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Nachklänge der Kantschen Vorstellungsart

Persönlichkeiten, welche durch Sich-Versenken in die Hegelsche Ideenart eine Sicherheit suchten für das Verhältnis einer Vorstellung über das selbstbewusste Ich zu dem allgemeinen Weltbilde, gibt es in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nur wenige. Einer der Besten ist der zu früh verstorbene Paul Asmus (1842-1876), der 1873 eine Schrift veröffentlichte «Das Ich und das Ding an sich».

Er zeigt, wie in der Art, in der Hegel das Denken und die Ideenwelt ansah, ein Verhältnis des Menschen zum Wesen der Dinge zu gewinnen ist. Er setzt in scharfsinniger Weise auseinander, dass im Denken des Menschen nicht etwas Wirklichkeitsfremdes, sondern etwas Lebensvolles, Urwirkliches gegeben ist, in das man sich nur zu versenken braucht, um zum Wesen des Daseins zu kommen. Er stellte in lichtvoller Weise den Gang dar, den die Weltanschauungsentwicklung genommen hat, um von Kant, der das «Ding an sich» als etwas dem Menschen Fremdes, Unzugängliches angesehen hatte, zu Hegel zu kommen, welcher meinte, dass der Gedanke nicht nur sich selbst als ideelle Wesenheit, sondern auch das «Ding an sich» umspanne.

Solche Stimmen fanden aber kaum Gehör. Am schärfsten kam dies in dem Ruf zum Ausdruck, der seit Eduard Zellers Heidelberger Universitätsrede «Über Bedeutung und Aufgabe der Erkenntnistheorie» in einer gewissen philosophischen Strömung beliebt wurde: «Zurück zu Kant».

Die teils unbewussten, teils bewussten Vorstellungen, die zu diesem Ruf führten, sind etwa diese: Die Naturwissenschaft hat das Vertrauen zu dem selbständigen Denken erschüttert, das von sich aus zu den höchsten Daseinsfragen vordringen will. Wir können uns aber doch bei den bloßen naturwissenschaftlichen Ergebnissen nicht beruhigen. Denn sie führen über die Außenseite der Dinge nicht hinweg. Es muss hinter dieser Außenseite noch verborgene Daseinsgründe geben. Hat ja doch die Naturwissenschaft selbst gezeigt, dass die Welt der Farben, Töne usw., die uns umgibt, nicht eine Wirklichkeit draußen in der objektiven Welt ist, sondern dass sie hervorgebracht ist durch die Einrichtung unserer Sinne und unseres Gehirns. (Vgl. oben S. 422 ff.)

Man muss also die Fragen stellen: Inwiefern weisen die naturwissenschaftlichen Ergebnisse über sich selbst hinaus zu höheren Aufgaben? Welches ist das Wesen unseres Erkennens? Kann dieses Erkennen zur Lösung dieser höheren Aufgaben führen? Kant hatte in eindringender Weise solche Fragen gestellt. Man wollte sehen, wie er es gemacht hat, um ihnen gegenüber Stellung zu nehmen. Man wollte in aller Schärfe Kants Gedankengänge nachdenken, um durch Fortführung seiner Ideen, durch Vermeidung seiner Irrtümer einen Ausweg aus der Ratlosigkeit zu finden.

Eine Reihe von Denkern mühte sich ab, von Kantschen Ausgangspunkten aus zu irgendeinem Ziele zu kommen. Die bedeutendsten unter ihnen sind Hermann Cohen (1842 bis 1918), Otto Liebmann (1840-1912), Wilhelm Windelband (1848-1915), Johannes Volkelt (1848-1930), Benno Erdmann (1851-1921).

Es ist viel Scharfsinn in den Schriften dieser Männer zu finden. Eine große Arbeit ist daran gewendet worden, die Natur und Tragweite der menschlichen Erkenntnisfähigkeit zu untersuchen. Johannes Volkelt, der, insofern er als Erkenntnistheoretiker sich betätigt, ganz in dieser Strömung lebt, auch selbst ein gründliches Werk über Kants Erkenntnistheorie (1879) geliefert hat, in dem alle diese Vorstellungsart bestimmenden Fragen erörtert werden, hat 1884 beim Antritt seines Lehramtes in Basel eine Rede gehalten, in welcher er ausspricht, dass alles Denken, das über die Ergebnisse der einzelnen Tatsachenwissenschaften hinausgeht, den «unruhigen Charakter des Suchens und Nachspürens, des Probierens, Abwehrens und Zugestehens an sich» haben müsse; «es ist ein Vorwärtsgehen, das doch wieder teilweise zurückweicht; ein Nachgeben, das doch wieder bis zu einem gewissen Grade zugreift». (Volkelt, Über die Möglichkeit einer Metaphysik, Hamburg und Leipzig, 1884.)

Scharf nuanciert erscheint die neuere Anknüpfung an Kant bei Otto Liebmann. Seine Schriften «Zur Analysis der Wirklichkeit» (1876), «Gedanken und Tatsachen» (1882), «Klimax der Theorien» (1884) sind wahre Musterbeispiele philosophischer Kritik. Ein ätzender Verstand deckt da in genialischer Weise Widersprüche in den Gedankenwelten auf, zeigt Halbheiten in sicher erscheinenden Urteilen und rechnet gründlich den einzelnen Wissenschaften vor, was sie Unbefriedigendes enthalten, wenn ihre Ergebnisse vor ein höchstes Denktribunal gestellt werden. Liebmann rechnet dem Darwinismus seine Widersprüche vor; er zeigt seine nicht ganz begründeten Annahmen und seine Gedankenlücken. Er sagt, dass etwas da sein muss, das über die Widersprüche hinwegführt, das die Lücken ausfüllt, das die Annahmen begründet. Er schließt einmal die Betrachtung, die er der Natur der Lebewesen widmet, mit den Worten:

«Der Umstand, dass Pflanzensamen trotz äonenlangen Trockenliegens seine Keimfähigkeit nicht verliert, dass zum Beispiel die in ägyptischen Mumiensärgen aufgefundenen Weizenkörner, nachdem sie Jahrtausende hindurch hermetisch begraben gewesen sind, heute in feuchten Acker gesät aufs vortrefflichste gedeihen; dass ferner Rädertierchen und andere Infusorien , die man ganz vertrocknet aus der Dachrinne aufgesammelt hat, bei Befeuchtung mit Regenwasser neubelebt umherwimmeln; ja dass Frösche und Fische, die im gefrierenden Was zu festen Eisklumpen erstarrt sind, bei sorgfältigem Auftauen das verlorene Leben wiedergewinnen; - dieser Umstand lässt ganz entgegengesetzte Deutungen zu ... Kurz: jedes kategorische Absprechen in dieser Angelegenheit wäre plumper Dogmatismus. Daher brechen wir hier ab.»

Dieses «Daher brechen wir hier ab» ist im Grunde, wenn auch nicht dem Worte, doch dem Sinne nach, der Schlussgedanke jeder Liebmannschen Betrachtung. Ja, es ist das Schlussergebnis vieler neuer Anhänger und Bearbeiter des Kantianismus. - Die Bekenner dieser Richtung kommen nicht darüber hinaus, zu betonen, dass sie die Dinge in ihr Bewusstsein aufnehmen, dass also alles, was sie sehen, hören usw. nicht draußen in der Welt, sondern drinnen in ihnen selbst ist, und dass sie folglich über das, was draußen ist, nichts ausmachen können.

Vor mir steht ein Tisch, - sagt sich der Neukantianer. Doch nein, das scheint nur so. Nur wer naiv ist in bezug auf Weltanschauungsfragen, kann sagen: Außer mir ist ein Tisch. Wer die Naivität abgelegt hat sagt sich: Irgend etwas Unbekanntes macht auf mein Auge einen Eindruck; dieses Auge und mein Gehirn machen aus diesem Eindruck eine braune Empfindung. Und weil ich die braune Empfindung nicht nur in einem einzigen Punkte habe, sondern mein Auge hinschweifen lassen kann über eine Fläche und über vier säulenartige Gebilde, so formt sich mir die Braunheit zu einem Gegenstand, der eben der Tisch ist. Und wenn ich den Tisch berühre, so leistet er mir Widerstand. Er macht einen Eindruck auf meinen Tastsinn, den ich dadurch ausdrücke, dass ich dem vom Auge geschaffenen Gebilde eine Härte zuschreibe. Ich habe also auf Anlass irgendeines «Dinges an sich», das ich nicht kenne, aus mir heraus den Tisch geschaffen. Der Tisch ist meine Vorstellung. Er ist nur in meinem Bewusstsein. Volkelt stellt diese Ansicht an den Beginn seines Buches über Kants Erkenntnistheorie:

«Der erste Fundamentalsatz, den sich der Philosoph zu deutlichem Bewusstsein zu bringen hat, besteht in der Erkenntnis, dass unser Wissen sich zunächst auf nichts weiter als auf unsere Vorstellungen erstreckt.

Unsere Vorstellungen sind das Einzige, das wir unmittelbar erfahren, unmittelbar erleben; und eben weil wir sie unmittelbar erfahren, deshalb vermag uns auch der radikalste Zweifel das Wissen von denselben nicht zu entreißen. Dagegen ist das Wissen, das über mein Vorstellen - ich nehme diesen Ausdruck hier überall im weitesten Sinne, so dass alles physische Geschehen darunter fällt - hinausgeht, vor dem Zweifel nicht geschützt. Daher muss zu Beginn des Philosophierens alles über die Vorstellungen hinausgehende Wissen ausdrücklich als bezweifelbar hingestellt werden.»

Otto Liebmann verwendet diesen Gedanken auch dazu, die Behauptung zu verteidigen: Der Mensch könne ebensowenig wissen, ob die von ihm vorgestellten Dinge außerhalb seines Bewusstseins nicht seien, wie er wissen könne, ob sie seien.

«Gerade deshalb, weil in der Tat kein vorstellendes Subjekt aus der Sphäre seines subjektiven Vorstellens hinaus kann; gerade deshalb, weil es nie und nimmermehr mit Überspringung des eigenen Bewusstseins, unter Emanzipation von sich selber, dasjenige zu erfassen und zu konstatieren imstande ist, was jenseits und außerhalb seiner Subjektivität existieren oder nicht existieren mag; gerade deshalb ist es ungereimt, behaupten zu wollen, dass das vorgestellte Objekt außerhalb der subjektiven Vorstellung nicht da sei.» (O. Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit, S. 28.)

Sowohl Volkelt wie Liebmann sind aber doch bemüht, nachzuweisen, dass der Mensch innerhalb seiner Vorstellungswelt etwas vorfindet, das nicht bloß beobachtet, wahrgenommen, sondern zu dem Wahrgenommenen hinzugedacht ist, und das auf das Wesen der Dinge wenigstens hindeutet. Volkelt ist der Ansicht, dass es eine Tatsache innerhalb des Vorstellungslebens selbst gibt, die hinausweist über das bloße Vorstellungsleben, auf etwas, das außerhalb dieses Vorstellungslebens liegt. Diese Tatsache ist die, dass sich gewisse Vorstellungen dem Menschen mit logischer Notwendigkeit aufdrängen.

In seiner 1906 erschienen Schrift «Die Quellen der menschlichen Gewissheit» liest man (S. 3) die Volkeltsche Ansicht:

«Fragt man, worauf die Gewissheit unseres Erkennens beruht, so stößt man auf zwei Ursprünge, auf zwei Gewissheitsquellen. Mag auch ein noch so inniges Zusammenwirken beider Gewissheitsweisen nötig sein, wenn Erkenntnis erstehen soll, so ist es doch unmöglich, die eine auf die andere zurückzuführen. Die eine Gewissheitsquelle ist die Selbstgewissheit des Bewusstseins, das Innesein meiner Bewusstseinstatsachen.

So wahr ich Bewusstsein bin, so wahr bezeugt mir mein Bewusstsein das Vorhandensein gewisser Verläufe und Zustände, gewisser Inhalte und Formen. Ohne diese Gewissheitsquelle gäbe es überhaupt kein Erkennen; sie gibt uns den Stoff, aus dessen Bearbeitung alle Erkenntnisse allererst hervorgehen. Die andere Gewissheitsquelle ist die Denknotwendigkeit, die Gewissheit des logischen Zwanges, das sachliche Notwendigkeitsbewusstsein. Hiermit ist etwas schlechtweg Neues gegeben, das sich aus der Selbstgewissheit des Bewusstseins unmöglich gewinnen lässt.»

Über diese zweite Gewissheitsquelle spricht sich Volkelt in seiner früher genannten Schrift in folgender Art aus:

«Die unmittelbare Erfahrung lässt uns in der Tat Erleben, dass gewisse Begriffsverknüpfungen eine höchst eigentümliche Nötigung bei sich führen, welche von allen anderen Arten der Nötigung, von denen Vorstellungen begleitet sind, wesentlich unterschieden ist. Diese Nötigung zwingt uns, gewisse Begriffe nicht nur als in dem bewussten Vorstellen notwendig zusammengehörig zu denken, sondern auch eine entsprechende objektive, unabhängig von den bewussten Vorstellungen existierende notwendige Zusammengehörigkeit anzunehmen. Und ferner zwingt uns diese Nötigung nicht etwa in der Weise, dass sie uns sagte, es wäre, falls das von ihr Vorgeschriebene nicht stattfände, um unsere moralische Befriedigung oder um unser inneres Glück, unser Heil usw. geschehen, sondern ihr Zwang enthält dies, dass das objektive Sein sich in sich selbst aufheben, seine Existenzmöglichkeit verlieren müsste, wenn das Gegenteil von dem, was sie vorschreibt, bestehen sollte. Das Ausgezeichnete dieses Zwanges besteht also darin, dass der Gedanke, es soll das Gegenteil der sich uns aufdrängenden Notwendigkeit existieren, sich uns unmittelbar als eine Forderung, dass sich die Realität gegen ihre Existenzbedingungen empören solle, kundtut. Wir bezeichnen bekanntlich diesen eigentümlichen unmittelbar erlebten Zwang als logischen Zwang, als Denknotwendigkeit. Das logisch Notwendige offenbart sich uns unmittelbar als ein Ausspruch der Sache selbst. Und zwar ist es die eigentümliche sinnvolle Bedeutung, die vernunftvolle Durchleuchtung, die alles Logische enthält, wodurch mit unmittelbarer Evidenz für die sachliche, reale Geltung der logischen Begriffsverknüpfung gezeugt wird.» (Volkelt, Kants Erkenntnistheorie, S. 208 f.)

Und Otto Liebmann legt gegen das Ende seiner Schrift «Die Klimax der Theorien» das Bekenntnis ab, dass, seiner Ansicht nach, das ganze Gedankengebäude menschlicher Erkenntnis, vom Erdgeschoss der Beobachtungswissenschaft bis in die luftigsten Regionen höchster Weltanschauungshypothesen, durchzogen ist von Gedanken, die über die Wahrnehmung hinausweisen, und dass die «Wahrnehmungsbruchstücke erst nach Maßgabe bestimmter Verfahrungsarten des Verstandes durch außerordentlich viel Nichtbeobachtetes ergänzt, verbunden, in fester Ordnung zusammengereiht werden müssen.»

Wie kann man aber dem menschlichen Denken die Fähigkeit absprechen, aus sich heraus, durch eigene Tätigkeit etwas zu erkennen, wenn es schon zur Ordnung der beobachteten Wahrnehmungstatsachen diese seine eigene Tätigkeit zu Hilfe rufen muss? Der Neukantianismus ist in einer sonderbaren Lage. Er möchte innerhalb des Bewusstseins, innerhalb des Vorstellungslebens bleiben, muss sich aber gestehen, dass er in diesem «Innerhalb» keinen Schritt machen kann, der ihn nicht links und rechts hinausführte. Otto Liebmann schließt das zweite seiner Hefte «Gedanken und Tatsachen» so:

«Wenn einerseits, aus dem Gesichtspunkt der Naturwissenschaft betrachtet, der Mensch nichts weiter wäre als belebter Staub, so ist anderseits, aus dem allein uns zugänglichen, unmittelbar gegebenen Gesichtspunkt betrachtet, die ganze im Raum und in der Zeit erscheinende Natur ein anthropozentrisches Phänomen.»

Trotzdem die Anschauung, dass die Beobachtungswelt nur menschliche Vorstellung ist, sich selbst auslöschen muss, wenn sie richtig verstanden wird, sind ihre Bekenner zahlreich.

Sie wird in den verschiedensten Schattierungen im Laufe der letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts immer wiederholt. Ernst Laas (1837-1885) vertritt energisch den Standpunkt, dass nur positive Wahrnehmungstatsachen innerhalb der Erkenntnis verarbeitet werden dürfen. Aloys Riehl (1844-1924) erklärt, weil er von derselben Grundanschauung ausgeht, dass es überhaupt keine allgemeine Weltanschauung geben könne, sondern dass alles, was über die einzelnen Wissenschaften hinausgeht, nichts anderes sein dürfe, als eine Kritik der Erkenntnis. Erkannt wird nur in den einzelnen Wissenschaften; die Philosophie hat die Aufgabe, zu zeigen, wie erkannt wird, und darüber zu wachen, dass das Denken nur ja nichts in das Erkennen einmische, was sich durch die Tatsachen nicht rechtfertigen lasse.

Am radikalsten ist Richard Wahle in seinem Buche «Das Ganze der Philosophie und ihr Ende» vorgegangen (1894). Er sondert in der denkbar scharfsinnigsten Weise aus der Erkenntnis alles aus, was durch den menschlichen Geist zu den «Vorkommnissen» der Welt hinzugebracht ist. Zuletzt steht dieser Geist da in dem Meere der vorüberflutenden Vorkommnisse, sich selbst in diesem Meere als ein solches Vorkommnis schauend und nirgends einen Anhaltspunkt findend, sich über die Vorkommnisse sinnvoll aufzuklären. Dieser Geist müsste ja seine eigene Kraft anspannen, um von sich aus die Vorkommnisse zu ordnen. Aber dann ist es ja er selbst, der diese Ordnung in die Natur bringt. Wenn er etwas über das Wesen der Vorkommnisse sagt, dann hat er es nicht aus den Dingen, sondern aus sich genommen. Er könnte das nur, wenn er sich zugestünde, dass in seinem eigenen Tun etwas Wesenhaftes sich abspielte, wenn er annehmen dürfte, dass es auch für die Dinge etwas bedeutet, wenn er etwas sagt. Dieses Vertrauen darf im Sinne der Weltanschauung Wahles der Geist nicht haben. Er muss die Hände in den Schoß legen und zusehen, was um ihn und in ihm abflutet; und er prellte sich selbst, wenn er auf eine Anschauung etwas gäbe, die er sich über die Vorkommnisse bildet.

«Was könnte der Geist, der, ins Weltgehäuse spähte und in sich die Fragen nach dem Wesen und dem Ziele des Geschehens herumwälzte, endlich als Antwort finden? Es ist ihm widerfahren, dass er, wie er so scheinbar im Gegensatze zur umgebenden Welt dastand, sich auflöste und in einer Flucht von Vorkommnissen mit allen Vorkommnissen zusammenfloss. Er ‹wusste› nicht mehr die Welt; er sagte, ich bin nicht sicher, dass Wissende da sind, sondern Vorkommnisse sind da schlechthin.

Sie kommen freilich in solcher Weise, dass der Begriff eines Wissens vorschnell, ungerechtfertigt entstehen konnte ... Und ‹Begriffe› huschten empor, um Licht in die Vorkommnisse zu bringen, aber es waren Irrlichter, Seelen der Wünsche nach Wissen, erbärmliche, in ihrer Evidenz nichtssagende Postulate einer unausgefüllten Wissensform. Unbekannte Faktoren müssen im Wechsel walten. Über ihre Natur war Dunkel gebreitet, Vorkommnisse sind der Schleier des Wahrhaften. ...»

Wahle schließt sein Buch, das die «Vermächtnisse» der Philosophie an die einzelnen Wissenschaften darstellen soll, an Theologie, Physiologie, Ästhetik und Staatspädagogik, mit den Worten:

«Möge die Zeit anbrechen, in der man sagen wird, einst war Philosophie.»

Wahles genanntes Buch (wie seine anderen: «Geschichtlicher Überblick über die Entwicklung der Philosophie», 1895, «Über den Mechanismus des geistigen Lebens», 1906) ist eines der bedeutsamsten Symptome der Weltanschauungsentwicklung im neunzehnten Jahrhundert. Die Vertrauenslosigkeit gegenüber dem Erkennen, die von Kant ihren Ausgangspunkt nimmt, endet für eine Gedankenwelt, wie sie bei Wahle auftritt, mit dem vollständigen Unglauben an alle Weltanschauung.

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