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Vorrede zur Neuauflage 1924

Als ich 1914 mein Buch «Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert» beim Erscheinen der zweiten Auflage zu dem hier vorliegenden erweiterte, wollte ich zeigen, was von den geschichtlich aufgetretenen Weltanschauungen sich für den heutigen Beobachter so darstellt, dass dessen eigenes Empfinden beim Auftauchen der philosophischen Rätsel im Bewusstsein sich vertiefen kann an dem Empfinden, das die in der Zeitenfolge auftauchenden Denker über diese Rätsel gehabt haben. Eine solche Vertiefung hat für den philosophisch Ringenden etwas Befriedigendes. Was seine eigene Seele erstrebt, gewinnt an Kraft dadurch, dass er sieht, wie sich in Menschen, denen das Leben Gesichtspunkte angewiesen hat, die dem seinigen nahe oder fern liegen, dieses Streben gestaltet hat. In solcher Art wollte ich mit dem Buche denen dienen, die eine Darstellung des Werdens der Philosophie brauchen als Ergänzung der eigenen Gedankenwege.

Nach einer solchen Ergänzung wird derjenige verlangen, der sich auf dem eigenen Gedankenwege eins fühlen möchte mit der Geistesarbeit der Menschheit. Der sehen möchte, dass seine Gedankenarbeit ihre Wurzel in einem ganz allgemeinen menschlichen Seelenbedürfnis hat. Er kann das sehen, wenn das Wesentliche der geschichtlichen Weltanschauungen vor seinem Blicke aufsteigt.

Doch hat für viele Betrachter ein solches Aufsteigen etwas Beklemmendes. Es drängt ihnen Zweifel in die Seele. Sie sehen, wie die aufeinander folgenden Denker im Widerspruche mit vorangehenden oder nachfolgenden stehen. Ich wollte so darstellen, dass dieses Beklemmende durch ein anderes ausgelöscht wird. Man betrachtet zwei Denker. Für den ersten Blick fällt der Widerspruch, in dem sie stehen, peinlich auf. Man tritt ihren Gedanken näher. Man findet, dass der eine die Aufmerksamkeit auf ein ganz anderes Gebiet der Welt lenkt als der andere. Angenommen, der eine habe in sich die Seelenstimmung ausgebildet, die die Aufmerksamkeit auf die Art lenkt, wie Gedanken im inneren Weben der Seele sich entfalten. Für ihn wird es zum Rätsel, dass dieses innere Seelengeschehen im Erkennen entscheidend über das Wesen der Außenwelt werden soll. Dieser Ausgangspunkt gibt seinem ganzen Denken die Färbung. Er wird in kraftvoller Art von dem schöpferischen Gedankenwesen sprechen.

Das wird alles, was er sagt, in idealistischer Art färben. Ein anderer lenkt den Blick auf das äußere sinnenfällige Geschehen. Die Gedanken, durch die er dieses Geschehen erkennend erfasst, treten gar nicht in ihrer selbständigen Kraft in sein Bewusstsein. Er wird den Weltenrätseln eine Wendung geben, die sie in den Bereich führt, in dem die Weltgrundlage selbst ein an die Sinneswelt erinnerndes Aussehen hat.

Man kann, wenn man mit Voraussetzungen an das geschichtliche Werden der Weltanschauungen herangeht, die sich aus einer solchen Gedankenorientierung ergeben, über das Vernichtende, das diese Weltanschauungen füreinander zeigen, sich erheben und ein sich gegenseitig Tragendes in ihnen erblicken.

Hegel und Haeckel, nebeneinander betrachtet, stellen zunächst den vollkommensten Widerspruch dar. Vertieft man sich in Hegel, so kann man mit ihm den Weg gehen, der einem ganz in Gedanken lebenden Menschen vorgezeichnet ist. Er fühlt den Gedanken wie etwas, das ihm das eigene Wesen zu einem wirklichen macht. Sieht er sich der Natur gegenüber, so frägt er sich, welches Verhältnis hat sie zur Gedankenwelt? Man wird mitgehen können, wenn man das relativ Berechtigte und Fruchtbare einer solchen Seelenstimmung empfindet. Vertieft man sich in Haeckel, so kann man wieder ein Stück des Weges mit ihm gehen. Er kann nur sehen, wie das Sinnenfällige ist und sich wandelt. In diesem Sein und Sich-Wandeln fühlt er, was ihm Wirklichkeit sein kann. Er ist nur befriedigt, wenn er den ganzen Menschen bis herauf zur Denktätigkeit in dieses Sein und Sich-Wandeln einreihen kann. Mag nun Haeckel in Hegel einen Menschen sehen, der luftig-wesenlose Begriffe ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit spinnt; möchte Hegel, wenn er Haeckel erlebt hätte, in ihm eine Persönlichkeit gesehen haben, die gegenüber dem wahren Sein mit Blindheit geschlagen ist: wer sich in bei der Denkungsart vertiefen kann, wird bei Hegel die Möglichkeit finden, die Kraft des eigentätigen Denkens zu stärken, bei Haeckel die andere, zwischen entfernten Bildungen der Natur Beziehungen gewahrzuwerden, die bedeutungsvolle Fragen an das menschliche Denken stellen. So nebeneinander gestellt können Hegel und Haeckel, nicht aneinander gemessen, nicht in beklemmende Zweifel führen, sondern erkennen lassen, aus wie verschiedenen Ecken her das Leben sprießt und sprosst.

Aus solchen Untergründen heraus ist die Haltung meiner Darstellung geworden. Ich wollte die Widersprüche in der Entwicklungsgeschichte der Weltanschauungen nicht verdunkeln; aber ich wollte auch in dem Widersprechenden das Geltende aufzeigen.

Dass ich Hegel und Haeckel in diesem Buche so behandle, dass bei beiden das hervortritt, was positiv und nicht negativ wirkt, kann mir nach meiner Ansicht nur derjenige als eine Verirrung vorwerfen, der die Fruchtbarkeit einer solchen Behandlung des Positiven nicht einzusehen vermag.

Nun nur noch einige Worte über etwas, das sich zwar nicht auf das in dem Buche Dargestellte bezieht, das aber doch mit ihm zusammenhängt. Es ist dies Buch eine derjenigen meiner Arbeiten, die von Persönlichkeiten, welche in dem Fortgang meiner eigenen Weltanschauungsentwicklung Widersprüche finden wollen, als Beispiel angeführt wird. Obwohl ich weiß, dass diesen Vorwürfen zumeist etwas ganz anderes zugrunde liegt als das Suchen nach Wahrheit, so will ich doch weniges über sie sagen. Es wird behauptet, es sehe das Kapitel über Haeckel in diesem Buche so aus, als ob es ein orthodoxer Haeckelianer geschrieben hätte. Nun, wer das in demselben Buche über Hegel Gesagte liest, wird es zwar schwer haben, seine Behauptung aufrechtzuhalten. Aber es sieht, obenhin betrachtet, so aus, als ob ein Mensch, der so über Haeckel geschrieben hat wie ich in diesem Buche, später eine völlige Geisteswandlung durchgemacht haben müsste, wenn er dann Bücher veröffentlicht wie «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten», «Geheimwissenschaft» usw.

Diese Sache wird aber nur richtig angesehen, wenn man bedenkt, dass die scheinbar den früheren widersprechenden späteren Werke aus einer geistigen Anschauung der geistigen Welt hervorgegangen sind. Wer eine solche Anschauung haben oder sich bewahren will, der muss die Fähigkeit entwickeln, sich in alles Betrachtete ganz objektiv, mit Unterdrückung der eigenen Sympathien und Antipathien, versetzen zu können. Er muss wirklich, wenn er die Haeckelsche Denkungsart darstellt, in dieser aufgehen können. Gerade aus diesem Aufgehen in anderes schöpft er die Fähigkeit der geistigen Anschauung. Die Art meiner Darstellung der einzelnen Weltanschauungen hat ihre Ursachen in meiner Orientierung nach einer geistigen Anschauung hin. Wer über den Geist nur theoretisieren will, der braucht nie in die materialistische Denkungsart sich versetzt zu haben. Er kann sich damit begnügen, alle berechtigten Gründe gegen den Materialismus vorzubringen und seine Darstellung dieser Denkungsart so zu halten, dass diese ihre unberechtigten Seiten enthüllt. Wer geistige Anschauung betätigen will, kann das nicht. Er muss mit dem Idealisten idealistisch, mit dem Materialisten materialistisch denken können.

Denn nur dadurch wird in ihm die Seelenfähigkeit rege, die sich in der geistigen Anschauung betätigen kann.

Nun könnte man noch sagen: durch eine solche Behandlungsart verliere der Inhalt eines Buches seine Einheitlichkeit. Es ist dies nicht meine Ansicht. Man stellt historisch um so treuer dar, je mehr man die Erscheinungen selbst sprechen lässt. Den Materialismus bekämpfen oder zum Zerrbild machen, kann nicht die Aufgabe einer geschichtlichen Darstellung sein. Denn er hat seine eingeschränkte Berechtigung. Man ist nicht auf falscher Fährte, wenn man die materiell bedingten Vorgänge der Welt materialistisch darstellt; man gelangt erst dahin, wenn man nicht zur Einsicht gelangt, dass die Verfolgung der materiellen Zusammenhänge zuletzt zur Anschauung des Geistes führt. Behaupten, das Gehirn sei nicht Bedingung des auf Sinnenfälliges sich beziehen den Denkens, ist eine Verirrung; eine weitere Verirrung ist, dass der Geist nicht der Schöpfer des Gehirns sei, durch das er in der physischen Welt sich in Gedankenbildung offenbart.

Goetheanum in Dornach bei Basel November 1923
Rudolf Steiner


Vorrede zur Neuauflage 1918

Die Gedanken, aus denen die Darstellung dieses Buches entsprungen und von denen sie getragen ist, habe ich in der hier folgenden «Vorrede» angedeutet. Ich möchte dem damals Gesagten einiges hinzufügen, das mit einer Frage zusammenhängt, die bei demjenigen mehr oder weniger bewusst in der Seele lebt, der zu einem Buche über «Die Rätsel der Philosophie» greift. Es ist diejenige der Beziehung philosophischer Betrachtung zu dem unmittelbaren Leben. Jeder philosophische Gedanke, der nicht von diesem Leben selbst gefordert wird, ist zur Unfruchtbarkeit verurteilt, auch wenn er diesen oder jenen Menschen, der eine Neigung zum Nachsinnen hat, eine Weile anzieht. Ein fruchtbarer Gedanke muss seine Wurzel in den Entwicklungsvorgängen haben, die von der Menschheit im Verlaufe ihres geschichtlichen Werdens durchzumachen sind. Und wer die Geschichte der philosophischen Gedankenentwicklung von irgendeinem Gesichtspunkte aus darstellen will, der kann sich nur an solche vom Leben geforderte Gedanken halten. Es müssen das Gedanken sein, die übergeführt in die Lebenshaltung den Menschen so durchdringen, dass er an ihnen Kräfte hat, die seine Erkenntnis leiten, und die ihm bei den Aufgaben seines Daseins Berater und Helfer sein können. Weil die Menschheit solche Gedanken braucht, sind philosophische Weltanschauungen entstanden. Könnte man das Leben meistern ohne solche Gedanken, so hätte nie ein Mensch eine wahrhaft innere Berechtigung gehabt, an die «Rätsel der Philosophie» zu denken. Ein Zeitalter, das solchem Denken abgeneigt ist, zeigt dadurch nur, dass es kein Bedürfnis empfindet, das Menschenleben so zu gestalten, dass dieses wirklich nach allen Seiten seinen Aufgaben gemäß zur Erscheinung kommt. Aber diese Abneigung rächt sich im Laufe der menschlichen Entwicklung. Das Leben bleibt verkümmert in solchen Zeitaltern. Und die Menschen bemerken die Verkümmerung nicht, weil sie von den Forderungen nichts wissen wollen, die in den Tiefen des Menschenwesens doch vorhanden bleiben und die sie nur nicht erfüllen. Ein folgendes Zeitalter bringt die Nichterfüllung zum Vorschein. Die Enkel finden in der Gestaltung des verkümmerten Lebens etwas vor, das ihnen die Unterlassung der Großväter angerichtet hat. Diese Unterlassung der vorhergehenden Zeit ist zum unvollkommenen Leben der Folgezeit geworden, in das sich diese Enkel hineingestellt finden. Im Lebensganzen muss Philosophie walten; man kann gegen die Forderung sündigen; aber. die Sünde muss ihre Wirkungen hervorbringen.

Den Gang der philosophischen Gedankenentwicklung, das Vorhandensein der «Rätsel der Philosophie» versteht man nur, wenn man die Aufgabe empfindet, welche die philosophische Weltbetrachtung für ein ganzes, volles Menschendasein hat. Und aus einer solchen Empfindung heraus habe ich über die Entwicklung der «Rätsel der Philosophie» geschrieben. Ich habe durch die Darstellung dieser Entwicklung versucht, anschaulich zu machen, dass diese Empfindung eine innerlich berechtigte ist.

Von vornherein wird sich bei manchem gegen diese Empfindung etwas hemmend aufdrängen, das den Schein einer Tatsache an sich trägt. Die philosophische Betrachtung soll eine Lebensnotwendigkeit sein: und doch gibt das menschliche Denken im Laufe seiner Entwicklung nicht eindeutige, sondern vieldeutige, scheinbar sich ganz widersprechende Lösungen der «Rätsel der Philosophie». Geschichtliche Betrachtungen, welche die sich aufdrängenden Widersprüche durch eine äußerliche Entwicklungsvorstellung begreiflich machen möchten, gibt es viele. Sie überzeugen nicht. Man muss die Entwicklung selbst viel ernster nehmen, als dies gewöhnlich der Fall ist, wenn man sich auf diesem Felde zurechtfinden will. Man muss zu der Einsicht kommen, dass es keinen Gedanken geben kann, der allumfassend die Weltenrätsel ein für allemal zu lösen imstande ist. Im menschlichen Denken ist es vielmehr so, dass eine gefundene Idee bald wieder zu einem neuen Rätsel wird. Und je bedeutungsvoller die Idee ist, je mehr sie Licht wirft für ein bestimmtes Zeitalter, desto rätselhafter, desto fragwürdiger wird sie in einem folgenden Zeitalter. Wer die Geschichte der menschlichen Gedankenentwicklung von einem wahrhaften Gesichtspunkte aus betrachten will, der muss die Größe der Idee eines Zeitalters bewundern können und imstande sein, die gleiche Begeisterung dafür aufzubringen, diese Idee in ihrer Unvollkommenheit in einem folgenden Zeitalter sich offenbaren zu sehen. Er muss auch imstande sein, von der Vorstellungsart, zu der er sich selbst bekennt, zu denken, dass sie in der Zukunft durch eine ganz andere abgelöst werden wird. Und dieser Gedanke darf ihn nicht beirren, die «Richtigkeit» der von ihm errungenen Anschauung voll anzuerkennen. Die Gesinnung, welche vorangegangene Gedanken als unvollkommene durch die in der Gegenwart zutage tretenden «vollkommenen» abgetan wähnt, taugt nicht zum Verstehen der philosophischen Entwicklung der Menschheit. Ich habe versucht, durch das Erfassen des Sinnes, den es hat, dass ein folgendes Zeitalter philosophisch das vorangehende widerlegt, den Gang der menschlichen Gedankenentwicklung zu begreifen. Welche Ideen ein solches Erfassen zeitigt, habe ich in den einleitenden Ausführungen «Zur Orientierung über die Leitlinien der Darstellung» ausgesprochen. Diese Ideen sind solche, die naturgemäß auf mannigfaltigen Widerstand stoßen müssen. Sie werden bei einer ersten Betrachtung so erscheinen, als ob ich sie als «Einfall» erlebt hätte und durch sie die ganze Darstellung der Philosophiegeschichte in phantastischer Art vergewaltigen wollte. Ich kann nur hoffen, dass man doch finden werde, diese Ideen seien nicht vorher ausgedacht und dann der Betrachtung des philosophischen Werdegangs aufgedrängt, sondern sie seien so gewonnen, wie der Naturforscher seine Gesetze findet. Sie sind aus der Beobachtung der philosophischen Gedankenentwicklung herausgeflossen. Und man hat nicht das Recht, die Ergebnisse einer Beobachtung zurückzuweisen, weil sie Vorstellungen widersprechen, die man aus irgendwelchen Gedankenneigungen ohne Beobachtung für richtig hält. Der Aberglaube denn als solcher zeigen sich solche Vorstellungen -, dass es im geschichtlichen Werden der Menschheit Kräfte nicht geben könne, die sich in zu begrenzenden Zeitaltern auf eine eigentümliche Art offenbaren und die in sinn- und gesetzgemäßer Weise das Werden der menschlichen Gedanken lebensvoll beherrschen, er wird meiner Darstellung entgegenstehen. Denn diese war mir aufgezwungen, weil mir die Beobachtung dieses Werdens das Vorhandensein solcher Kräfte bewiesen hat. Und weil diese Beobachtung mir gezeigt hat, dass Philosophiegeschichte erst dann eine Wissenschaft wird, wenn sie vor der Anerkennung solcher Kräfte nicht zurückschreckt.

Mir scheint, dass nur möglich ist, in der Gegenwart eine Stellung zu den «Rätseln der Philosophie» zu gewinnen, die für das Leben fruchtbar ist, wenn man diese die vergangenen Zeitalter beherrschenden Kräfte kennt. Und mehr als bei einem anderen Zweige geschichtlicher Betrachtung ist es bei einer Geschichte der Gedanken das einzig Mögliche, die Gegenwart aus der Vergangenheit hervorwachsen zu lassen. Denn in dem Ergreifen derjenigen Ideen, die den Anforderungen der Gegenwart entsprechen, liegt die Grundlage für diejenige Einsicht, die über das Vergangene das rechte Licht ausbreitet. Wer nicht vermag, einen den Triebkräften seines eigenen Zeitalters wahrhaft angemessenen Weltanschauungsgesichtspunkt zu gewinnen, dem muss auch der Sinn des vergangenen Geisteslebens verborgen bleiben. Ich will hier nicht entscheiden, ob auf einem anderen Gebiete geschichtlicher Betrachtung eine Darstellung fruchtbar sein kann, der nicht wenigstens eine Ansicht über die Verhältnisse der Gegenwart auf dem entsprechenden Gebiete zugrunde liegt. Auf dem Felde der Gedankengeschichte kann aber eine solche Darstellung nur unfruchtbar sein. Denn hier muss das Betrachtete unbedingt mit dem unmittelbaren Leben zusammenhängen. Und dieses Leben, in dem der Gedanke Lebenspraxis wird, kann nur dasjenige der Gegenwart sein.

Damit möchte ich die Empfindungen gekennzeichnet haben, aus denen heraus diese Darstellung der «Rätsel der Philosophie» erwachsen ist. An dem Inhalte des Buches etwas zu ändern oder ihm etwas hinzuzufügen, dazu gibt der kurze Zeitraum seit dem Erscheinen der letzten Auflage keine Veranlassung.

Mai 1918
Rudolf Steiner


Vorrede 1914

Es war nicht meine Empfindung, ein «Gelegenheitsbuch» zum Anfange des Jahrhunderts zu schreiben, als ich an die Darstellung der «Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert» ging, die 1901 erschienen ist. Die Einladung, diesen Beitrag zu einem Sammelwerke zu liefern, bildete für mich nur den äußeren Anstoß, Ergebnisse über die philosophische Entwicklung seit Kants Zeitalter zusammenzufassen, die ich seit lange für mich gewonnen hatte und deren Veröffentlichung ich anstrebte.

Als eine Neuauflage des Buches notwendig geworden war, und ich mir seinen Inhalt wieder vor die Seele treten ließ, drängte sich mir die Erkenntnis auf, dass durch eine wesentliche Erweiterung der damals gegebenen Darstellung erst völlig anschaulich werden kann, was durch sie hatte angestrebt werden sollen.

Ich beschränkte mich damals auf die Charakteristik der letzten hundertdreißig Jahre philosophischer Entwicklung. Eine solche Beschränkung ist gerechtfertigt, weil diese Entwicklung wirklich ein in sich geschlossenes Ganzes darstellt und gezeichnet werden könnte, auch wenn man nicht ein «Jahrhundert-Buch» schreibt. In meiner Seele aber lebten die philosophischen Anschauungen dieses letzten Zeitalters so, dass mir überall wie Untertöne bei Darstellung der philosophischen Fragen die Lösungsversuche der Weltansichtsentwicklung seit deren Beginn mitklangen. Diese Empfindung stellte sich in einem erhöhten Maße ein, als ich an die Bearbeitung einer neuen Auflage herantrat. Und damit ist der Grund angedeutet, warum nicht eigentlich eine neue Auflage des alten, sondern ein neues Buch entstanden ist. Zwar ist der Inhalt des alten Buches im wesentlichen wörtlich beibehalten worden; doch ist ihm vorangestellt worden eine kurze Darstellung der philosophischen Entwicklung seit dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert, und im zweiten Bande wird die Charakteristik der Philosophien bis zur Gegenwart fortgeführt werden. Außerdem werden die kurzen Bemerkungen am Schlusse des zweiten Bandes, die früher mit dem Worte «Ausblick» überschrieben waren, zu einer ausführlichen Darstellung der Aussichten der philosophischen Erkenntnis in der Gegenwart umgestaltet. Man wird gegen die Komposition des Buches manches einwenden können, weil der Umfang der früheren Ausführungen nicht verkürzt worden, dagegen die Charakteristik der Philosophien vom sechsten vorchristlichen bis zum neunzehnten nachchristlichen Jahrhundert nur im kürzesten Umriss dargestellt worden ist. Da jedoch mein Ziel nicht nur das ist, einen kurzen Abriss der Geschichte der philosophischen Fragen zu geben, sondern über diese Fragen und ihre Lösungsversuche selbst durch ihre geschichtliche Betrachtung zu sprechen, so hielt ich es für richtig, die größere Ausführlichkeit für das letzte Zeitalter beizubehalten. So wie diese Fragen von den Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts angesehen und dargestellt worden sind, liegt den gewohnten Denkrichtungen und den philosophischen Bedürfnissen der Gegenwart noch nahe. Was vorangegangen ist, bedeutet dem gegenwärtigen Seelenleben nur insofern ein gleiches, als es Licht verbreitet über die letzte Zeitspanne. Demselben Bestreben an der Geschichte der Philosophien die Philosophie selbe zu entwickeln, entsprangen die «Ausblicke» am Ende des zweiten Bandes.

Man wird in diesem Buche manches vermissen, was man vielleicht in einer «Geschichte der Philosophie» suchen könnte, zum Beispiel die Ansichten Hobbes und vieler anderer. Mir kam es aber nicht an auf eine Anführung aller philosophischen Meinungen, sondern auf die Darstellung des Entwicklungsganges der philosophischen Fragen. Bei einer solchen Darstellung ist es unangebracht, eine geschichtlich auftretende philosophische Meinung zu verzeichnen, wenn das Wesentliche dieser Meinung in einem anderen Zusammenhange charakterisiert wird.

Wer auch in diesem Buche einen neuen Beweis wird erkennen wollen, dass ich meine eigenen Anschauungen im Laufe der Jahre «geändert» habe, den werde ich wohl von einer solchen «Meinung» auch nicht durch den Hinweis abbringen können, dass die Darstellung der philosophischen Ansichten, welche ich in der ersten Auflage der «Welt- und Lebensanschauungen» gegeben habe, zwar im einzelnen viel erweitert und ergänzt, dass aber der Inhalt des alten Buches in das neue im wesentlichen wörtlich unverändert übergegangen ist. Die geringfügigen Änderungen, die an einzelnen Stellen vorkommen, schienen mir notwendig, nicht weil ich das Bedürfnis hatte, das eine oder das andere nach fünfzehn Jahren anders darzustellen als früher, sondern weil ich fand, dass eine geänderte Ausdrucksweise durch den größeren Zusammenhang gefordert wird, in dem dieser oder jener Gedanke in dem neuen Buche erscheint, während im alten Buche von einem solchen Zusammenhange nicht die Rede war. Es wird aber sicherlich immer Menschen geben, die in den aufeinanderfolgenden Schriften einer Persönlichkeit gerne Widersprüche konstruieren möchten, weil sie die gewiss nicht unzulässige Erweiterung des Erkenntnisstrebens einer solchen Persönlichkeit nicht richtig ins Auge fassen können oder wollen. Dass man bei solcher Erweiterung in späteren Jahren manches anders als in früheren sagt, bedeutet sicher keinen Widerspruch, wenn man die Übereinstimmung des einen mit dem anderen nicht im Sinne des Abschreibens des Späteren vom Früheren, sondern im Sinne der lebendigen Entwicklung einer Persönlichkeit meint. Um bei Menschen, die dies außer acht lassen können, nicht der Änderung seiner Ansichten geziehen zu werden, müsste man eigentlich, wenn Gedanken in Betracht kommen, immer das gleiche wiederholen.

April 1914
Rudolf Steiner

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