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Die radikalen Weltanschauungen

Im Beginne der vierziger Jahre führt ein Mann kräftige Schläge gegen die Weltanschauung Hegels, der sich vorher gründlich und intim in sie eingelebt hatte. Es ist Ludwig Feuerbach (1804-1872).

Die Kriegserklärung gegen die Weltanschauung, aus der er herausgewachsen war, ist in radikaler Form gegeben in seinen Schriften «Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie» (1842) und in den «Grundsätzen der Philosophie der Zukunft» (1843). Die weitere Ausführung seiner Gedanken können wir in seinen anderen Schriften verfolgen «Das Wesen des Christentums» (1841), «Das Wesen der Religion» (1845) und in der «Theogonie» (1857).

In dem Wirken Ludwig Feuerbachs wiederholte sich auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft ein Vorgang, der sich fast ein Jahrhundert früher auf dem naturwissenschaftlichen Gebiet (1759) durch das Auftreten Caspar Friedrich Wolffs vollzogen hatte. Die Tat Wolffs bedeutet eine Reform der Idee der Entwicklung auf dem Felde der Wissenschaft von den Lebewesen. Wie die Entwicklung vor Wolff verstanden wurde, das ist am deutlichsten aus den Ansichten des Mannes zu ersehen, welcher der Umwandlung dieser Vorstellung den heftigsten Widerspruch entgegengesetzt hat: Albrecht von Hallers.

Dieser Mann, in dem die Physiologen mit Recht einen der bedeutendsten Geister ihrer Wissenschaft verehren, konnte sich die Entwicklung eines lebendigen Wesens nicht anders vorstellen als so, dass der Keim bereits alle Teile, die während des Lebensverlaufes auftreten, im kleinen, aber vollkommen vorgebildet enthalte. Die Entwicklung soll also Auswickelung eines schon Dagewesenen sein, das zuerst wegen seiner Kleinheit oder aus anderen deren Gründen für die Wahrnehmung verborgen war. Wird diese Anschauung konsequent festgehalten, so entsteht im Laufe der Entwicklung nichts Neues, sondern es wird ein Verborgenes, Eingeschachteltes fortlaufend an das Licht des Tages gebracht. Haller hat diese Ansicht ganz schroff vertreten. In der Urmutter Eva war im kleinen, verborgen, schon das ganze Menschengeschlecht vorhanden. Diese Menschenkeime sind nur im Laufe der Weltgeschichte ausgewickelt worden.

Man sehe, wie der Philosoph Leibniz (1646-1716) die gleiche Vorstellung ausspricht: «So sollte ich meinen, dass die Seelen, welche eines Tages menschliche Seelen sein werden, im Samen, wie jene von anderen Spezies, dagewesen sind, dass sie in den Voreltern bis auf Adam, also seit dem Anfang der Dinge, immer in der Form organisierter Dinge existiert haben.»

Nun hat Wolff in seiner 1759 erschienen «Theoria generationis» dieser Idee der Entwicklung eine andere gegenübergestellt, die von der Annahme ausgeht, dass Glieder, die im Verlaufe des Lebens eines Organismus auftreten, vorher in keiner Weise vorhanden waren, sondern in dem Zeitpunkte, in dem sie wahrnehmbar werden, auch als wirkliche Neubildungen erst entstehen. Wolff zeigte, dass in dem Ei nichts von der Form des ausgebildeten Organismus vorhanden ist, sondern dass dessen Entwicklung eine Kette von Neubildungen ist. Diese Ansicht macht erst die Vorstellung eines wirklichen Werdens möglich. Denn sie erklärt, dass etwas entsteht, was noch nicht dagewesen ist, also im wahren Sinne «wird».

Hallers Ansicht leugnet das Werden, da sie nur ein fortlaufendes Sichtbarwerden eines schon Dagewesenen zugibt. Dieser Naturforscher setzte daher der Idee Wolffs den Machtspruch entgegen: «Es gibt kein Werden». (Nulla est epigenesis!) Damit hat er in der Tat bewirkt, dass Wolffs Anschauung jahrzehntelang gänzlich unberücksichtigt geblieben ist.

Goethe schiebt den Widerstand, der seinen Bemühungen um die Erklärung der Lebewesen entgegengebracht worden ist, der Einschachtelungslehre in die Schuhe. Er hat sich bestrebt, die Gestaltungen innerhalb der organischen Natur aus ihrem Werden, ganz im Sinne einer wahrhaften Entwicklungsansicht zu verstehen, wonach das an einem Lebewesen zum Vorschein Kommende nicht schon verborgen dagewesen ist, sondern wirklich erst entsteht, wenn es erscheint. Er schreibt 1817, dass dieser Versuch, der seiner 1790 verfassten Schrift über die Metamorphose der Pflanzen zugrunde lag, eine «kalte, fast unfreundliche Begegnung zu erfahren hatte. Solcher Widerwille jedoch war ganz natürlich: die Einschachtelungslehre, der Begriff von Präformation, von sukzessiver Entwicklung des von Adams Zeiten her schon Vorhandenen hatten sich selbst der besten Köpfe im allgemeinen bemächtigt.» Auch in Hegels Weltanschauung konnte man noch einen Rest der alten Einschachtelungslehre sehen. Der reine Gedanke, der im Menschengeiste erscheint: er sollte in allen Erscheinungen eingeschachtelt liegen, bevor er in dem Menschen zum wahrnehmbaren Dasein gelangt.

Vor die Natur und den individuellen Geist setzt Hegel diesen reinen Gedanken, der gleichsam sein soll die «Darstellung Gottes, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung» der Welt war. Die Entwicklung der Welt stellt sich somit als eine Auswickelung des reinen Gedankens dar. So stellte sich Feuerbach zu Hegel.

Der Protest Ludwig Feuerbachs gegen die Weltanschauung Hegels beruht darauf, dass er ein Vorhandensein des Geistes vor seinem wirklichen Auftreten in dem Menschen ebensowenig sowenig anerkennen konnte, wie Wolff zuzugeben imstande war, dass die Teile des lebendigen Organismus schon im Ei vorgebildet seien. Wie dieser in den Organen des Lebewesens, so Feuerbach in dem individuellen Geiste des Menschen. Dieser ist in keiner Weise vor seinem wahrnehmbaren Dasein vorhanden; er entsteht erst in dem Zeitpunkte, in dem er wirklich auftritt.

Es ist also für Feuerbach unberechtigt, von einem Allgeist, von einem Wesen zu sprechen, in dem der einzelne Geist seinen Ursprung habe. Es ist kein vernünftiges Sein vor seinem tatsächlichen Auftreten in der Welt vorhanden, das sich den Stoff, die wahrnehmbare Welt so gestaltet, dass zuletzt im Menschen sein Abbild zur Erscheinung kommt, sondern vor der Entstehung des Menschengeistes sind nur vernunftlose Stoffe und Kräfte vorhanden, die aus sich heraus ein Nervensystem gestalten, das sich im Gehirn konzentriert; und in diesem entsteht als vollkommene noch nicht Dagewesenes: die menschliche, vernunftbegabte Seele.

Für eine solche Weltanschauung gibt es keine Möglichkeit, die Vorgänge und Dinge von einem geistigen Urwesen abzuleiten Denn ein Geistwesen ist eine Neubildung infolge der Organisation des Gehirns. Und wenn der Mensch Geistiges in die Außenwelt versetzt, so stellt er sich völlig willkürlich vor, dass ein Wesen, wie es seinen eigenen Handlungen zugrunde liegt, außer ihm vorhanden sei und die Welt regiere. Jegliches geistige Urwesen muss der Mensch aus seiner Phantasie heraus erst erschaffen; die Dinge und Vorgänge der Welt geben keine Veranlassung, ein solches anzunehmen. Nicht das geistige Urwesen, in dem die Dinge eingeschachtelt liegen, hat den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen, sondern der Mensch hat sich nach seinem eigenen Wesen das Phantasiebild eines solchen Urwesens geformt. Das ist Feuerbachs Überzeugung.

«Das Wissen des Menschen von Gott ist das Wissen des Menschen von sich, von seinem eigenen Wesen. Nur die Einheit des Wesens und Bewusstseins ist Wahrheit. Wo das Bewusstsein Gottes, da ist auch das Wesen Gottes also im Menschen.» Der Mensch fühlte sich nicht stark genug, sich ganz auf sich selbst zu stützen; deshalb schuf er sich, nach dem eigenen Bilde ein unendliches Wesen, das er verehrt und anbetet.

Die Hegelsche Weltanschauung hat zwar alle anderen Eigenschaften aus dem Urwesen entfernt; sie hat aber für dasselbe noch die Vernünftigkeit beibehalten. Feuerbach entfernt auch diese; und damit hat er das Urwesen selbst beseitigt. Er setzt an die Stelle der Gottesweisheit völlig die Weltweisheit. Als einen notwendigen Wendepunkt in der Weltanschauungsentwicklung bezeichnet Feuerbach das «offene Bekenntnis und Eingeständnis, dass das Bewusstsein Gottes nichts anderes ist als das Bewusstsein» der Menschheit, dass der Mensch kein «anderes Wesen als absolutes, als göttliches Wesen denken, ahnen, vorstellen, fühlen, glauben, wollen, lieben und verehren kann als das menschliche Wesen». Es gibt eine Anschauung von der Natur und eine solche von dem Menschengeiste, aber keine von dem Wesen Gottes. Nichts ist wirklich als das Tatsächliche. «Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit oder als Wirkliches ist das Wirkliche als Objekt des Sinns, ist das Sinnliche. Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch. Nur ein sinnliches Wesen ist ein wahres, ein wirkliches Wesen. Nur durch die Sinne wird ein Gegenstand im wahren Sinne gegeben nicht durch das Denken für sich selbst. Das mit dem Denken gegebene oder identische Objekt ist nur Gedanke.»

Das heißt denn doch nichts anderes als das Denken tritt im menschlichen Organismus als Neubildung auf, und man ist nicht berechtigt, sich vorzustellen, dass der Gedanke vor seinem Auftreten schon in irgendeiner Form in der Welt eingeschachtelt verborgen gelegen hat. Man soll nicht die Beschaffenheit des tatsächlich Vorhandenen dadurch erklären wollen, dass man es aus einem schon Dagewesenen ableitet. Wahr und göttlich ist nur das Tatsächliche, was «unmittelbar sich selbst gewiss ist, unmittelbar für sich spricht und einnimmt, unmittelbar die Bejahung, dass es ist, nach sich zieht das schlechthin Entschiedene, schlechthin Unzweifelhafte, das Sonnenklare. Aber sonnenklar ist nur das Sinnliche; nur wo die Sinnlichkeit anfängt, hört aller Zweifel und Streit auf. Das Geheimnis des unmittelbaren Wissens ist die Sinnlichkeit.»

Feuerbachs Bekenntnis gipfelt in den Worten: «Die Philosophie zur Sache der Menschheit zu machen, das war mein erstes Bestreben. Aber wer einmal diesen Weg einschlägt, kommt notwendig zuletzt dahin, den Menschen zur Sache der Philosophie zu machen.» «Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluss der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie die Anthropologie also, mit Einschluss der Physiologie zur Universalwissenschaft.»

Feuerbach fordert, dass die Vernunft nicht als Ausgangspunkt an die Spitze der Weltanschauung gestellt werde, wie dies Hegel tut, sondern dass sie als Entwicklungsprodukt, als Neubildung betrachtet werde an dem menschlichen Organismus, an dem sie tatsächlich auftritt. Und ihm ist jede Abtrennung des Geistigen von dem Leiblichen zuwider, weil es nicht anders verstanden werden kann, denn als Entwicklungsergebnis des Leiblichen.

«Wenn der Psycholog sagt: ‹Ich unterscheide mich von meinem Leibe›, so ist damit ebensoviel gesagt, als wenn der Philosoph in der Logik oder in der Metaphysik der Sitten sagt: ‹Ich abstrahiere von der menschlichen Natur.› Ist es möglich, dass du von deinem Wesen abstrahierst? Abstrahierst du denn nicht als Mensch? Denkst du ohne Kopf? Die Gedanken sind abgeschiedene Seelen. Gut; aber ist nicht auch die abgeschiedene Seele noch ein treues Bild des weiland leibhaftigen Menschen? Andern sich nicht selbst die allgemeinsten metaphysischen Begriffe von Sein und Wesen, so wie sich das wirkliche Sein und Wesen des Menschen ändert? Was heißt also: Ich abstrahiere von der menschlichen Natur? Nichts weiter, als ich abstrahiere vom Menschen, wie er Gegenstand meines Bewusstseins und Denkens ist, aber nimmermehr vom Menschen, der hinter meinem Bewusstsein liegt, das heißt von meiner Natur, an die nolens volens unauflöslich meine Abstraktion gebunden ist. So abstrahierst du denn auch als Psycholog in Gedanken von deinem Leibe, aber gleichwohl bist du im Wesen aufs innigste mit ihm verbunden, das heißt, du denkst dich unterschieden von ihm, aber du bist deswegen noch lange nicht von ihm wirklich unterschieden. ... Hat nicht auch Lichtenberg recht, wenn er behauptet: man sollte eigentlich nicht sagen, ich denke, sondern es denkt. Wenn also gleich das: Ich denke, sich vom Leibe unterscheidet, folgt daraus, dass auch das: Es denkt, das Unwillkürliche in unserem Denken, die Wurzel und Basis des: Ich denke, vom Leibe unterschieden ist? Woher kommt es denn, dass wir nicht zu jeder Zeit denken können, dass uns nicht die Gedanken nach Belieben zu Gebote stehen, dass wir oft mitten in einer geistigen Arbeit trotz der angestrengtesten Willensbestrebungen nicht von der Stelle kommen, bis irgendeine äußere Veranlassung, oft nur eine Witterungsveränderung, die Gedanken wieder flott macht? Daher, dass auch die Denktätigkeit eine organische Tätigkeit ist. Warum müssen wir oft jahrelang Gedanken mit uns herumtragen, ehe sie uns klar und deutlich werden? Darum, weil auch die Gedanken einer organischen Entwicklung unterworfen sind, auch die Gedanken reifen und zeitigen müssen, so gut als die Früchte auf dem Felde und die Kinder im Mutterleibe.»

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Feuerbach weist auf Georg Christoph Lichtenberg hin, den im Jahre 1799 verstorbenen Denker, der mit mancher seiner Ideen als ein Vorläufer der Weltanschauung betrachtet werden muss, die in Geistern wie Feuerbach einen Ausdruck gefunden hat und der mit seinen anregenden Vorstellungen wohl nur deshalb nicht so befruchtend für das neunzehnte Jahrhundert geworden ist, weil die alles überschattenden mächtigen Gedankengebäude Fichtes, Schellings, Hegels die Gedankenentwicklung so in Anspruch genommen haben, dass aphoristische Ideenblitze, wenn sie auch so erhellend waren wie die Lichtenbergs, übersehen werden konnten.

Man braucht nur an einzelne Aussprüche des bedeutenden Mannes zu erinnern, um zu zeigen, wie in der von Feuerbach eingeleiteten Gedankenbewegung sein Geist wieder auflebte.

«Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, das heißt vermutlich, der Mensch schuf Gott nach dem seinigen.» «Unsere Welt wird noch so fein werden, dass es so lächerlich sein wird, einen Gott zu glauben als heutzutage Gespenster.» «Ist denn wohl unser Begriff von Gott etwas anderes als personifizierte Unbegreiflichkeit?» «Die Vorstellung, die wir uns von einer Seele machen, hat viel Ähnlichkeit mit der von einem Magneten in der Erde. Es ist bloß Bild. Es ist ein dem Menschen angeborenes Erfindungsmittel, sich alles unter dieser Form zu denken.» «Anstatt dass sich die Welt in uns spiegelt, sollten wir vielmehr sagen, unsere Vernunft spiegelt sich in der Welt. Wir können nichts anderes, wir müssen Ordnung und weise Regierung in der Welt erkennen, dies folgt aus der Einrichtung unserer Denkkraft. Es ist aber noch keine Folge, dass etwas, was wir notwendig denken müssen, auch wirklich so ist ... also daraus lässt sich kein Gott erweisen.» «Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewusst, die nicht von uns abhängen; andere, glauben wir wenigstens, hängen von uns ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt.»

Hätte Lichtenberg bei solchen Gedankenansätzen die Fähigkeit gehabt, eine in sich harmonische Weltanschauung auszubilden: er hätte nicht in dem Grade unberücksichtigt bleiben können, in dem dies geschehen ist. Zur Bildung einer Weltanschauung gehört nicht nur Überlegenheit des Geistes, die er besaß, sondern auch das Vermögen, Ideen im Zusammenhange allseitig auszugestalten und plastisch zu runden. Dies Vermögen ging ihm ab.

Seine Überlegenheit spricht sich in einem vortrefflichen Urteile über das Verhältnis Kants zu seinen Zeitgenossen aus: «Ich glaube, dass, so wie die Anhänger des Herrn Kant ihren Gegnern immer vorwerfen, sie verständen ihn nicht, so auch manche glauben, Herr Kant habe recht, weil sie ihn verstehen. Seine Vorstellungsart ist neu und weicht von der gewöhnlichen sehr ab; und wenn man nun auf einmal Einsicht in dieselbe erlangt, so ist man auch sehr geneigt, sie für wahr zu halten, zumal da er so viele eifrige Anhänger hat. Man sollte aber dabei immer bedenken, dass dieses Verstehen noch kein Grund ist, es selbst für wahr zu halten. Ich glaube, dass die meisten über der Freude, ein sehr abstraktes und dunkel gefasstes System zu verstehen, zugleich geglaubt haben, es sei demonstriert.»

Wie geistesverwandt sich Ludwig Feuerbach mit Lichtenberg fühlen musste, das zeigt sich besonders, wenn man vergleicht, auf welche Gesichtspunkte sich beide Denker stellten, wenn sie das Verhältnis ihrer Weltanschauung zum praktischen Leben in Betracht zogen.

Die Vorlesungen, die Feuerbach vor einer Anzahl von Studenten im Winter 1848 über das «Wesen der Religion» hielt, schloss er mit den Worten: «Ich wünsche nur, dass ich die mir gestellte, in einer der ersten Stunden ausgesprochene Aufgabe nicht verfehlt habe, die Aufgabe nämlich, Sie aus Gottesfreunden zu Menschenfreunden, aus Gläubigen zu Denkern, aus Betern zu Arbeitern, aus Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits, aus Christen, welche ihrem eigenen Bekenntnis und Geständnis zufolge ,halb Tier, halb Engel' sind, zu Menschen, zu ganzen Menschen zu machen.»

Wer, wie Feuerbach das getan hat, alle Weltanschauung auf die Grundlage der Natur- und Menschenerkenntnis stellt, der muss auch auf dem Gebiete der Moral alle Aufgaben, alle Pflichten ablehnen, die aus einem anderen Gebiet stammen als aus den natürlichen Anlagen des Menschen, oder die ein anderes Ziel haben als ein solches, das sich ganz auf die wahrnehmbare Welt bezieht. «Mein Recht ist mein gesetzlich anerkannter Glückseligkeitstrieb; meine Pflicht der mich zur Anerkennung zwingende Glückseligkeitstrieb anderer.»

Nicht im Ausblick auf ein Jenseits wird mir Aufschluss, was ich tun soll, sondern aus der Betrachtung des Diesseits. Soviel Kraft ich darauf verwende, irgendwelche Aufgaben zu erfüllen, die sich auf das Jenseits beziehen, so viel entziehe ich von meinen Fähigkeiten dem Diesseits, für das ich einzig bestimmt bin.

«Konzentration auf das Diesseits» ist es daher, was Ludwig Feuerbach verlangt. Wir können in Lichtenbergs Schriften ähnliche Worte lesen. Aber gerade diese sind zugleich mit Bestandteilen vermischt, die zeigen, wie wenig es einem Denker, der nicht das Vermögen hat, seine Ideen in sich harmonisch auszubilden, gelingt, eine Idee bis in ihre äußersten Konsequenzen zu verfolgen. Lichtenberg fordert schon die Konzentration auf das Diesseits, aber er durchsetzt diese Forderung noch immer mit Vorstellungen, die auf ein Jenseits zielen.

«Ich glaube, sehr viele Menschen vergessen über ihre Erziehung für den Himmel, die für die Erde. Ich sollte denken, der Mensch handelte am weisesten, wenn er erstere ganz an ihren Ort gestellt sein ließe. Denn wenn wir von einem weisen Wesen an diese Stelle gesetzt worden sind, woran kein Zweifel ist, so lasst uns das Beste in dieser Station tun, und uns nicht durch Offenbarungen blenden. Was der Mensch zu seiner Glückseligkeit zu wissen nötig hat, das weiß er gewiss ohne alle andere Offenbarung als die, die er seinem Wesen nach besitzt.»

Vergleiche, wie der zwischen Lichtenberg und Feuerbach, sind für die Geschichte der Weltanschauungsentwicklung bedeutsam. Sie zeigen den Fortgang der Geister am anschaulichsten, weil man aus ihnen erkennt, was der Zeitabstand, der zwischen ihnen liegt, an diesem Fortgang bewirkt hat.

Feuerbach ist durch Hegels Weltanschauung durchgegangen; er hat aus ihr die Kraft gezogen, seine entgegengesetzte Ansicht allein auszubilden. Er wurde nicht mehr gestört durch die Kantsche Frage: ob wir denn wirklich auch ein Recht haben, der Welt, die wir wahrnehmen, auch Wirklichkeit zuzuschreiben oder ob diese Welt nur in unserer Vorstellung existierte? Wer das letztere behauptet, der kann in die jenseits der Vorstellungen liegende wahre Welt alle möglichen Triebkräfte für den Menschen verlegen. Er kann neben der natürlichen eine übernatürliche Weltordnung gelten lassen, wie dies Kant getan hat.

Wer aber im Sinne Feuerbachs das Wahrnehmbare für das Wirkliche erklärt, der muss alle übernatürliche Weltordnung ablehnen. Für ihn gibt es keinen irgendwo aus dem Jenseits stammenden kategorischen Imperativ; für ihn sind nur Pflichten vorhanden, die sich aus den natürlichen Trieben und Zielen des Menschen ergeben.

Um eine zur Hegelschen in solchem Gegensatz stehende Weltanschauung auszubilden, wie dies Feuerbach getan hat, dazu gehörte allerdings auch eine Persönlichkeit, die von der Hegels so verschieden war wie die seinige. Hegel fühlte sich wohl mitten im Getriebe des ihm gegenwärtigen Lebens. Das unmittelbare Treiben der Welt mit seinem philosophischem Geiste zu beherrschen, war ihm eine schöne Aufgabe.

Als er von seiner Lehrtätigkeit in Heidelberg enthoben sein wollte, um nach Preußen überzugehen, da ließ er in seinem Abschiedsgesuch deutlich durchblicken, dass ihn die Aussicht lockte, einmal einen Tätigkeitskreis zu finden, der ihn nicht auf das bloße Lehren beschränke, sondern ihm das Eingreifen in die Praxis möglich mache. «Es müsse für ihn vornehmlich die Aussicht von größter Wichtigkeit sein, zu mehrer Gelegenheit bei weiter vorrückendem alter von der prekären Funktion, Philosophie an einer Universität zu dozieren, zu einer anderen Tätigkeit überzugehen und gebraucht zu werden.»

Wer eine solche Denkergesinnung hat, der muss in Frieden leben mit der Gestalt des praktischen Lebens, die dieses zu seiner Zeit angenommen hat. Er muss die Ideen, von denen es durchtränkt ist, vernünftig finden. Nur daraus kann er die Begeisterung schöpfen, an ihrem Ausbau mitzuwirken.

Feuerbach war dem Leben seiner Zeit nicht freundlich gesinnt. Ihm war die Stille eines abgeschiedenen Ortes lieber als das Getriebe des in seiner Zeit «modernen» Lebens. Er spricht sich darüber deutlich aus: «Überhaupt werde ich mich nie mit dem Städteleben versöhnen. Von Zeit zu Zeit in die Stadt zu ziehen, um zu lehren, das halte ich, nach den Eindrücken, die ich bereits hier hervorgebracht habe, für gut, ja für meine Pflicht; aber dann muss ich wieder zurück in die ländliche Einsamkeit, um hier im Schoße der Natur zu studieren und auszuruhen. Meine nächste Aufgabe ist, meine Vorlesungen, wie meine Zuhörer wünschen oder die Papiere Vaters zum Druck vorzubereiten.»

Von seiner Einsamkeit aus glaubte Feuerbach am besten beurteilen zu können, was an der Gestalt, die das wirkliche Leben angenommen hat, nicht natürlich, sondern nur durch die menschliche Illusion in dasselbe hineingetragen worden ist. Die Reinigung des Lebens von den Illusionen, das betrachtete er als seine Aufgabe. Dazu musste er dem Leben in diesen Illusionen so fern als möglich stehen. Er suchte nach dem wahren Leben; das konnte er in der Form, die das Leben durch die Zeitkultur angenommen hatte, nicht finden.

Wie ehrlich er es mit der «Konzentration auf das Diesseits» meinte, das zeigt ein Ausspruch, den er über die Märzrevolution getan hat. Sie schien ihm unfruchtbar, weil in den Vorstellungen, die ihr zugrunde lagen, noch der alte Jenseitsglaube fortlebte: «Die Märzrevolution war noch ein, wenn auch illegitimes Kind des christlichen Glaubens. Die Konstitutionellen glaubten, dass der Herr nur zu sprechen brauche: es sei Freiheit! es sei Recht! so ist auch schon Recht und Freiheit; und die Republikaner glaubten, dass man eine Republik nur zu wollen brauche, um sie auch schon ins Leben zu rufen; glaubten also an die Schöpfung einer Republik aus Nichts. Jene versetzten die christlichen Weltwunder, diese die christlichen Tatwunder auf das Gebiet der Politik.»

Nur eine Persönlichkeit, die die Harmonie des Lebens, deren der Mensch bedarf, in sich selbst zu tragen vermeint, kann bei dem tiefen Unfrieden, in dem Feuerbach mit der Wirklichkeit lebte, zugleich die Hymnen auf die Wirklichkeit sprechen, die er gesprochen hat. Dieses hören wir aus Worten wie diese: «In Ermangelung einer Aussicht ins Jenseits kann ich im Diesseits, im Jammertal der deutschen, ja europäischen Politik überhaupt, nur dass durch mich bei Leben und Verstand erhalten, dass ich die Gegenwart zu einem Gegenstande aristophanischen Gelächters mache.» Nur eine solche Persönlichkeit konnte aber auch alle die Kraft, die andere von einer äußeren Macht ableiten, im Menschen selbst suchen.

Die Geburt des Gedankens hatte in der griechischen Weltanschauung bewirkt, dass der Mensch sich nicht mehr so verwachsen mit der Welt fühlen konnte, wie ihm das beim alten Bildvorstellen möglich war. Es war dies die erste Stufe in dem Bilden eines Abgrundes zwischen Mensch und Welt. Eine weitere Stufe war gegeben mit der Entwicklung der neueren naturwissenschaftlichen Denkungsart. Diese Entwicklung riss die Natur und die Menschenseele völlig auseinander. Es musste auf der einen Seite entstehen ein Bild der Natur, in welchem der Mensch, seinem geistig-seelischen Wesen nach, nicht zu finden ist; und auf der anderen Seite eine Idee von der Menschenseele, welche zu der Natur keine Brücke fand. In der Natur fand man gesetzmäßige Notwendigkeit. Innerhalb dieser hatte keinen Platz, was in der Menschenseele sich findet: Impuls der Freiheit, der Sinn für ein Leben, das in einer geistigen Welt wurzelt und mit dem Sinnes dasein nicht erschöpft ist.

Geister wie Kant fanden nur einen Ausweg, indem sie beide Welten völlig schieden: in der einen Naturwissen, in der anderen Glauben fanden. Goethe, Schiller, Fichte, Schelling, Hegel dachten die Idee der selbstbewussten Seele so umfassend, dass diese in einer höheren Geistnatur zu wurzeln schien, die über Natur und Menschenseele steht.

Mit Feuerbach tritt ein Geist auf, welcher durch das Bild der Welt, welches die neue naturwissenschaftliche Vorstellungsart geben kann, sich genötigt glaubt, der Menschenseele alles absprechen zu müssen, was dem Naturbild widerspricht. Er macht die Menschenseele zu einem Gliede der Natur. Er kann dies nur, weil er alles aus dieser Menschenseele erst herausdenkt, was ihn stört, sie als ein Glied der Natur anzuerkennen.

Fichte, Schelling, Hegel nahmen die selbstbewusste Seele als das, was sie ist; Feuerbach macht sie zu dem, was er für sein Weltbild braucht. Mit ihm tritt eine Vorstellungsart auf, welche sich überwältigt fühlt von dem Bilde der Natur. Sie kann mit den beiden Teilen des modernen Weltbildes, dem Naturbilde und dem Seelenbilde, nicht fertig werden; deshalb geht sie an dem einen, dem Seelenbilde, ganz vorbei. Wolffs Idee von der Neubildung führt dem Naturbilde fruchtbare Impulse zu; Feuerbach verwendet diese Impulse für eine Geistwissenschaft, die nur dadurch bestehen kann, dass sie sich auf den Geist gar nicht einlässt. Er begründet eine Weltanschauungsströmung, welche dem mächtigsten Impuls des modernen Seelenlebens, dem lebendigen Selbstbewusstsein, ratlos gegenübersteht. In dieser Weltanschauungsströmung zeigt sich dieser Impuls in der Art, dass er nicht nur als unbegreiflich genommen wird, sondern dass man sich, weil er unbegreiflich scheint, über seine wahre Gestalt hinwegsetzt und ihn zu etwas macht einem Naturfaktor -, das er vor einer unbefangenen Beobachtung nicht ist.

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«Gott war mein erster Gedanke, die Vernunft mein zweiter, der Mensch mein dritter und letzter Gedanke.» So schildert Feuerbach den Weg, den er gegangen war vom Gläubigen zum Anhänger der Hegelschen und dann zu seiner eigenen Weltanschauung. Dasselbe hätte der Denker von sich sagen können, der im Jahre 1834 eines der wirksamsten Bücher des Jahrhunderts geliefert hat, das «Leben Jesu».

Es war David Friedrich Strauß (1808 bis 1874).

Feuerbach ging von einer Untersuchung der menschlichen Seele aus und fand, dass sie das Bestreben hat, ihr eigenes Wesen in die Welt hinaus zu versetzen und als göttliches Urwesen zu verehren. Er versuchte eine psychologische Erklärung dafür, wie der Gottesbegriff entsteht.

Den Anschauungen von Strauß lag ein ähnliches Ziel zugrunde, er ging aber nicht wie Feuerbach den Weg des Psychologen, sondern den des Geschichtsforschers. Und er stellte nicht den Gottesbegriff im allgemeinen, in dem umfassenden Sinn, in dem das Feuerbach getan hat, in den Mittelpunkt seines Nachsinnens, sondern den christlichen Begriff des Gottmenschen Jesu. Er wollte zeigen, wie die Menschheit zu dieser Vorstellung im Verlaufe der Geschichte gelangt ist.

Dass im menschlichen Geiste sich das göttliche Urwesen offenbart, war die Überzeugung der Hegelschen Weltanschauung. Diese hatte auch Strauß aufgenommen. Aber nicht in einem einzelnen Menschen kann sich, nach seiner Meinung, die göttliche Idee in ihrer ganzen Vollkommenheit verwirklichen. Der individuelle Einzelmensch ist immer nur ein unvollkommener Abdruck des göttlichen Geistes. Was dem einen Menschen zur Vollkommenheit fehlt, das hat der andere. Wenn man das ganze Menschengeschlecht ansieht, so wird man in ihm, auf unzählige Individuen verteilt, alle Vollkommenheiten finden, die der Göttlichkeit eigen sind. Das Menschengeschlecht im ganzen ist somit der fleischgewordene Gott, der Gottmensch. Dies ist, nach Strauß' Meinung, der Jesusbegriff des Denkers.

Von diesem Gesichtspunkt aus tritt Strauß an die Kritik des christlichen Begriffes vom Gottmenschen heran. Was dem Gedanken nach auf das ganze Menschengeschlecht verteilt ist, legt das Christentum einer Persönlichkeit bei, die einmal im Verlauf der Geschichte wirklich existiert haben soll.

«In einem Individuum, einem Gottmenschen, gedacht, widersprechen sich die Eigenschaften und Funktionen, welche die Kirchenlehre Christo zuschreibt: in der Idee der menschlichen Gattung stimmen sie zusammen.» 

Gestützt auf sorgfältige Untersuchungen über die historischen Grundlagen der Evangelien, sucht Strauß nachzuweisen, dass die Vorstellungen des Christentums Ergebnisse der religiösen Phantasie sind. Diese habe die religiöse Wahrheit, dass die menschliche Gattung der Gottmensch sei, zwar dunkel geahnt, aber nicht in klare Begriffe gefasst, sondern in einer dichterischen Gestalt, in einem Mythus zum Ausdrucke gebracht.

Die Geschichte des Gottessohnes wird so für Strauß zum Mythus, in dem die Idee der Menschheit dichterisch gestaltet wurde, lange bevor sie von den Denkern in der Form des reinen Gedankens erkannt wurde. Von diesem Gesichtspunkt aus gewinnt alles Wunderbare der christlichen Geschichte eine Erklärung, ohne dass man gezwungen ist, zu der vorher oft angenommenen trivialen Auffassung zu greifen, in den Wundern absichtliche Täuschungen oder Betrügereien zu sehen, zu denen der Religionsstifter entweder selbst gegriffen haben soll, um mit seiner Lehre einen möglichst großen Eindruck zu machen, oder welche die Apostel zu diesem Zwecke ersonnen haben sollen. Auch eine andere Ansicht, welche in den Wundern allerlei natürliche Vorgänge sehen wollte, war beseitigt. Die Wunder stellten sich dar als dichterisches Gewand für wirkliche Wahrheiten. Wie die Menschheit von ihren endlichen Interessen, dem Leben des Alltags, sich erhebt zu ihren unendlichen, zur Erkenntnis der göttlichen Wahrheit und Vernünftigkeit: das stellt der Mythus in dem Bilde des sterbenden und auferstehenden Heilandes dar. Das Endliche stirbt, um als Unendliches wieder zu erstehen.

Im Mythus der alten Völker ist der Niederschlag des Bildervorstellens der Urzeit zu sehen, aus dem sich das Gedankenerleben herausentwickelt hat. Ein Gefühl von dieser Tatsache lebt im neunzehnten Jahrhundert bei einer Persönlichkeit wie Strauß auf. Er will sich über den Fortgang und die Bedeutung des Gedankenlebens orientieren, indem er sich in den Zusammenhang der Weltanschauung mit dem mythischen Denken in der geschichtlichen Zeit vertieft. Er will Wissen, wie die mythenbildende Vorstellungsart noch in die neuere Weltanschauung hereinwirkt. Und zugleich will er das menschliche Selbstbewusstsein in einer Wesenheit verankern, die außerhalb der einzelnen Persönlichkeit liegt, indem er die ganze Menschheit als eine Verkörperung des Gottwesens sich vorstellt. Dadurch gewinnt er für die einzelne Menschenseele eine Stütze in der All-Menschenseele, welche ihre Entfaltung in dem Verlauf des geschichtlichen Werdens findet.

Noch radikaler geht Strauß zu Werke in seinem 1840 bis 1841 erschienenen Buche «Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft.» Hier handelt es sich ihm um Auflösung der christlichen Dogmen aus ihrer dichterischen Gestalt in die Gedankenwahrheiten, die ihnen zugrunde liegen. Er betont jetzt die Unverträglichkeit des modernen Bewusstseins mit demjenigen, das sich an die alten bildlich-mythischen Darstellungen der Wahrheit hält.

«Also lasse der Glaubende den Wissenden, wie dieser jenen, ruhig seine Straße ziehen; wir lassen ihnen ihren Glauben, so lassen sie uns unsere Philosophie; und wenn es den Überfrommen gelingen sollte, uns aus ihrer Kirche auszuschließen, so werden wir dies für Gewinn achten. Falsche Vermittelungsversuche sind jetzt genug gemacht; nur die Scheidung der Gegensätze kann weiterführen.»

Eine ungeheure Aufregung der Gemüter hatten Strauß' Anschauungen hervorgebracht. Bitter wurde es empfunden, dass die moderne Weltanschauung sich nicht mehr begnügte, die religiösen Grundvorstellungen im allgemeinen zu treffen, sondern dass sie durch eine mit allen wissenschaftlichen Mitteln ausgerüstete Geschichtsforschung die «Inkonsequenz» beseitigen wollte, von der einst Lichtenberg gesagt hatte, sie bestehe darin, dass «sich die menschliche Natur sogar unter das Joch eines Buches geschmiegt habe. Man kann sich» fährt er fort «nichts Entsetzlicheres denken, und dieses Beispiel allein zeigt, was für ein hilfloses Geschöpf der Mensch in concreto, ich meine in diese zweibeinige Phiole aus Erde, Wasser und Salz eingeschlossen, ist. Wäre es möglich, dass die Vernunft sich je einen despotischen Thron erbaute, so müsste ein Mann, der im Ernst das kopernikanische System durch die Autorität eines Buches widerlegen wollte, gehenkt werden. Dass in einem Buche steht, es sei von Gott, ist noch kein Beweis, dass es von Gott sei; dass aber unsere Vernunft von Gott sei, ist gewiss, man mag nun das Wort Gott nehmen, wie man will.

Die Vernunft straft da, wo sie herrscht, bloß mit den natürlichen Folgen des Vergehens oder mit Belehrung, wenn belehren strafen genannt werden kann.»

Strauß wurde seiner Stelle als Repetent am Tübinger Stift infolge des «Lebens Jesu» enthoben; und als er dann eine Professur der Theologie an der Universität Zürich antrat, kam das Landvolk mit Dreschflegeln herbei, um den Auflöser des Mythus unmöglich zu machen und seine Pensionierung zu erzwingen.

Weit über das Ziel hinaus, das sich Strauß setzte, ging ein anderer Denker in seiner Kritik der alten Weltanschauung vom Standpunkte der neuen aus: Bruno Bauer.

Die Ansicht, die Feuerbach vertritt, dass das Wesen des Menschen auch dessen höchstes Wesen sei und jedes andere höhere nur eine Illusion, die er nach seinem Ebenbild geschaffen und selbst über sich gesetzt hat, treffen wir auch bei Bruno Bauer, aber in grotesker Form. Er schildert, wie das menschliche Ich dazu kam, sich ein illusorisches Gegenbild zu schaffen, in Ausdrücken, denen man ansieht, dass sie nicht aus dem Bedürfnis eines liebevollen Begreifens des religiösen Bewusstseins, wie bei Strauß, sondern aus Freude an der Zerstörung hervorgingen. Er sagt, dem «alles verschlingenden Ich graute vor sich selbst; es wagte sich nicht als alles und als die allgemeinste Macht zu fassen, das heißt, es blieb noch der religiöse Geist und vollendete seine Entfremdung, indem es seine allgemeine Macht als eine fremde sich selbst gegenüberstellte und dieser Macht gegenüber in Furcht und Zittern für seine Erhaltung und Seligkeit arbeitete».

Bruno Bauer ist eine Persönlichkeit, die darauf ausgeht, ihr temperamentvolles Denken an allem Vorhandenen kritisch zu erproben. Dass das Denken berufen sei, zum Wesen der Dinge vorzudringen, hat er, als seine Überzeugung, aus Hegels Weltanschauung übernommen. Aber er ist nicht, gleich Hegel, dazu veranlagt, das Denken sich in einem Ergebnis, in einem Gedankengebäude ausleben zu lassen. Sein Denken ist kein hervorbringendes, sondern ein kritisches. Durch einen bestimmten Gedanken, durch eine positive Idee hätte er sich beschränkt gefühlt. Er will die kritische Kraft des Denkens nicht dadurch festlegen, dass er von einem Gedanken als von einem bestimmten Gesichtspunkt ausgeht, wie Hegel das getan hat.

«Die Kritik ist einerseits die letzte Tat einer bestimmten Philosophie, welche sich darin von einer positiven Bestimmtheit, die ihre wahre Allgemeinheit noch beschränkt, befreien muss, und darum andererseits die Voraussetzung, ohne welche sie sich nicht zur letzten Allgemeinheit des Selbstbewusstseins erheben kann.»

Dies ist das Glaubensbekenntnis der «Kritik der Weltanschauung», zu dem sich Bruno Bauer bekannte. Die «Kritik» glaubt nicht an Gedanken, Ideen, sondern nur an das Denken. «Der Mensch ist nun erst gefunden», triumphiert Bauer. Denn der Mensch ist nun durch nichts mehr gebunden als durch sein Denken. Menschlich ist nicht, sich an irgend etwas Außermenschliches hinzugeben, sondern alles im Schmelztiegel des Denkens zu bearbeiten. Nicht Ebenbild eines anderen Wesens soll der Mensch sein, sondern vor allen Dingen «Mensch», und das kann er nur dadurch, dass er sich durch sein Denken dazu macht. Der denkende Mensch ist der wahre Mensch. Nicht irgend etwas Äußeres, nicht Religion, Recht, Staat, Gesetz usw. kann den Menschen zum Menschen machen, sondern allein sein Denken. In Bauer tritt die Ohnmacht des Denkens auf, die an das Selbstbewusstsein heranreichen will aber nicht kann.

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Was Feuerbach als des Menschen höchstes Wesen erklärt hat, wovon Bruno Bauer behauptet hat, dass es durch die Kritik als Weltanschauung erst gefunden sei: «den Menschen», ihn sich völlig unbefangen und voraussetzungslos anzusehen, ist die Aufgabe, die sich Max Stirner (1806-1856) in seinem 1845 erschienenen Buche «Der Einzige und sein Eigentum» gestellt hat.

Stirner findet: «Mit der Kraft der Verzweiflung greift Feuerbach nach dem gesamten Inhalt des Christentums, nicht, um ihn wegzuwerfen, nein, um ihn an sich zu reißen, um ihn, den langersehnten, immer ferngebliebenen, mit einer letzten Anstrengung aus seinem Himmel zu ziehen und auf ewig bei sich zu behalten. Ist dies nicht ein Griff der letzten Verzweiflung, ein Griff auf Leben und Tod, und ist es nicht zugleich die christliche Sehnsucht und Begierde nach dem Jenseits? Der Heros will nicht in das Jenseits eingehen, sondern das Jenseits an sich heranziehen und zwingen, dass es zum Diesseits werde! Und schreit seitdem nicht alle Welt, mit mehr oder weniger Bewusstsein, aufs ,Diesseits' komme es an, und der Himmel müsse auf die Erde kommen und hier schon erlebt werden?»

Stirner stellt der Ansicht Feuerbachs einen heftigen Widerspruch gegenüber: «Das höchste Wesen ist allerdings das Wesen' des Menschen, aber eben weil es sein Wesen und nicht er selbst ist, so bleibt es sich ganz gleich, ob wir es außer ihm sehen und als ,Gott' anschauen, oder in ihm finden und ,Wesen des Menschen' oder ,der Mensch' nennen. Ich bin weder Gott noch der Mensch, weder das höchste Wesen noch mein Wesen, und darum ist's in der Hauptsache einerlei, ob ich das Wesen in mir oder außer mir denke. Ja, wir denken auch wirklich immer das höchste Wesen in beiderlei Jenseitigkeit, in der innerlichen und äußerlichen, zugleich, denn der ,Geist Gottes' ist nach christlicher Anschauung auch ,Unser Geist' und ,wohnet in uns'. Er wohnt im Himmel und wohnt in uns; wir armen Dinger sind eben nur seine ,Wohnung', und wenn Feuerbach noch die himmlische Wohnung desselben zerstört und ihn nötigt, mit Sack und Pack zu uns zu ziehen, so werden wir, sein irdisches Logis, sehr überfüllt werden.»

Solange das einzelne menschliche Ich noch irgendeine Kraft setzt, von der es sich abhängig fühlt, sieht es sich selbst nicht von seinem eigenen Gesichtspunkte, sondern von demjenigen dieser fremden Macht aus. Es besitzt sich nicht selbst, es wird von dieser Macht besessen. Der Religiöse sagt: Es gibt ein göttliches Urwesen, und dessen Abbild ist der Mensch. Er ist von dem göttlichen Urbilde besessen. Der Hegelianer sagt: Es gibt eine allgemeine Weltvernunft, und diese verwirklicht sich in der Welt, um im menschlichen Ich zu ihrem Gipfel zu gelangen. Das Ich ist also von der Weltvernunft besessen.

Feuerbach sagt, es gibt ein Wesen des Menschen, und jeder einzelne ist ein individuelles Abbild dieses Wesens. Jeder einzelne ist also von dem «Wesen der Menschheit» besessen. Denn wirklich vorhanden ist nur der einzelne Mensch, nicht der «Gattungsbegriff der Menschheit», den Feuerbach an die Stelle des göttlichen Wesens setzt. Wenn also der einzelne Mensch die «Gattung Mensch» über sich setzt, so gibt er sich genau so an eine Illusion verloren, wie wenn er sich von einem persönlichen Gotte abhängig fühlt.

Für Feuerbach werden daher die Gebote, die der Christ als von Gott eingesetzt glaubt und deshalb für verbindlich hält, zu Geboten, die bestehen, weil sie der allgemeinen Idee der Menschheit entsprechen. Der Mensch beurteilt sich sittlich so, dass er sich fragt: Entsprechen meine Handlungen als einzelner dem, was dem Wesen des Allgemein-menschlichen angemessen ist?

Denn Feuerbach sagt: «Ist das Wesen des Menschen das höchste Wesen des Menschen, so muss auch praktisch das höchste und erste Gesetz die Liebe des Menschen zum Menschen sein. Homo homini deus est. Die Ethik ist an und für sich eine göttliche moralischen Verhältnisse, sind durch sich wahrhaft religiöse Verhältnisse. Das Leben ist überhaupt in seinen wesentlichen substantiellen Verhältnissen durchaus göttlicher Natur. Alles Richtige, Wahre, Gute hat überall seinen Heiligungsgrund in sich selbst, in seinen Eigenschaften. Heilig ist und sei die Freundschaft, heilig das Eigentum, heilig die Ehe, heilig das Wohl jedes Menschen, aber heilig an und für sich selbst.»

Es gibt also allgemeinmenschliche Mächte; die Ethik ist eine solche. Sie ist heilig an und für sich selbst; ihr hat sich das Individuum zu fügen. Dieses Individuum soll nicht wollen, was es von sich aus will, sondern was im Sinne der heiligen Ethik liegt. Es ist von der Ethik besessen.

Stirner charakterisiert diese Ansicht: «Für den Gott des einzelnen ist nun der Gott aller, nämlich ,der Mensch' erhöht worden: ,es ist ja unser aller Höchstes, Mensch zu sein'. Da aber niemand ganz das werden kann, was die Idee ,Mensch' besagt, so bleibt der Mensch dem Einzelnen ein erhabenes Jenseits, ein unerreichtes höchstes Wesen, ein Gott.»

Ein solch höchstes Wesen ist aber auch das Denken, das die Kritik als Weltanschauung zum Gott gemacht hat. Stirner kann daher auch vor ihm nicht haltmachen. «Der Kritiker fürchtet sich, ,dogmatisch' zu werden oder Dogmen aufzustellen. Natürlich, er würde dadurch ja zum Gegensatz des Kritikers, zum Dogmatiker, er würde, wie er als Kritiker gut ist, nun böse. ... ,Nur kein Dogma!' das ist sein Dogma. Denn es bleibt der Kritiker mit dem Dogmatiker auf ein und demselben Boden, dem der Gedanken. Gleich dem letzteren geht er stets von einem Gedanken aus, aber darin weicht er ab, dass er's nicht aufgibt, den prinzipiellen Gedanken im Denkprozesse zu erhalten, ihn also nicht stabil werden lässt. Er macht nur den Denkprozess gegen die Denkgläubigkeit, den Fortschritt im Denken gegen den Stillstand in demselben geltend. Vor der Kritik ist kein Gedanke sicher, da sie das Denken oder der denkende Geist selber ist ... Ich bin kein Gegner der Kritik, das heißt, ich bin kein Dogmatiker, und fühle mich von dem Zahne des Kritikers, womit er den Dogmatiker zerfleischt, nicht getroffen. Wäre ich ein ,Dogmatiker', so stellte ich ein Dogma, das heißt, einen Gedanken, eine Idee, ein Prinzip obenan, und vollendete dies als ,Systematiker', indem ich's zu einem System, das heißt, zu einem Gedankenbau ausspönne. Wäre ich umgekehrt ein Kritiker, nämlich ein Gegner des Dogmatikers, so führte ich den Kampf des freien Denkens gegen den knechtenden Gedanken, verteidigte das Denken gegen das Gedachte. Ich bin aber weder der Champion eines Gedankens, noch der des Denkens ...»

Auch jeder Gedanke ist von dem individuellen Ich eines einzelnen erzeugt, und wäre er auch der Gedanke der eigenen Wesenheit. Und wenn der Mensch sein eigenes Ich zu erkennen glaubt, es irgendwie seiner Wesenheit nach beschreiben will, so macht er es schon von dieser Wesenheit abhängig. Ich mag ersinnen, was ich will: sobald ich mich begrifflich bestimme, definiere, mache ich mich zu einem Sklaven dessen, was mir der Begriff, die Definition liefert.

Hegel machte das Ich zur Erscheinung der Vernunft, das heißt, er machte es von dieser abhängig. Aber alle solche Abhängigkeiten können dem Ich gegenüber nicht gelten; denn sie sind ja alle aus ihm selbst entnommen. Sie beruhen also darauf, dass das Ich sich täuscht. Es ist in Wahrheit nicht abhängig. Denn alles, wovon es abhängig sein soll, muss es erst selbst erzeugen. Es muss etwas aus sich nehmen, um es als «Spuk» über sich zu setzen.

«Mensch, es spukt in deinem Kopfe; du hast einen Sparren zuviel! Du bildest dir große Dinge ein und malst dir eine ganze Götterwelt aus, die für dich da sei, ein Geisterreich, zu welchem du berufen seist, ein Ideal, das dir winkt. Du hast eine fixe Idee!» In Wahrheit kann kein Denken an das heranrücken, was als Ich in mir lebt. Ich kann mit meinem Denken an alles kommen, nur vor meinem Ich muss ich haltmachen. Das kann ich nicht denken, das kann ich nur erleben. Ich bin nicht Wille; ich bin nicht Idee, ebensowenig, wie ich Ebenbild einer Gottheit bin.

Alle anderen Dinge mache ich mir durch mein Denken begreiflich. Das Ich lebe ich. Ich brauche mich nicht weiter zu definieren, zu beschreiben; denn ich erlebe mich in jedem Augenblicke. Zu beschreiben brauche ich mir nur, was ich nicht unmittelbar erlebe, was außer mir ist. Es ist widersinnig, dass ich mich selbst, da ich mich immer als Ding habe, auch noch als Gedanken, als Idee erfassen will. Wenn ich einen Stein vor mir habe, so suche ich mir durch mein Denken zu erklären, was dieser Stein ist. Was ich selbst bin, brauche ich mir nicht erst zu erklären; denn ich lebe es ja.

Stirner antwortet auf einen Angriff gegen sein Buch: «Der Einzige ist ein Wort, und bei einem Worte müsste man sich doch etwas denken können, ein Wort müsste doch einen Gedankeninhalt haben. Aber der Einzige ist ein gedankenloses Wort, es hat keinen Gedankeninhalt. Was ist dann aber sein Inhalt, wenn der Gedanke es nicht ist? Einer, der nicht zum zweiten Male da sein, folglich auch nicht kann; denn könnte er ausgedrückt, wirklich und ganz ausgedrückt werden, so wäre er zum zweiten Male da, wäre im ,Ausdruck' da. Weil der Inhalt des Einzigen kein Gedankeninhalt ist, darum ist er auch undenkbar und unsagbar, weil aber unsagbar, darum ist er, diese vollständige Phrase, zugleich keine Phrase. Erst dann, wenn nichts von dir ausgesagt und du nur genannt wirst, wirst du anerkannt als du. Solange etwas von dir ausgesagt wird, wirst du nur als dieses Etwas (Mensch, Geist, Christ und so fort) anerkannt. Der Einzige sagt aber nichts aus, weil er nur Name ist, nur dies sagt, dass du du, und nichts anderes als du bist, dass du ein einziges ,Du' und du selber bist.

Hierdurch bist du prädikatlos, damit aber zugleich bestimmungslos, beruflos, gesetzlos und so weiter.» (Vergleiche Stirners Kleine Schriften, herausgegeben von J. H. Mackay, S. 116).

Stirner hat bereits 1842 in einem Aufsatz der «Rheinischen Zeitung» über das «unwahre Prinzip unserer Erziehung oder der Humanismus und Realismus» (vergleiche Kleine Schriften S. 5 ff.) sich darüber ausgesprochen, dass für ihn das Denken, das Wissen nicht bis zu dem Kern der Persönlichkeit vordringen kann.

Er betrachtet es daher als ein unwahres Erziehungsprinzip, wenn nicht dieser Kern der Persönlichkeit zum Mittelpunkt gemacht wird, sondern in einseitiger Weise das Wissen.

«Ein Wissen, welches sich nicht so läutert und konzentriert, dass es zum Wollen fortreißt, oder mit anderen Worten, welches mich nur als ein Haben und Besitz beschwert, statt ganz und gar mit mir zusammen gegangen zu sein, so dass das frei bewegliche Ich, von keiner nachschleppenden Habe beirrt, frischen Sinnes die Welt durchzieht, ein Wissen also, das nicht persönlich geworden, gibt eine erbärmliche Vorbereitung fürs Leben ab ... Ist es der Drang unserer Zeit, nachdem die Denkfreiheit errungen, diese bis zur Vollendung zu verfolgen, durch welche sie in die Willensfreiheit umschlägt, um die letztere als das Prinzip einer neuen Epoche zu verwirklichen, so kann auch das letzte Ziel der Erziehung nicht mehr das Wissen sein, sondern das aus dem Wissen geborene Wollen, und der sprechende Ausdruck dessen, was sie zu erstreben hat, ist: der persönliche oder freie Mensch. ... Wie in gewissen anderen Sphären, so lässt man auch in der pädagogischen die Freiheit nicht zum Durchbruch, die Kraft der Opposition nicht zu Worte kommen: man will Unterwürfigkeit. Nur ein formelles und materielles Abrichten wird bezweckt, und nur Gelehrte gehen aus den Menagerien der Humanisten, nur ,brauchbare Bürger' aus denen der Realisten hervor, die doch beide nichts als unterwürfige Menschen sind ... Das Wissen muss sterben, um als Wille wieder aufzuerstehen und als freie Person sich täglich neu zu schaffen.»

In der Person des einzelnen kann nur der Quell dessen liegen, was er tut. Die sittlichen Pflichten können nicht Gebote sein, die dem Menschen von irgendwoher gegeben werden, sondern Ziele, die er sich selbst vorsetzt. Es ist eine Täuschung, wenn der Mensch glaubt, er tue etwas deshalb, weil er ein Gebot einer allgemeinen heiligen Ethik befolgt. Er tut es, weil das Leben seines Ich ihn dazu antreibt. Ich liebe meinen Nächsten nicht deshalb, weil ich ein heiliges Gebot der Nächstenliebe befolge, sondern weil mich mein Ich zum Nächsten hinzieht. Ich soll ihn nicht lieben; ich will ihn lieben. Was die Menschen gewollt haben, das haben sie als Gebote über sich gesetzt.

In diesem Punkte ist Stirner am leichtesten mitzuverstehen. Er leugnet nicht das moralische Handeln. Er leugnet bloß das moralische Gebot. Wie der Mensch handelt, wenn er sich nur richtig versteht, das wird von selbst eine moralische Weltordnung ergeben. Moralische Vorschriften sind für Stirner ein Spuk, eine fixe Idee. Sie setzen etwas fest, wozu der Mensch von selbst kommt, wenn er sich seiner Natur ganz überlässt.

Die abstrakten Denker wenden da natürlich ein: Gibt es nicht Verbrecher? Dürfen diese danach handeln, was ihnen ihre Natur vorzeichnet? Diese abstrakten Denker sehen das allgemeine Chaos voraus, wenn den Menschen nicht Moralvorschriften heilig sind. Ihnen könnte Stirner antworten: Gibt es in der Natur nicht auch Krankheiten? Sind diese nicht ebenso nach ewigen, ehernen Gesetzen hervorgebracht wie alles Gesunde? Aber kann man deshalb nicht doch das Kranke von dem Gesunden unterscheiden?

So wenig es je einem vernünftigen Menschen einfallen wird, das Kranke zum Gesunden zu rechnen, weil es ebenso wie jenes durch Naturgesetze hervorgebracht ist, so wenig möchte Stirner das Unmoralische zum Moralischen zählen, weil es ebenso wie dieses entsteht, wenn der einzelne sich selbst überlassen ist.

Was aber Stirner von den abstrakten Denkern unterscheidet, das ist seine Überzeugung, dass im Menschenleben, wenn die einzelnen sich selbst überlassen sind, das Moralische ebenso das Herrschende sein werde, wie in der Natur es das Gesunde ist. Er glaubt an den sittlichen Adel der Menschennatur, an die freie Entwicklung der Moralität aus den Individuen heraus; die abstrakten Denker scheinen ihm nicht an diesen Adel zu glauben; deshalb meint er, sie erniedrigen die Natur des Individuums zur Sklavin allgemeiner Gebote, den Zuchtmitteln des menschlichen Handelns. Sie müssen viel Böses und Ruchloses auf dem Grunde ihrer Seele haben, diese «moralischen Menschen», meint Stirner, weil sie durchaus nach moralischen Vorschriften verlangen; sie müssten recht liebelos sein, weil sie sich die Liebe, die doch als freier Trieb in ihnen entstehen sollte, durch ein Gebot anbefehlen lassen wollen.

Wenn vor zwanzig Jahren in einer ernsten Schrift noch tadelnd gesagt werden konnte: «Max Stirners Schrift ,Der Einzige und sein Eigentum' zertrümmerte Geist und Menschheit, Recht und Staat, Wahrheit und Tugend als Götzenbilder der Gedankenknechtschaft und bekennt frei: ,Mir geht nichts über mich'!» (Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte, 5. Teil, 5. 424), so ist das nur ein Beweis dafür, wie leicht durch die radikale Ausdrucksweise Stirner missverstanden werden kann, dem das menschliche Individuum als etwas so Hehres, Erhabenes, Einziges und Freies vor Augen stand, dass nicht einmal der Hochflug der Gedankenwelt imstande sein soll, es zu erreichen.

In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts war Max Stirner so gut wie vergessen. Den Bemühungen John Henry Mackays ist es zu danken, dass wir heute von ihm ein Lebens- und Charakterbild haben. Er hat in seinem Buche «Max Stirner, sein Leben und sein Werk» (Berlin 1898) alles verarbeitet, was jahrelanges Suchen als Stoff für die Charakteristik des nach seiner Auffassung «kühnsten und konsequentesten Denkers» geliefert hat.

Stirner steht wie andere Denker der neueren Zeit der Tatsache des zu erfassenden selbstbewussten Ich gegenüber. Andere suchen die Mittel, dieses Ich zu begreifen. Dies Begreifen stößt auf Schwierigkeiten, weil zwischen Naturbild und Bild des Geisteslebens eine weite Kluft sich gebildet hat.

Stirner lässt das alles unberücksichtigt. Er stellt sich vor die Tatsache des selbstbewussten Ich hin und gebraucht alles, was er zum Ausdrucke bringen kann, allein dazu, auf diese Tatsache hinzuweisen. Er will so von dem Ich sprechen, dass ein jeder auf dieses Ich selbst hinsieht, und niemand sich dieses Hinsehen dadurch erspare, dass gesagt wird: das Ich ist dieses oder jenes. Nicht auf eine Idee, einen Gedanken des Ich will Stirner Weisen, sondern auf das lebende Ich selbst, das die Persönlichkeit in sich findet.

Stirners Vorstellungsart, als der entgegengesetzte Pol derjenigen Goethes, Schillers, Fichtes, Schellings, Hegels, ist eine Erscheinung, die mit einer gewissen Notwendigkeit in der neueren Weltanschauungsentwicklung auftreten musste. Grell trat vor seinen Geist die Tatsache des selbstbewussten Ich hin. Ihm kam jede Gedankenschöpfung so vor wie einem Denker, der die Welt nur in Gedanken erfassen will, die mythische Bilderwelt vorkommen kann. Vor dieser Tatsache verschwand ihm aller übrige Weltinhalt, insofern dieser einen Zusammenhang mit dem selbstbewussten Ich zeigt. Ganz isoliert stellte er das selbstbewusste Ich hin.

Dass es Schwierigkeiten geben könne, das Ich so hinzustellen, empfindet Stirner nicht. Die folgenden Jahrzehnte konnten keine Beziehung zu dieser isolierten Stellung des Ich gewinnen. Denn diese Jahrzehnte sind vor allem damit beschäftigt, das Bild der Natur unter dem Einflusse der naturwissenschaftlichen Denkweise zu gewinnen. Nachdem Stirner die eine Seite des neueren Bewusstseins hingestellt hat, die Tatsache des selbstbewussten Ich, lenkt das Zeitalter zunächst die Blicke ab von diesem Ich und wendet sie dahin, wo dies «Ich» nicht zu finden ist, auf das Bild der Natur.

Die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hat ihre Weltanschauungen aus dem Idealismus geboren. Wenn eine Brücke zur Naturwissenschaft gezogen wird, wie bei Schelling, Lorenz Oken (1779-1851), Henrik Steffens (1773 bis 1845), so geschieht es vom Gesichtspunkte der idealistischen Weltanschauung aus und im Interesse derselben. Die Zeit ist so wenig reif, naturwissenschaftliche Gedanken für die Weltanschauung fruchtbar zu machen, dass Jean Lamarcks geniale Anschauung von der Entwicklung der vollkommensten Organismen aus den einfachen, die 1809 ans Licht trat, völlig unberücksichtigt geblieben ist, und dass, als Geoffroy de St. Hilaire den Gedanken einer allgemeinen natürlichen Verwandtschaft aller Organismenformen 1830 im Kampf gegen Cuvier vertrat, Goethes Genius dazu gehörte, die Tragweite dieser Idee einzusehen.

Die zahlreichen naturwissenschaftlichen Ergebnisse, die auch die erste Jahrhunderthälfte gebracht hat, wurden für die Weltanschauungsentwicklung erst zu neuen Weltenrätseln, namentlich, nachdem Charles Darwin für die Erkenntnis der Lebewelt im Jahre 1859 der Naturauffassung selbst neue Aussichten eröffnet hatte.

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