenner dieser Anschauung, Walter Kinkel, ist davon überzeugt, dass «nur das Denken ...das Sein erkennen» könne, «denn beide, das Denken und das Sein, sind im Grunde genommen dasselbe. Durch diese Lehre ist Parmenides recht eigentlich Zum Schöpfer des wissenschaftlichen Idealismus geworden» (vgl. Kinkel, Idealismus und Realismus, S. 13).

Aber ersichtlich wird an den Darstellungen dieser Denker auch, wie sie ihre Worte in einer Art prägen, welche zur Voraussetzung hat die jahrhundertelange Wirkung des Gedankenlebens in der philosophischen Entwicklung der Seelen seit dem Griechentum. Trotz des Ausgangspunktes, den diese Denker von Kant nehmen, und der ihnen Veranlassung sein könnte, von dem Gedanken zu glauben, dass er nur in der Seele, außerhalb der wahren Wirklichkeit lebe, bricht bei ihnen die Tragkraft des Gedankens durch. Dieser ist hinweggeschritten über die Kantsche Einschränkung und drängt Denkern, die sich der Betrachtung seiner Natur hingeben, die Überzeugung auf, dass er selbst Wirklichkeit sei und auch die Seele in die Wirklichkeit führe, wenn sie ihn richtig sich erarbeitet und mit ihm den Weg in die Außenwelt sucht.

In dieser philosophischen Denkweise zeigt sich also der Gedanke mit der Weltbetrachtung des selbstbewussten Ich innig verbunden. Wie ein Gewahrwerden dessen, was der Gedanke dem Ich leisten kann, erscheint der Grundimpuls dieser Denkart. Man liest bei ihren Bekennern Ansichten wie diese: «Nur das Denken selbst kann erzeugen, was als Sein gelten darf.» «Das Sein ist das Sein des Denkens» (Cohen).

Es entsteht nun die Frage: Kann das Gedankenerleben im Sinne dieser Philosophen von dem im selbstbewussten Ich erarbeiteten Gedanken dasselbe erwarten, was der griechische Philosoph von ihm erwartete, da er ihn als Wahrnehmung hinnahm? Vermeint man den Gedanken wahrzunehmen, so kann man der Ansicht sein, dass die wahre Welt es ist, welche den Gedanken offenbart. Und indem die Seele sich mit dem wahrgenommenen Gedanken verbunden fühlt, kann sie sich dem angehörig denken, was in der Welt Gedanke ist, unzerstörbarer Gedanke; wogegen die Sinneswahrnehmung nur Wesen offenbart, die zerstört werden können.

Was vom Menschenwesen den Sinnen wahrnehmbar ist, kann man dann vergänglich glauben; was aber in der Menschenseele als Gedanke auflebt, lässt diese als ein Glied des geistigen, des wahrhaft wirklichen Daseins erscheinen. Die Seele kann sich durch solche Anschauung ihre Zugehörigkeit zur wahrhaft wirklichen Welt vorstellen. Das könnte eine neuere Weltanschauung nur, wenn sie zu zeigen vermöchte, dass das Gedanken-Erleben nicht bloß die Erkenntnis in eine wahre Wirklichkeit führt, sondern auch die Kraft entwickelte, die Seele wirklich dem Sinnensein zu entreißen und sie in die wahre Wirklichkeit hineinzustellen.

Die Zweifel, die sich darüber erheben, können durch die Einsicht in die Wirklichkeit des Gedankens nicht gebannt werden, wenn dieser nicht als wahrgenommener, sondern als von der Seele erarbeiteter gilt. Denn woher sollte die Gewissheit kommen, dass, was die Seele im Sinnensein erarbeitet, ihr auch eine wirkliche Bedeutung in einer Welt gibt, welche nicht die Sinne wahrnehmen? Es könnte ja sein, dass durch den erarbeiteten Gedanken die Seele zwar die Wirklichkeit erkennend ergreife, dass sie als wirkliches Wesen aber doch nicht in dieser Wirklichkeit wurzele.

Auch diese Weltanschauung führt nur dazu, auf ein geistiges Leben hinzudeuten, kann aber nicht vermeiden, dass für den Unbefangenen an ihrem Ende die philosophischen Rätsel Antwort heischend dastehen, seelische Erlebnisse fordernd, zu denen sie nicht die Grundlagen liefert. Sie kann die Wesentlichkeit des Gedankens zur Überzeugung machen, nicht aber durch den Gedanken für die Wesentlichkeit der Seele eine Bürgschaft finden.

*

Wie das Weltanschauungsstreben in den Umkreis des selbstbewussten Ich gebannt werden kann, ohne eine Möglichkeit zu erkennen, aus diesem Umkreise heraus den Weg dahin zu finden, wo dieses Ich sein Dasein an ein Weltensein anknüpfen könnte, das zeigt eine philosophische Denkungsart, welche sich Anton v. Leclair (geb. 1848), Wilhelm Schuppe (1836-1913), Johannes Rehmke (1848 bis 1930), Richard von Schubert-Soldern (geb. 1852) und andere erarbeitet haben.

Ihre Philosophien weisen Unterschiede auf, doch ist das Charakteristische an ihnen, dass sie vor allem den Blick darauf richten, wie alles, was der Mensch zum Umkreis der Welt zählen kann im Gebiete seines Bewusstseins sich offenbaren muss. Auf ihrem Boden kann der Gedanke gar nicht gefasst werden, irgend etwas über ein Weltgebiet auch nur vorauszusetzen, wenn sich bei dieser Voraussetzung die Seele mit ihren Vorstellungen aus dem Bereich des Bewusstseins herausbewegen wollte. Weil das «Ich» alles, was es erkennt, in sein Bewusstsein hereinfassen muss, es also innerhalb des Bewusstseins hält, deshalb erscheint dieser Ansicht die ganze Welt auch innerhalb der Grenzen dieser Bewusstheit zu stehen.

Dass die Seele sich fragt: Wie stehe ich mit dem Besitze meines Bewusstseins in einer von diesem Bewusstsein unabhängigen Welt? - das ist für diese Weltanschauung eine Unmöglichkeit. Von ihrem Gesichtspunkte aus müsste man sich entschließen, auf alle Fragen zu verzichten, welche in dieser Richtung liegen.

Man müsste unaufmerksam sich machen auf die Tatsache, dass im Gebiete des bewussten Seelenlebens selbst Nötigungen liegen, über dieses Gebiet etwa so hinauszublicken, wie man beim Lesen einer Schrift deren Sinn nicht innerhalb dessen sucht, was man auf dem Papiere sieht, sondern in dem, was die Schrift zum Ausdrucke bringt. Wie es sich beim Lesen nicht darum handeln kann, die Formen der Buchstaben zu studieren, sondern wie es unwesentlich ist für das, was durch die Schrift vermittelt wird, deren eigenes Wesen in Betracht zu ziehen, so könnte es für die Einsicht in die wahrhafte Wirklichkeit unwesentlich sein, dass innerhalb des «Ich» alles Erkennbare den Charakter der Bewusstheit trägt.

Wie ein Gegenpol zu dieser philosophischen Meinung steht innerhalb der neueren Weltanschauungsentwicklung diejenige Carl du Prels (1839-1899). Er gehört zu den Geistern, welche das Ungenügende der Ansicht tief empfunden haben, die in der vielen Menschen gewohnt gewordenen naturwissenschaftlichen Vorstellungsart die einzige Art der Welterklärung findet. Er weist darauf hin, wie diese Vorstellungsart bei ihren Erklärungen sich unbewusst gegen ihre eigenen Behauptungen versündigt.

Muss doch die Naturwissenschaft aus ihren Ergebnissen heraus zugeben, «dass wir überhaupt nicht die objektiven Vorgänge der Natur wahrnehmen, sondern nur deren Einwirkung auf uns, nicht Ätherschwingungen sondern Licht, nicht Luftschwingungen, sondern Töne. Wir haben also gewissermaßen ein subjektiv gefälschtes Weltbild; nur tut dies unserer praktischen Orientierung keinen Eintrag, weil diese Fälschung nicht individuell ist und in gesetzmäßig konstanter Weise verläuft.» «Der Materialismus hat als Naturwissenschaft selber bewiesen, dass die Welt über unsere Sinne hinausragt; er hat sein eigenes Fundament untergraben; er hat den Ast abgesägt, auf dem er selber saß. Als Philosophie aber behauptet er, noch oben zu sitzen. Der Materialismus hat also gar kein Recht, sich eine Weltanschauung zu nennen ... Er hat nur die Berechtigung eines Wissenszweiges, und noch dazu ist die Welt, das Objekt seines Studiums, eine Welt des bloßen Scheines, und darauf eine Weltanschauung bauen zu wollen, ist ein auf der Hand liegender Widerspruch. Die wirkliche Welt ist eine ganz andere, qualitativ und quantitativ, als die, die der Materialismus kennt, und nur die wirkliche Welt kann Gegenstand einer Philosophie sein.» (Vgl. du Prel, «Das Rätsel des Menschen» S. 17 f.)

Solche Einwände muss die materialistisch gefärbte naturwissenschaftliche Denkart hervorrufen. Deren Schwäche bemerkten von einem Gesichtspunkte aus auf dem du Prel steht, viele neuere Geister. Dieser darf hier als der Repräsentant einer sich geltend machenden Weltanschauungsströmung betrachtet werden. Für sie ist charakteristisch, wie sie in das Gebiet der wirklichen Welt eindringen will. In der Art dieses Eindringens wirkt die naturwissenschaftliche Vorstellungsart doch nach, obgleich sie zugleich auf das heftigste bekämpft wird. Die Naturwissenschaft geht von dem aus, was dem sinnlichen Bewusstsein zugänglich ist.

Sie ist genötigt, selbst auf ein Übersinnliches hinzuweisen. Denn sinnlich wahrnehmbar ist nur das Licht, sind nicht die Ätherschwingungen. Diese also gehören einem - wenigstens - außersinnlichen Gebiete an.

Aber ist die Naturwissenschaft berechtigt, von einem Außersinnlichen zu sprechen? Sie will doch nur im Gebiet des Sinnlichen forschen. Ist überhaupt jemand berechtigt, von einem Übersinnlichen zu reden, der sein Forschen auf das Gebiet dessen beschränkt, was sich dem an die Sinne, also an den Leib gebundenen Bewusstsein darstellt? Du Prel will das Recht einer Erforschung des Übersinnlichen nur demjenigen zugestehen, welcher die Menschenseele in ihrer Wesenheit selbst nicht im Bereich des Sinnlichen sucht.

Nun sieht er die Hauptforderung in dieser Richtung darin, dass Seelenäußerungen aufgezeigt werden, welche beweisen, dass das Seelendasein nicht bloß dann wirkt, wenn es an den Leib gebunden ist. Durch den Leib lebt die Seele sich im sinnlichen Bewusstsein aus. In den Erscheinungen des Hypnotismus, der Suggestion, des Somnambulismus zeigt sich aber, dass die Seele in Wirkung tritt, wenn das sinnliche Bewusstsein ausgeschaltet ist. Der Umfang des Seelenlebens reicht somit weiter als derjenige des Bewusstseins.

Darinnen ist du Prels Ansicht der Gegenpol zu derjenigen der charakterisierten Bewusstseins-Philosophen, welche in dem Umfang der Bewusstheit zugleich den Umfang dessen gegeben glauben, worüber der Mensch philosophieren kann.

Für du Prel ist das Wesen des Seelischen außerhalb des Kreises dieses Bewusstseins zu suchen. Beobachtet man - das ist in seinem Sinne - die Seele dann, wenn sie ohne den gewöhnlichen Sinnesweg zur Betätigung gelangt, dann habe man den Beweis geliefert, dass sie übersinnlicher Natur ist. Zu den Wegen, auf denen dies geschehen kann, gehört, nach du Prels und vieler Ansicht, außer der Beobachtung der aufgeführten «abnormen» Seelenerscheinungen auch der Spiritismus.

Es ist nicht nötig, du Prels Meinung hier in bezug auf dieses Gebiet ins Auge zu fassen. Denn worinnen der Grundnerv seiner Anschauung liegt, das zeigt sich auch, wenn man nur auf seine Stellung zum Hypnotismus, zur Suggestion und zum Somnambulismus hinblickt. Wer die Geistwesenheit der Menschenseele darlegen will, der darf sich nicht damit begnügen, zu zeigen, wie in dem Erkennen diese Seele auf eine übersinnliche Welt hingewiesen wird. Denn ihm könnte, wie hier schon gesagt worden ist, die erstarkte naturwissenschaftliche Denkweise erwidern, dass mit ihrem Erkennen der übersinnlichen Welt die Seele, ihrer Wesenheit nach, noch nicht als in dem übersinnlichen Gebiete drinnenstehend gedacht werden darf.

Es könnte sehr wohl sein, dass auch eine ins Übersinnliche gehende Erkenntnis nur von dem Wirken des Leibes abhängig sei, somit nur Bedeutung für eine an den Leib gebundene Seele hätte. Demgegenüber fühlt du Prel, dass es notwendig ist, zu zeigen, wie die Seele nicht nur im Leibe das Übersinnliche erkennt, sondern außer dem Leibe das Übersinnliche erlebt. Mit dieser Anschauung wappnet er sich auch gegen Einwände, welche vom Gesichtspunkte der naturwissenschaftlichen Denkart gegen die Ansichten Euckens, Diltheys, Cohens, Kinkels und anderer Verfechter einer Erkenntnis der geistigen Welt gemacht werden können.

Anders aber steht es mit den Zweifeln, welche sich gegen seinen eigenen Weg erheben müssen. So wahr es ist, dass die Seele nur einen Weg ins Übersinnliche finden kann, wenn sie imstande ist, darzulegen, wie sie außer dem Sinnlichen selbst wirkt, so wenig gesichert ist das Herausheben der Seele aus dem Sinnlichen durch die Erscheinungen des Hypnotismus, Somnambulismus und der Suggestion, sowie auch aller anderen Vorgänge, welche du Prel noch heranzieht.

Allen diesen Erscheinungen gegenüber kann gesagt werden, dass der Philosoph, der sie zu erklären versucht, dies ja doch mit den Mitteln seines gewöhnlichen Bewusstseins vollbringt. Wenn nun dieses Bewusstsein undienlich sein soll zur wirklichen Welterklärung, wie sollten seine Erklärungen maßgebend sein für Erscheinungen, welche im Sinne dieses Bewusstseins über diese Erscheinungen sich verbreiten?

Das ist das Eigenartige bei du Prel, dass er den Blick auf besondere Tatsachen lenkt, welche auf ein Übersinnliches hinweisen, dass er aber ganz auf dem Boden der naturwissenschaftlichen Denkungsart bleiben will, wenn er diese Tatsachen erklärt. Müsste aber nicht die Seele auch mit ihrer Erklärungsart in das Übersinnliche eintreten, wenn sie von dem Übersinnlichen reden will?

Du Prel sieht auf das Übersinnliche; aber als Beobachter bleibt er im Sinnlichen stehen. Wollte er dieses nicht, so müsste er fordern, dass nur ein Hypnotisierter in der Hypnose das Richtige über seine Erlebnisse sagen kann, nur im somnambulen Zustande Erkenntnisse über das Übersinnliche gesammelt werden dürfen, und dass nicht gelten kann, was der Nicht-Hypnotisierte, der Nicht-Somnambule über die in Frage kommenden Erscheinungen denken muss. Diese Konsequenz aber führt ins Unmögliche. Spricht man von einem Versetzen der Seele aus dem Sinnensein heraus in ein anderes Sein, so muss man auch die Wissenschaft selbst, die man erringen will, innerhalb dieses Gebietes erwerben wollen. Es weist du Prel auf einen Weg, der gegangen werden muss, um ins Übersinnliche zu gelangen. Aber auch er lässt die Frage offen nach den rechten Mitteln, welche auf diesem Wege angewendet werden sollen.

Eine neue Gedankenrichtung ist angeregt worden durch die Umwandlung grundlegender physikalischer Begriffe, die Einstein (1879-1955) versucht hat. Dieser Versuch ist auch für die Weltanschauungsentwicklung von Bedeutung. Die Physik verfolgte bisher die ihr vorliegenden Erscheinungen so, dass sie sie in dem leeren dreidimensionalen Raum angeordnet und in der eindimensionalen Zeit verlaufend dachte. Der Raum und die Zeit waren dabei als außer den Dingen und Vorgängen angenommen. Sie waren gewissermaßen für sich bestehende, in sich starre Größen. Für die Dinge wurden im Raume die Entfernungen, für die Vorgänge die Zeitdauer gemessen. Entfernung und Dauer gehörten nach dieser Anschauung dem Raum und der Zeit, nicht den Dingen und Vorgängen an.

Dem tritt nun die von Einstein eingeleitete Relativitätstheorie entgegen. Für sie ist die Entfernung zweier Dinge etwas, das diesen Dingen selbst zugehört. Wie ein Ding sonstige Eigenschaften hat, so hat es auch diese, von irgendeinem zweiten Dinge eine bestimmte Entfernung zu haben. Außer diesen Beziehungen zueinander, die sich die Dinge durch ihr Wesen geben, ist nirgends etwas wie ein Raum vorhanden. Die Annahme eines Raumes macht eine für diesen Raum gedachte Geometrie möglich. Diese Geometrie kann dann auf die Dingwelt angewendet werden. Sie kommt in der bloßen Gedankenwelt zustande. Die Dinge müssen sich ihr fügen. Man kann sagen, den gedanklich vor der Beobachtung der Dinge festgestellten Gesetzen müssen die Verhältnisse der Welt folgen. Im Sinne der Relativitätstheorie wird diese Geometrie entthront. Vorhanden sind nur Dinge, und diese stehen untereinander in Verhältnissen, die sich als geometrisch darstellen. Die Geometrie wird ein Teil der Physik. Dann aber kann man nicht mehr davon sprechen, dass sich ihre Gesetze vor der Beobachtung der Dinge feststellen lassen.

Kein Ding hat irgendeinen Ort im Raume, sondern nur Entfernungen im Verhältnis zu anderen Dingen.

Ein gleiches wird für die Zeit angenommen. Kein Vorgang ist in einem Zeitpunkte; sondern er geschieht in einer Zeitentfernung von einem andern Vorgang. So aber fließen Zeitentfernungen der Dinge im Verhältnis zueinander und Raumentfernungen als gleichartig ineinander. Die Zeit wird eine vierte Dimension, die den drei Raumdimensionen gleichartig ist. Ein Vorgang an einem Dinge kann nur bestimmt werden als das, was in einer Zeitentfernung und Raumentfernung von anderen Vorgängen geschieht. Die Bewegung eines Dinges wird etwas, was nur im Verhältnis zu anderen Dingen gedacht werden kann.

Man erwartet, dass nur diese Anschauung einwandfreie Erklärungen gewisser physikalischer Vorgänge liefern werde, während solche Vorgänge bei Annahme eines für sich bestehenden Raumes und einer für sich bestehenden Zeit zu widerspruchsvollen Gedanken führen.

Bedenkt man, dass für viele Denker bisher nur das als Wissenschaft von der Natur galt, was sich mathematisch darstellen lässt, so liegt in dieser Relativitätstheorie nichts geringeres als die Nichtigkeitserklärung einer jeglichen wirklichen Wissenschaft über die Natur. Denn das Wissenschaftliche der Mathematik wurde gerade darin gesehen, dass sie unabhängig von der Naturbeobachtung die Gesetze des Raumes und der Zeit feststellen konnte. Demgegenüber sollen nun die Naturdinge und Naturvorgänge selbst die Raum und Zeitverhältnisse feststellen. Sie sollen das Mathematische liefern. Das einzig Sichere wird an ihre Unsicherheit abgegeben.

Nach dieser Anschauung wird aus dem Verhältnis des Menschen zur Natur jeder Gedanke an ein Wesenhaftes, das in sich selber sich seine Bestimmung im Sein gibt, ausgeschlossen. Alles ist nur im Verhältnis zu anderem.

Insoferne der Mensch sich innerhalb der Naturdinge und Naturvorgänge betrachtet, wird er den Folgerungen dieser Relativitätstheorie nicht entgehen können. Will er aber, wie es das Erleben des eigenen Wesens notwendig macht, sich nicht in bloße Relativitäten wie in einer seelischen Ohnmacht verlieren, so wird er das «In-sich-Wesenhafte» fortan nicht im Bereiche der Natur suchen dürfen, sondern in der Erhebung über die Natur im Reiche des Geistes.

Der Relativitätstheorie für die physische Welt wird man nicht entkommen; man wird aber eben dadurch in die Geist-Erkenntnis getrieben werden. In dem Erweisen der Notwendigkeit einer Geist-Erkenntnis, die unabhängig von der Naturbeobachtung auf geistigen Wegen gesucht wird, liegt das Bedeutsame der Relativitätstheorie. Dass sie so zu denken nötigt, macht ihren Wert innerhalb der Weltanschauungsentwicklung aus.

*

Es sollte in dieser Darstellung der Fortgang in der eigentlichen philosophischen Arbeit für die Weltenrätsel geschildert werden. Deshalb muss abgesehen werden von dem Ringen solcher Geister wie Richard Wagner, Leo Tolstoi und anderer, so bedeutsam auch eine Betrachtung dieses Ringens erscheinen müsste, wenn es sich darum handelte, die Strömungen zu verfolgen, welche von der Philosophie in die allgemeine Geisteskultur führen.

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