suche | spenden | impressum | datenschutz

Ausblicke

Auf die Entwicklungskeime, die sich in den Weltanschauungen einer Reihe von Denkern von Fichte bis Hamerling ankündigen, sollte in dieser Schrift hingedeutet werden. Die Betrachtung dieser Keime ruft die Empfindung hervor, dass diese Denker aus einem Quell des geistigen Erlebens schöpfen, aus dem noch vieles fließen kann, was sie noch nicht herausgeholt haben. Weniger scheint es darauf anzukommen, Zustimmung oder Ablehnung zu hegen zu dem, was sie ausgesprochen haben; als vielmehr darauf, die Art ihres Erkenntnisstrebens, die Richtung ihres Weges zu verstehen. Man kann dann die Ansicht gewinnen, dass in dieser Art, in dieser Richtung etwas liegt, das mehr ein Versprechen denn eine Erfüllung ist. Doch ein Versprechen, das durch die ihm innewohnende Kraft die Bürgschaft seiner Erfüllung in sich trägt.

Daraus gewinnt man ein Verhältnis zu diesen Denkern, das nicht das eines Bekenntnisses zu den Dogmen ihrer Weltanschauung ist; sondern ein solches, das zur Einsicht führt, dass auf Wegen, auf denen sie wandelten, lebendige Kräfte des Suchens nach Erkenntnissen liegen, die in dem von ihnen Anerkannten sich nicht ausgewirkt haben, sondern über dieses hinausführen können.

Das braucht nun nicht die Meinung herbeizuführen: man müsse zurück zu Fichte, zurück zu Hegel und so weiter gehen in der Hoffnung, dass, wenn man von ihren Ausgangspunkten aus richtigere Wege einschlägt als sie, man dadurch zu besseren Ergebnissen komme.

Nein, nicht darauf kann es ankommen, sich so von diesen Denkern «anregen» zu lassen, sondern darauf, den Zugang zu gewinnen zu den Quellen, aus denen sie schöpften, und zu erkennen, was in diesen Quellen selbst an anregenden Kräften trotz der Arbeit dieser Denker noch verborgen ist.

Ein Blick auf den Geist der neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungsart kann fühlen lassen, inwiefern der in den charakterisierten Denkern lebende Weltanschauungs-Idealismus ein «Versprechen» ist, das auf Erfüllung weist.

Diese naturwissenschaftliche Vorstellungsart hat durch ihre Ergebnisse in einer gewissen Richtung die Tragkraft der von ihr angewandten Erkenntnismittel erwiesen. Man kann diese Vorstellungsart ihrem Wesen nach schon vorgezeichnet finden bei einem Denker, der im Anfange ihrer Entwicklung gewirkt hat, bei Galilei. (In schönster Art hat die Bedeutung Galileis Laurenz Müllner, der österreichische Philosoph und katholische Priester, besprochen in seiner Rektoratsrede von 1894 an der Wiener Universität.)

Was bei Galilei schon angedeutet ist, findet sich ausgebildet in den Forschungsrichtungen der neueren naturwissenschaftlichen Denkweise. Sie hat ihre Bedeutung dadurch erlangt, dass sie die Welterscheinungen, welche auf dem Felde der Sinnesbeobachtung auftreten, in ihren gesetzmäßigen Zusammenhängen rein für sich sprechen lässt, und in das, was sie für die Erkenntnis zulässt, nichts von dem hineinfließen lassen will, was die menschliche Seele an diesen Erscheinungen erlebt. Welche Ansicht man auch haben mag über das naturwissenschaftliche Weltbild, das heute in Erfüllung dieser Erkenntnisforderung schon möglich, oder erreicht ist: das kann nicht beeinträchtigen, dass man die Tragkraft dieser Forderung für ein berechtigtes Bild des Naturdaseins anerkennt. Wenn der Bekenner einer idealistischen oder geisteswissenschaftlichen Weltanschauung gegenwärtig dieser Forderung ablehnend gegenübersteht, so offenbart er damit entweder, dass er den Sinn derselben nicht versteht, oder dass mit seiner dem Geiste Rechnung tragenden Ansicht selbst etwas nicht in Ordnung ist.

Wahrer geistgemäßer Weltanschauung gegenüber aber geben sich die Bekenner der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart zumeist dem Missverständnisse hin, dass durch solche Weltanschauung irgend etwas von dem in Frage gestellt werde, was Ergebnis der Naturwissenschaft ist.

Es zeigt sich für denjenigen, der in den wahren Sinn der neueren Naturwissenschaft eindringt, dass diese nicht die Erkenntnis der geistigen Welt untergräbt, sondern diese Erkenntnis stützt und sichert.

Man wird zu dieser Ansicht nicht dadurch kommen können, dass man aus allerlei theoretischen Erwägungen heraus sich zum Gegner einer Erkenntnis der Geisteswelt heranphantasiert, sondern vielmehr dadurch, dass man seinen Blick richtet auf das, was das naturwissenschaftliche Weltbild einleuchtend und bedeutsam macht. Die naturwissenschaftliche Vorstellungsart schließt aus allem, was sie betrachtet, dasjenige aus, was an dem Betrachteten durch das Innenwesen der Menschenseele erlebt wird. Wie die Dinge und Vorgänge untereinander zusammenhängen, das erforscht sie. Was die Seele durch ihr Innenwesen an den Dingen erleben kann, dient nur dazu, zu offenbaren, wie die Dinge sind, abgesehen von den Innenerlebnissen. Dadurch kommt das Bild des rein natürlichen Geschehens zustande. Es wird sogar dieses Bild um so besser seine Aufgabe erfüllen, je mehr die Ausschließung des Innenlebens gelingt.

Man muss nun aber auf die charakteristischen Züge dieses Bildes sehen. Was in dieser Art als Naturbild vorgestellt wird, kann gerade dann, wenn es das Ideal naturwissenschaftlicher Erkenntnis erfüllt, nicht etwas in sich tragen, was jemals von einem Menschen – oder sonst einem seelischen Wesen – wahrgenommen werden könnte. Die naturwissenschaftliche Vorstellungsart muss ein Weltbild liefern, das den Zusammenhang der Naturtatsachen erklärt, dessen Inhalt aber unwahrnehmbar bleiben müsste.

Wäre die Welt so, wie sie die reine Naturwissenschaft vorstellen muss, so könnte diese Welt nie innerhalb eines Bewusstseins als Vorstellungsinhalt auftauchen. Hamerling meint:

«Gewisse Luftschwingungen erzeugen in unserem Ohr den Klang. Der Klang existiert also nicht ohne ein Ohr. Der Flintenschuss würde also nicht knallen, wenn ihn niemand hörte.»

Hamerling hat unrecht, weil er die Bedingungen des naturwissenschaftlichen Weltbildes nicht durchschaut. Durchschaute er sie, so würde er sagen: die Naturwissenschaft muss, wenn ein Klang auftritt, etwas vorstellen, was auch dann nicht klingen würde, wenn ein Ohr bereit wäre, es klingen zu hören. Und die Naturwissenschaft tut recht damit.

Der Naturforscher Du Bois-Reymond drückt sich darüber (1872) in seinem Vortrage: «Über die Grenzen des Naturerkennens» ganz treffend aus:

«Stumm und finster an sich, d.h. eigenschaftslos» ist die Welt für die durch die naturwissenschaftliche Betrachtung gewonnene Anschauung, welche «statt Schall und Licht nur Schwingungen eines eigenschaftslosen, dort zur wägbaren, hier zur unwägbaren Materie gewordenen Urstoffes kennt», aber er schließt daran die Worte: «Das mosaische: Es werde Licht, ist physiologisch falsch. Licht ward erst, als der erste rote Augenpunkt eines Infusoriums zum erstenmal Hell und Dunkel unterschied. Ohne Seh- und ohne Gehörsubstanz wäre diese farbenglühende, tönende Welt um uns her finster und stumm.»

Nein, diesen zweiten Satz kann eben derjenige nicht sagen, welcher die ganze Tragweite des ersten kennt. Denn die Welt, deren Bild die Naturwissenschaft mit Recht entwirft, bliebe «stumm und finster», auch wenn sich ihr eine Seh- oder Gehörsubstanz gegenüberstellte. Man täuscht sich darüber nur deshalb, weil die wirkliche Welt, aus der heraus man das Bild der «stummen und finsteren» gewonnen hat, nicht stumm und finster bleibt, wenn man in ihr wahrnimmt. Aber ich soll von diesem Bilde ebenso wenig erwarten, dass es der wirklichen Welt entspricht, wie ich von dem Bilde meines Freundes, das ein Maler gemalt hat, erwarten kann, dass mir der Freund daraus entgegentritt.

Man sehe sich nur die Sache von allen Seiten unbefangen an; man wird schon finden: wäre die Welt so, wie die Naturwissenschaft sie zeichnet: von dieser Welt würde niemals ein Wesen etwas erfahren. Die Welt der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart ist allerdings in der Wirklichkeit gewissermaßen dort, woher der Mensch seine Sinneswelt wahrnimmt; allein sie wird ohne alles das vorgestellt, wodurch sie für irgend ein Wesen wahrnehmbar sein könnte. Was diese Vorstellungsart als dem Licht, dem Ton, der Wärme zum Grunde legen muss, das leuchtet nicht, tönt nicht, wärmt nicht. Man weiß nur aus dem Erleben, dass man die Vorstellungen dieser Denkart von dem Leuchtenden, Tönenden, Wärmenden genommen hat; deshalb lebt man in dem Glauben, dass auch das Vorgestellte ein Leuchtendes, Tönendes, Wärmendes sei. Am schwersten ist die Täuschung für den Tastsinn zu durchschauen. Da scheint zu genügen, dass das Stoffliche eben als Stoffliches ausgedehnt sei, um durch den Widerstand die Tastwahrnehmung zu erregen. Allein auch ein Stofflich-Ausgedehntes kann nur stoßen; nicht aber kann der Stoß empfunden werden. Der Schein trügt hier am meisten. Man hat es aber doch nur mit einem Schein zu tun.

Auch das den Tastempfindungen zugrunde liegende ist nicht tastbar. Es sei noch ausdrücklich hervorgehoben, dass hier nicht bloß gesagt wird: die hinter der Sinnesempfindung liegende Welt sei eben anders, als was aus ihr die Sinne machen; es wird vielmehr betont, diese Welt müsse von der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart so gedacht werden, dass die Sinne aus ihr nichts machen könnten, wenn sie in Wirklichkeit das wäre, als was sie gedacht wird. Aus der Beobachtung heraus holt die Naturwissenschaft ein Weltbild, das durch seine eigene Wesenheit gar nicht beobachtet werden kann. (1)

Was hier vorliegt, ist in einem weltgeschichtlichen Augenblicke der Geistesentwicklung zutage getreten: damals, als Goethe aus der in seiner ganzen Natur gelegenen Weltanschauung des deutschen Idealismus heraus die Farbenlehre Newtons ablehnte. (Der Verfasser dieser Schrift sucht seit fast drei Jahrzehnten in verschiedenen Schriften auf diesen entscheidenden Punkt in der Beurteilung von Goethes Farbenlehre hinzuweisen. Allein es gilt auch gegenwärtig noch, was er in einem 1893 im Frankfurter «Freien deutschen Hochstifte» gehaltenen Vortrage sagte:

«Die Zeit wird kommen, in der auch für diese Frage die wissenschaftlichen Voraussetzungen zu einer Verständigung der Forscher vorhanden sein werden. Gegenwärtig bewegen sich gerade die physikalischen Untersuchungen in einer Richtung, die zu Goetheschem Denken nicht führen kann.»

Goethe verstand, dass Newtons Farbenlehre nur ein Bild einer Welt liefern könne, die nicht leuchtet und nicht in Farben erstrahlt. Da er auf die Bedingungen eines rein naturwissenschaftlichen Weltbildes sich nicht einließ, so ist seine tatsächliche Gegnerschaft gegen Newton an manchen Stellen schief geraten. Die Hauptsache aber ist, dass er ein rechtes Gefühl von dem hatte, was zugrunde liegt. Wenn der Mensch durch das Licht Farben beobachtet, so steht er einer anderen Welt gegenüber als die ist, welche Newton allein zu beschreiben vermag. Und Goethe beobachtete die wirkliche Welt der Farben. Betritt man aber ein solches Gebiet, sei es das der Farben oder anderer Naturerscheinungen, so bedarf man anderer Ideen als diejenigen sind, die in die «finstere und stumme Welt» des Bildes der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart gezeichnet sind. Mit diesem Bilde ist keine Wirklichkeit gezeichnet, die wahrgenommen werden kann». Die wirkliche Natur enthält eben einfach schon in sich, was in dieses Bild nicht aufgenommen werden kann». Die «finstere Welt» des Physikers könnte von keinem Auge wahrgenommen werden; das Licht ist schon geistig. Im Sinnlichen waltet das Geistige. (2)

Dieses Geistige mit den Mitteln der Naturforschung ergreifen zu wollen, hieße in demselben Irrtum leben, wie wenn man als Maler von sich verlangen wollte, einen Menschen zu malen, der in der Welt umhergeht. Goethe bewegte sich auch als Physiker auf dem Boden des Geistigen: Die Weltanschauung, für die er das Wort «geistgemäß» angewendet hat, machte es ihm unmöglich, in Newtons Farbenlehre etwas von Ideen über wirkliches Licht und wirkliche Farben zu finden. Aber man findet nicht mit der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart den Geist in der Sinneswelt. Dass die Weltanschauung des deutschen Idealismus dafür eine richtige Empfindung hatte, ist eines ihrer wesentlichen Kennzeichen. Möge das, was die eine oder die andere Persönlichkeit aus dieser Empfindung heraus gesprochen hat, auch erst ein Keim sein für eine vollständige Pflanze: der Keim ist vorhanden und hat in sich die Kraft seiner Entfaltung.

Doch muss zu der Einsicht, dass in der Sinneswelt Geist ist, der nicht durch die naturwissenschaftliche Vorstellungsart zu ergreifen ist, noch eine andere hinzukommen. Diejenige nämlich, dass die neuere Naturwissenschaft die Abhängigkeit des gewöhnlichen, in der Sinneswelt verlaufenden menschlichen Seelenlebens von den Werkzeugen des Leibes entweder schon gezeigt hat, oder auf dem Wege ist, sie zu zeigen.

Man betritt da ein Gebiet, auf dem man, wie mit ganz selbstverständlichen Einwänden, scheinbar vernichtend widerlegt werden kann, wenn man sich zu dem Dasein einer selbständigen geistigen Welt bekennt. Denn was könnte einleuchtender sein, als dass das Seelenleben des Menschen sich von Kindheit auf so entfaltet, wie sich die physischen Organe heranbilden, dass es verfällt in dem Maße, in dem die Organe altern. Was ist einleuchtender, als dass die Lähmung gewisser Gehirnpartien auch den Wegfall gewisser geistiger Fähigkeiten bedingt. Was scheint also einleuchtender zu sein, als dass alles Seelisch-Geistige an die Materie gebunden sei und ohne dieselbe keinen Bestand haben kann, wenigstens keinen solchen, von dem der Mensch wissen könne.

Man braucht nicht einmal die glänzenden Ergebnisse der neueren Naturwissenschaft zu Rate zu ziehen; das Selbstverständliche dieser Behauptung hat schon in genügend richtiger Art De la Mettrie 1746 in «Der Mensch, eine Maschine» (L'homme machine) ausgesprochen. Dieser französische Denker sagt:

«Wenn es einem Schwachsinnigen, wie man gewöhnlich beobachten kann, nicht an Gehirn fehlt, so wird die schlechte Beschaffenheit dieses Eingeweides, z. B. seine zu große Weichheit, daran schuld sein. Dasselbe gilt von Narren; die Fehler ihres Gehirns bleiben unseren Nachforschungen nicht immer verborgen; wenn aber die Ursachen des Schwachsinns und der Narrheit und so weiter nicht immer erkennbar sind, wo soll man da die Ursachen der Verschiedenheit aller Geister suchen? Sie würden Luchs- und Argusaugen entgehen. Ein Nichts, eine kleine Faser, ein Ding, das auch die feinste Anatomie nicht entdecken kann, würde aus Erasmus und Fontenelle zwei Toren gemacht haben, eine Bemerkung, die letzterer selbst in einem seiner besten Dialoge macht» (nach der deutschen Übersetzung von Max Brahn).

Nun, der Bekenner einer geistgemäßen Weltanschauung würde wenig Einsicht verraten, wenn er das Schlagende, das Selbstverständliche einer solchen Behauptung nicht zugäbe. Er kann sogar diese Behauptung noch verschärfen und sagen: hätte die Welt jemals bekommen, was der Geist des Erasmus bewirkt hat, wenn seinen Leib irgend jemand erschlagen hätte, da Erasmus noch ein Knabe war?

Wenn eine geistgemäße Weltanschauung darauf angewiesen wäre, solch selbstverständliche Tatsachen nicht anzuerkennen, oder ihre Bedeutung auch nur abzuschwächen, so wäre es schlecht um sie bestellt. Aber es kann eine solche Weltanschauung in Gründen wurzeln, die ihr von keinem materialistischen Einwand entzogen werden können.

Zunächst ist das seelische Erleben des Menschen, wie es sich im Denken, Fühlen und Wollen offenbart, an die leiblichen Werkzeuge gebunden. Und es gestaltet sich so, wie es durch diese Werkzeuge bedingt ist. Wer aber meint, er sehe das wirkliche Seelenleben, wenn er die Äußerungen der Seele durch den Leib beobachtet, der ist in demselben Fehler befangen, wie einer, der glaubt, seine Gestalt werde von dem Spiegel hervorgebracht, vor dem er steht, weil der Spiegel die notwendigen Bedingungen enthalte, durch die sein Bild erscheint. Dieses Bild ist sogar in gewissen Grenzen als Bild von der Form des Spiegels und so weiter abhängig; was es aber darstellt, das hat mit dem Spiegel nichts zu tun. Das menschliche Seelenleben muss, um innerhalb der Sinneswelt sein Wesen voll zu erfüllen, ein Bild seines Wesens haben.

Dieses Bild muss es im Bewusstsein haben; sonst würde es zwar ein Dasein haben; aber von diesem Dasein keine Vorstellung, kein Wissen. Dieses Bild, das im gewöhnlichen Bewusstsein der Seele lebt, ist nun völlig bedingt durch die leiblichen Werkzeuge. Ohne diese würde es nicht da sein, wie das Spiegelbild nicht ohne den Spiegel. Was aber durch dieses Bild erscheint, das Seelische selbst, ist seinem Wesen nach von den Leibeswerkzeugen nicht abhängiger als der vor dem Spiegel stehende Beschauer von dem Spiegel.

Nicht die Seele ist von den Leibeswerkzeugen abhängig, sondern allein das gewöhnliche Bewusstsein der Seele. Die materialistische Ansicht von der menschlichen Seele verfällt einer Täuschung, die dadurch bewirkt wird, dass das gewöhnliche Bewusstsein, das nur durch die Leibeswerkzeuge da ist, mit der Seele selbst verwechselt wird. Das Wesen der Seele fließt so wenig in dieses gewöhnliche Bewusstsein hinein, wie mein Wesen in ein Spiegelbild hineinfließt. Dieses Wesen der Seele kann also auch nicht in dem gewöhnlichen Bewusstsein gefunden werden; es muss außerhalb dieses Bewusstseins erlebt werden. Und es kann erlebt werden, denn der Mensch kann noch ein anderes Bewusstsein in sich entwickeln als dasjenige, das durch die Leibeswerkzeuge bedingt ist.

Der aus der Weltanschauung des deutschen Idealismus hervorgegangene Denker Eduard von Hartmann hat nun klar erkannt, dass das gewöhnliche Bewusstsein ein Ergebnis der Leibeswerkzeuge ist und dass die Seele selbst in diesem Bewusstsein nicht enthalten ist. Er hat aber nicht erkannt, dass die Seele ein anderes von den Leibeswerkzeugen unabhängiges Bewusstsein entwickeln kann, durch das sie sich selbst erlebt. Daher meinte er, dieses Seelenwesen läge in einem Unbewussten, über das man sich nur Vorstellungen machen könne, wenn man von dem gewöhnlichen Bewusstsein aus Schlüsse auf ein eigentlich unbekannt bleibendes «Ding an sich» der Seele ziehe.

Aber damit ist Hartmann, wie mancher seiner Vorgänger, auch vor der Schwelle stehen geblieben, die überschritten werden muss, wenn eine Erkenntnis der geistigen Welt mit einer sicheren Grundlage erreicht werden soll. Man kommt eben nicht über diese Schwelle, wenn man davor zurückschreckt, den Seelenkräften eine ganz andere Richtung zu geben, als sie unter dem Einfluss des gewöhnlichen Bewusstseins haben. Die Seele erlebt ihr eigenes Wesen innerhalb dieses Bewusstseins nur in den Bildern, die ihr von den Leibeswerkzeugen erzeugt werden. Könnte sie nur so erleben, so wäre sie in einer Lage, die sich vergleichen ließe mit der eines Wesens, das vor einem Spiegel steht und nur sein Bild sehen, von sich selbst aber nichts erleben kann. In dem Augenblicke aber, in dem dieses Wesen sich selber lebendig-offenbar würde, träte es in ein ganz anderes Verhältnis zum Spiegelbilde als sein voriges war.

Wer sich nicht entschließen kann, in seinem Seelenleben etwas anderes zu entdecken, als ihm durch das gewöhnliche Bewusstsein geboten wird, der wird entweder in Abrede stellen, dass das Wesen der Seele erkennbar ist, oder er wird geradezu erklären, dieses Wesen sei vom Leibe erzeugt.

Man steht hier vor einer anderen Schranke, welche die naturwissenschaftliche Vorstellungsart aus ihren durchaus berechtigten Forderungen heraus aufrichten muss. Die erste ergab sich dadurch, dass diese Forderungen das Bild einer Welt zeichnen müssen, die niemals durch eine Wahrnehmung in ein Bewusstsein eintreten könnte. Die zweite entsteht, weil das naturwissenschaftliche Denken mit Recht von den Erlebnissen des gewöhnlichen Bewusstseins behaupten muss, dass sie durch die Leibeswerkzeuge zustande kommen, also in Wirklichkeit nichts von einer Seele enthalten. Es ist durchaus begreiflich, dass sich das neuere Denken zwischen diese zwei Schranken gestellt fühlt, und aus wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit heraus an der Möglichkeit zweifelt, zu einer Erkenntnis der wirklichen geistigen Welt zu kommen, die weder durch das Bild einer «stummen und finsteren» Natur, noch durch die vom Leibe abhängigen Erscheinungen des gewöhnlichen Bewusstseins erreicht werden kann. Und wer nur aus einem dunklen Gefühle heraus, oder aus verschwommenem Mystizismus für sich von dem Dasein einer geistigen Welt glaubt überzeugt sein zu können, der sollte eher die schwierige Lage des neueren Denkers kennenlernen, als über die «rohen, plumpen» Vorstellungen der Naturwissenschaft wettern.

Über dasjenige, was die naturwissenschaftliche Vorstellungsart geben kann, kommt man nur hinaus, wenn man im inneren Seelenleben die Erfahrung macht, dass es ein Erwachen aus dem gewöhnlichen Bewusstsein gibt; ein Erwachen zu einer Art und Richtung des seelischen Erlebens, die sich zu der Welt des gewöhnlichen Bewusstseins verhalten, wie dieses zu der Bilderwelt des Traumes. Goethe spricht in seiner Art von dem Erwachen aus dem gewöhnlichen Bewusstsein und nennt die Seelenfähigkeit, die dadurch erlangt wird, «anschauende Urteilskraft».

Diese anschauende Urteilskraft verleiht der Seele, nach Goethes Ansicht, die Fähigkeit, das zu schauen, was sich als die höhere Wirklichkeit der Dinge dem Erkennen des gewöhnlichen Bewusstseins verbirgt. Goethe hatte sich mit dem Bekenntnis zu einer solchen Fähigkeit des Menschen in Gegensatz gestellt zu Kant, der dem Menschen eine «anschauende Urteilskraft» abgesprochen hat. Goethe aber wusste aus der Erfahrung des eigenen Seelenlebens heraus, dass ein Erwachen des gewöhnlichen Bewusstseins zu einem solchen mit anschauender Urteilskraft möglich ist. Kant hatte geglaubt, ein solches Erwachen als «Abenteuer der Vernunft» bezeichnen zu sollen. Goethe erwidert darauf ironisch:

«Hatte ich doch erst unbewusst und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge nennt, mutig zu bestehen.» (Der «Alte vom Königsberge» ist Kant. Vergleiche über Goethes Ansicht darüber meine Ausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften. Band I in Kürschners Deutscher National-Literatur.)

Es wird in dem Folgenden das erwachte Bewusstsein als schauendes Bewusstsein bezeichnet werden. Ein solches Erwachen kann nur eintreten, wenn man zur Welt der Gedanken und des Willens ein anderes Verhältnis ausbildet als im gewöhnlichen Bewusstsein erlebt wird. Es ist durchaus begreiflich, dass der Bedeutung eines solchen Erwachens gegenwärtig Misstrauen entgegengebracht wird. Denn was die naturwissenschaftliche Vorstellungsart groß gemacht hat, ist, dass sie sich den Ansprüchen eines dunklen Mystizismus widersetzt hat. Und während Berechtigung als geisteswissenschaftliche Forschungsart nur ein solches Erwachen im Bewusstsein haben kann, das in Ideengebiete von mathematischer Klarheit und Geschlossenheit führt, verwechseln Menschen, die auf leichte Art zu Überzeugungen über die höchsten Fragen des Weltdaseins kommen wollen, dieses Erwachen mit ihren mystischen Verworrenheiten, für die sie sich auf wahre Geistesforschung berufen. Aus der Furcht heraus, dass alles Hinweisen auf ein «Erwachen der Seele» zu solch mystischer Verworrenheit führen könne und durch den Anblick, den die Erkenntnisse solch «mystisch Erleuchteter» oft bieten, halten sich die mit den Forderungen der neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungsart Vertrauten von aller Forschung fern, die durch Inanspruchnahme eines «erwachten Bewusstseins» in die geistige Welt eintreten will. (3)

Nun aber ist ein solches Erwachen durchaus möglich dadurch, dass man in innerem (seelischen) Erleben eine gewisse, von der gewöhnlichen abweichende Betätigung der Kräfte des Seelenwesens (Gedanken- und Willenserlebnisse) entwickelt. Der Hinweis darauf, dass mit der Idee von dem erwachten Bewusstsein in der Richtung weitergegangen wird, in der Goethes Weltanschauung sich bewegt, kann zeigen, dass das hier Vorgebrachte nichts mit Vorstellungen eines verworrenen Mystizismus zu tun haben will. Man kann sich in innerer Erkraftung so aus dem Zustand des gewöhnlichen Bewusstseins herausheben, dass man dabei ein ähnliches Erlebnis hat, wie beim Übergange vom Träumen zum wachen Vorstellen.

Wer vom Träumen zum Wachen übergeht, der erfährt, wie der Wille eindringt in den Ablauf seiner Vorstellungen, während er im Träumen willenlos dem Ablauf der Bilder hingegeben ist. Was da durch unbewusste Vorgänge geschieht, kann auf einer anderen Stufe durch die bewusste Seelenverrichtung bewirkt werden.

Der Mensch kann in das gewöhnliche bewusste Denken eine stärkere Willensentfaltung einführen, als in diesem im gewöhnlichen Erleben der physischen Welt vorhanden ist. Er kann dadurch vom Denken zum Erleben des Denkens übergehen. Im gewöhnlichen Bewusstsein wird nicht das Denken erlebt, sondern durch das Denken dasjenige, was gedacht wird. Es gibt nun eine innere Seelenarbeit, welche es allmählich dazu bringt, nicht in dem, was gedacht wird, sondern in der Tätigkeit des Denkens selbst zu leben. Ein Gedanke, der nicht einfach hingenommen wird aus dem gewöhnlichen Verlauf des Lebens, sondern der mit Willen in das Bewusstsein gerückt wird, um ihn in seiner Wesenheit als Gedanke zu erleben, löst in der Seele andere Kräfte los, als ein solcher, der durch auftretende äußere Eindrücke oder durch den gewöhnlichen Verlauf des Seelenlebens hervorgerufen wird. Und wenn die Seele in sich die im gewöhnlichen Leben doch nur in geringem Maße geübte Hingabe an den Gedanken als solchen immer erneut bewirkt – sich auf den Gedanken als Gedanken konzentriert –: dann entdeckt sie in sich Kräfte, die im gewöhnlichen Leben nicht angewendet werden, sondern gleichsam schlummernd (latent) bleiben.

Es sind Kräfte, die nur im bewussten Anwenden entdeckt werden. Sie stimmen aber die Seele zu einem ohne ihre Entdeckung nicht vorhandenen Erleben. Die Gedanken erfüllen sich mit einem ihnen eigentümlichen Leben, das der Denkende (der Meditierende) verbunden fühlt mit seinem eigenen Seelenwesen. (Das hier gemeinte schauende Bewusstsein entsteht aus dem gewöhnlichen Wach-Bewusstsein nicht durch körperliche [physiologische] Vorgänge, wie das gewöhnliche Wachbewusstsein aus dem Traumbewusstsein. Beim Erwachen aus diesem in das Tagesbewusstsein hat man es mit einer sich verändernden Einstellung des Leibes im Verhältnis zur Wirklichkeit zu tun. Beim Erwachen aus dem gewöhnlichen Bewusstsein zum schauenden Bewusstsein mit einer sich verändernden Einstellung der geistig-seelischen Vorstellungsart im Verhältnis zu einer geistigen Welt.)

Es ist aber zu diesem Entdecken des Gedankenlebens die Aufwendung bewussten Willens notwendig. Das kann aber auch nicht ohne weiteres der Wille sein, der im gewöhnlichen Bewusstsein zutage tritt. Auch der Wille muss in anderer Art und in anderer Richtung gewissermaßen eingestellt werden, als er eingestellt ist für das Erleben in dem bloßen Sinnesdasein. Im gewöhnlichen Leben fühlt man sich selbst im Mittelpunkte dessen, was man will, oder was man wünscht.

Denn auch im Wünschen ist ein gleichsam angehaltener Wille wirksam. Der Wille strömt von dem Ich aus und taucht in das Begehren, in die Leibesbewegung, in die Handlung unter. Ein Wille in dieser Richtung ist unwirksam für das Erwachen der Seele aus dem gewöhnlichen Bewusstsein. Es gibt aber auch eine Willensrichtung, die in einem gewissen Sinne dieser entgegengesetzt ist. Es ist diejenige, welche wirksam ist, wenn man, ohne unmittelbaren Hinblick auf ein äußeres Ergebnis, das eigene Ich zu lenken sucht. In den Bemühungen, die man macht, um sein Denken zu einem sinngemäßen zu gestalten, sein Fühlen zu vervollkommnen, in allen Impulsen der Selbsterziehung äußert sich diese Willensrichtung.

In einer allmählichen Steigerung der in dieser Richtung vorhandenen Willenskräfte liegt, was man braucht, um aus dem gewöhnlichen Bewusstsein heraus zu erwachen. Eine besondere Hilfe leistet man sich in der Verfolgung dieses Zieles dadurch, dass man mit innigerem Gemütsanteil das Leben in der Natur betrachtet. Man sucht zum Beispiel eine Pflanze so anzuschauen, dass man nicht nur ihre Form in den Gedanken aufnimmt, sondern gewissermaßen mitfühlt das innere Leben, das sich in dem Stengel nach oben streckt, in den Blättern nach der Breite entfaltet, in der Blüte das Innere dem Äußeren öffnet und so weiter. In solchem Denken schwingt der Wille leise mit; und er ist da ein in Hingabe entwickelter Wille, der die Seele lenkt; der nicht aus ihr den Ursprung nimmt, sondern auf sie seine Wirkung richtet. Man wird naturgemäß zunächst glauben, dass er seinen Ursprung in der Seele habe. Im Erleben des Vorgangs selbst aber erkennt man, dass durch diese Umkehrung des Willens ein außerseelisches Geistiges von der Seele ergriffen wird.

Wenn ein Wille nach dieser Richtung erstarkt ist und das Gedankenleben in der angedeuteten Art ergreift, so wird in der Tat aus dem Umkreise des gewöhnlichen Bewusstseins ein anderes herausgehoben, das sich zu dem gewöhnlichen verhält wie dieses zu dem Weben in den Traumbildern. Und ein solches schauendes Bewusstsein ist in der Lage, die geistige Welt erlebend zu erkennen. (Der Verfasser dieser Schrift hat in einer Reihe von Schriften in ausführlicher Art dargestellt, was hier gewissermaßen wie eine Mitteilung in Kürze angedeutet ist. Es kann in solch kurzer Darstellung nicht auf Einwände, Bedenken und so weiter eingegangen werden; in den anderen Schriften ist dies geschehen; und man kann dort manches vorgebracht finden, was dem hier Dargestellten seine tiefere Begründung gibt. Die Titel meiner diesbezüglichen Schriften findet man am Schlusse dieser Schrift angegeben.)

Ein Wille, der nicht in der angegebenen Richtung liegt, sondern in derjenigen des alltäglichen Begehrens, Wünschens und so weiter, kann, wenn er auf das Gedankenleben in der beschriebenen Art angewendet wird, nicht zu dem Erwachen eines schauenden Bewusstseins aus dem gewöhnlichen, sondern nur zu einer Herabstimmung dieses gewöhnlichen führen, zu wachendem Träumen, Phantasterei, visionsgleichen Zuständen und ähnlichem.

Die Vorgänge, die zu dem hier gemeinten schauenden Bewusstsein führen, sind ganz geistig-seelischer Art; und ihre einfache Beschreibung müsste schon davor behüten, das durch sie Erreichte mit pathologischen Zuständen (Vision, Mediumismus, Ekstase und so weiter) zu verwechseln. Alle diese pathologischen Zustände drücken das Bewusstsein unter den Stand herab, den es im wachenden Menschen einnimmt, der seine gesunden physischen Seelenorgane voll brauchen kann. (4)

Es ist in dieser Schrift öfter darauf hingewiesen worden, wie die unter dem Einflusse der neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungsart entwickelte Seelenwissenschaft von den bedeutungsvollen Fragen des Seelenlebens ganz abgekommen ist. Eduard von Hartmann hat ein Buch «Die moderne Psychologie» geschrieben, in dem er eine Geschichte der Seelenwissenschaft in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gibt. Er sagt darin:

«Das Freiheitsproblem lassen die heutigen Psychologen entweder ganz beiseite oder sie beschäftigen sich doch nur soweit mit ihm, als nötig ist, um zu zeigen, dass auf streng deterministischem Boden dasjenige Maß von praktischer Freiheit zustande komme, welches für die juridische und sittliche Verantwortlichkeit ausreicht. Nur in der ersten Hälfte des zu besprechenden Zeitraumes halten noch einige theistische Philosophen, wie an der Unsterblichkeit einer selbstbewussten Seelensubstanz, so auch an einem Rest indeterministischer Freiheit fest, begnügen sich dann aber meistens damit, die wissenschaftliche Möglichkeit dieser Herzenswünsche begründen zu wollen.»

Nun kann vom Gesichtspunkte naturwissenschaftlicher Vorstellungsart wirklich weder von wahrer Freiheit der Menschenseele, noch über die Unsterblichkeitsfrage gesprochen werden. Bezüglich der letzteren darf noch einmal an die Worte des bedeutenden Seelenforschers Franz Brentano erinnert werden:

«Für die Hoffnungen eines Platon und Aristoteles über das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auflösung des Leibes Sicherheit zu gewinnen, würden dagegen die Gesetze der Assoziation von Vorstellungen, der Entwicklung von Überzeugungen und Meinungen und des Keimens von Lust und Liebe alles andere, nur nicht eine wahre Entschädigung sein. ... Und wenn wirklich» die neue naturwissenschaftliche Denkweise «den Ausschluss der Frage nach der Unsterblichkeit besagte, so wäre er für die Psychologie ein überaus bedeutender zu nennen».

Nun liegt für die naturwissenschaftliche Denkart nur das gewöhnliche Bewusstsein vor. Dieses ist aber in seinem ganzen Umfange abhängig von den Leibesorganen. Fallen diese mit dem Tode weg, so fällt auch die gewöhnliche Bewusstseinsart weg. Das aus diesem gewöhnlichen Bewusstsein heraus erwachte schauende Bewusstsein kann an die Unsterblichkeitsfrage herantreten.

So sonderbar dies auch für die bloß im Naturwissenschaftlichen bleiben wollende Vorstellungsart erscheint: dieses schauende Bewusstsein erlebt sich in einer geistigen Welt, in welcher die Seele ein Dasein außerhalb des Leibes hat. So wie das Aufwachen aus dem Traume das Bewusstsein gibt: Man ist nun nicht mehr dem Ablauf von Bildern willenlos hingegeben, sondern man steht durch seine Sinne mit einer wirklichen Außenwelt in Verbindung, so gibt das Erwachen in das schauende Bewusstsein hinein die unmittelbare Erfahrungsgewissheit: Man steht mit seinem Wesen in einer geistigen Welt; man erlebt erkennend sich selbst in dem, was vom Leibe unabhängig ist, und was wirklich der von Immanuel Hermann Fichte erschlossene Seelenorganismus ist, der einer geistigen Welt angehört und angehören muss nach der Zerstörung des Leibes.

Und da man in dem schauenden Bewusstsein ein anderes als das gewöhnliche, ein in der geistigen Welt wurzelndes Bewusstsein kennenlernt, so kann man auch nicht mehr der Meinung verfallen, mit der Zerstörung des Leibes müsse jedes Bewusstsein aufhören, weil doch die gewöhnliche Bewusstseinsart mit ihrem Leibeswerkzeuge dahinfallen muss.

In einer Geisteswissenschaft, die in dem schauenden Bewusstsein eine Erkenntnisquelle sieht, verwirklicht sich, was aus dem deutschen Weltanschauungs-Idealismus heraus der Schuldirektor von Bromberg (vergleiche S. 63 ff. dieser Schrift), Johann Heinrich Deinhardt, geahnt hat: dass es möglich ist, zu erkennen, wie die Seele «schon in diesem Leben» den «neuen Leib ... ausarbeite», den sie dann über die Schwelle des Todes in die geistige Welt trägt. (Wenn man von «Leib» in diesem Zusammenhange spricht, so ist dies gewiss eine materialistisch klingende Bezeichnung; denn gemeint ist natürlich gerade das leibfreie Geistig- Seelische; doch ist man in solchen Fällen genötigt, vom Sinnlichen hergenommene Namen für Geistiges zu gebrauchen, um scharf darauf hinzudeuten, dass man ein wirkliches Geistiges, nicht eine begriffliche Abstraktion meine.)

Bei der Frage nach der menschlichen Freiheit zeigt sich ein eigentümlicher Konflikt der Seelenerkenntnis. Das gewöhnliche Bewusstsein kennt den freien Entschluss als eine innerlich erlebte Tatsache. Und diesem Erlebnis gegenüber kann es sich eigentlich die Freiheit nicht hinweglehren lassen.

Und doch scheint es, als ob die naturwissenschaftliche Vorstellungsart dieses Erlebnis nicht anerkennen könnte. Sie sucht zu jeder Wirkung die Ursachen. Was ich in diesem Augenblicke tue, erscheint ihr abhängig von den Eindrücken, die ich jetzt habe, von meinen Erinnerungen, von den mir angeborenen oder anerzogenen Neigungen und so weiter. Es wirkt vieles zusammen; ich kann es nicht überschauen, daher erscheine ich mir frei.

Aber in Wahrheit bin ich durch die zusammenwirkenden Ursachen zu meinem Handeln bestimmt. Freiheit erschiene somit als eine Illusion. Man kommt aus diesem Konflikt nicht heraus, solange man nicht vom Standpunkte des schauenden Bewusstseins in dem gewöhnlichen Bewusstsein nur eine durch die Leibesorganisation bewirkte Spiegelung der wahren Seelenvorgänge erblickt, und in der Seele eine in der Geisteswelt wurzelnde, vom Leibe unabhängige Wesenheit.

Was bloß Bild ist, kann durch sich selbst nichts bewirken. Wenn durch ein Bild etwas bewirkt wird, so muss dies durch ein Wesen geschehen, das sich durch das Bild bestimmen lässt. In diesem Falle aber ist die menschliche Seele, wenn sie etwas tut, wozu ihr bloß Anlas ein im gewöhnlichen Bewusstsein vorhandener Gedanke ist. Mein Bild, das ich im Spiegel sehe, bewirkt nichts, was nicht ich aus Anlass des Bildes bewirke. Anders ist die Sache, wenn der Mensch nicht durch einen bewussten Gedanken sich bestimmt, sondern, wenn er durch einen Affekt, durch den Impuls einer Leidenschaft mehr oder weniger unbewusst getrieben wird, und die bewusste Vorstellung nur dem blinden Zusammenhang der Triebkräfte gleichsam zusieht.

Sind es so die bewussten Gedanken im gewöhnlichen Bewusstsein, welche den Menschen frei handeln lassen, so könnte doch dieser durch das gewöhnliche Bewusstsein von seiner Freiheit nichts wissen. Er würde nur auf das Bild schielen, das ihn bestimmt, und müsste diesem die Kraft der Ursächlichkeit zuschreiben. Er tut dies nicht, weil instinktiv im Erleben der Freiheit die wahre Wesenheit der Seele in das gewöhnliche Bewusstsein hereinleuchtet. (Der Verfasser dieser Schrift hat die Freiheitsfrage in seinem Buche «Philosophie der Freiheit» ausführlich aus der Beobachtung der menschlichen Seelenerlebnisse zu beleuchten gesucht.) Die Geisteswissenschaft sucht vom Gesichtspunkte des schauenden Bewusstseins in dasjenige Gebiet des wahren Seelenlebens hineinzuleuchten, aus dem heraus in das gewöhnliche Bewusstsein die instinktive Gewissheit von der Freiheit strahlt.

*

Die Bilderwelt des Traumes erlebt der Mensch dadurch, dass der Lebensstand, den er in der Sinneswelt inne hat, herabgestimmt ist. Der gesund denkende Mensch wird sich nicht vom Traumbewusstsein aufklären lassen über das wache Bewusstsein; sondern er wird das wache Bewusstsein zum Beurteiler der Traumbilderwelt machen.

In ähnlicher Art denkt über das Verhältnis des schauenden Bewusstseins zum gewöhnlichen Bewusstsein eine Geisteswissenschaft, die sich auf den Gesichtspunkt des ersteren stellt. Durch eine solche Geisteswissenschaft erkennt man, dass die Welt des Materiellen und ihrer Vorgänge in Wahrheit nur ein Glied in einer umfassenden geistigen Welt ist; einer geistigen Welt, die hinter der Sinneswelt so liegt, wie die Welt der sinnenfälligen materiellen Vorgänge und Stoffe hinter der Bilderwelt des Traumes. Und man erkennt, wie der Mensch zu seinem Sinnesdasein aus einer geistigen Welt herabsteigt; wie aber dieses Sinnesdasein selbst eine Offenbarung geistigen Wesens und geistiger Vorgänge ist.

Es ist begreiflich, dass viele Menschen aus ihren Denkgewohnheiten heraus eine solche Weltanschauung verpönen, weil sie ihnen wirklichkeitsfremd dünkt, und weil sie glauben, dass sie sie lebensuntüchtig mache. Für solche Menschen wirkt es abschreckend, wenn einer höheren Wirklichkeit gegenüber die gewöhnliche Wirklichkeit etwas Traumähnliches genannt wird. Aber verändert sich denn im Traumbewusstsein dadurch etwas, dass man seinen Wirklichkeitscharakter vom wachen Bewusstsein aus zu verstehen sucht?

Wer in Aberglauben zu seinen Traumbildern steht, der kann sich dadurch sein Urteil im wachen Bewusstsein trüben. Nie aber wird das wache Urteil den Traum verderben können. So kann auch eine Weltanschauung, die zur geistigen Welt keinen Zugang gewinnen will, das Urteil trüben über diese nicht aber kann echte Einsicht in die geistige Welt die wahre Bewertung der physischen stören. In keiner Art wird daher das schauende Bewusstsein störend in das Leben des gewöhnlichen Bewusstseins eingreifen können; es wird nur klärend für dasselbe wirken können.

Erst eine Weltansicht, die den Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins anerkennt, wird ein gleiches Verständnis entgegenbringen können sowohl der neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungsart wie auch den Erkenntniszielen des neueren Weltanschauungs-Idealismus, der in der Richtung wirkt, das Wesen der Welt als geistiges zu erkennen. (Eine weitere Ausführung über Erkenntnisse der geistigen Welt ist in dem Rahmen dieser Schrift nicht möglich. Der Verfasser muss dafür auf seine anderen Schriften verweisen. Hier sollte nur der Grundcharakter einer Weltanschauung, die den Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins anerkennt, soweit dargestellt werden, als nötig ist, um den Lebenswert des deutschen Weltanschauungs-Idealismus zu kennzeichnen.)

Die naturwissenschaftliche Vorstellungsart hat ihre Berechtigung gerade dadurch, dass der Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins seine Geltung hat. Der naturwissenschaftliche Forscher und Denker baut seine Erkenntnisarbeit auf der Voraussetzung der Möglichkeit dieses Gesichtspunktes auch dann auf, wenn er dies als theoretischer Betrachter seines Weltbildes nicht zugibt. Nur die Theoretiker, welche das Weltbild der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart für das einzig und allein in einer Weltanschauung berechtigte erklären, durchschauen diese Sachlage nicht. Es können natürlich auch Theoretiker und Naturforscher in einer Person vereinigt sein.

Für das schauende Bewusstsein erfahren nämlich die sinnlichen Wahrnehmungen ein Ähnliches wie die Traumbilder beim Erwachen. Die Kräftewirkungen, die im Traume die Bilderwelt zustande bringen, müssen beim Erwachen denjenigen Kräftewirkungen weichen, durch welche der Mensch sich Bilder, Vorstellungen macht, von denen er weiß, dass sie durch die ihn umgebende Wirklichkeit bedingt sind. Erwacht das schauende Bewusstsein, so hört der Mensch auf, seine Vorstellungen im Sinne dieser Wirklichkeit zu denken; er weiß jetzt, dass er vorstellt im Sinne einer ihn umgebenden Geistwelt. So wie das Traumbewusstsein seine Bilderwelt für Wirklichkeit hält und von der Umgebung des Wachbewusstseins nichts weiß, so hält das gewöhnliche Bewusstsein die materielle Welt für Wirklichkeit und weiß nichts von der geistigen Welt. Der Naturforscher aber sucht ein Bild derjenigen Welt, welche in den Vorstellungen des gewöhnlichen Bewusstseins sich offenbart.

Diese Welt kann in den Vorstellungen des gewöhnlichen Bewusstseins nicht enthalten sein. Sie darinnen zu suchen, wäre ein Ähnliches, als ob man erwarten wollte, dass man einmal träumen werde, was der Traum seinem Wesen nach ist. (An der Klippe, auf die hier gedeutet ist, scheiterten in der Tat solche Denker wie Ernst Mach und andere.)

Der Naturforscher wird, sobald er beginnt, seine eigene Forschungsart zu verstehen, nicht meinen können, dass mit der Welt, die er zeichnet, das gewöhnliche Bewusstsein ein Verhältnis eingehen könne. In Wirklichkeit geht ein solches Verhältnis das schauende Bewusstsein ein. Aber dieses Verhältnis ist ein geistiges. Und die sinnliche Wahrnehmung des gewöhnlichen Bewusstseins ist die Offenbarung eines geistigen Verhältnisses, das jenseits dieses gewöhnlichen Bewusstseins sich abspielt zwischen der Seele und derjenigen Welt, welche der Naturforscher zeichnet. Geschaut werden kann dieses Verhältnis erst durch das schauende Bewusstsein.

Wird die Welt, welche die naturwissenschaftliche Vorstellungsart zeichnet, materiell gedacht, so bleibt sie unverständlich; wird sie so gedacht, dass in ihr ein Geistiges lebt, das als Geistiges zum Menschengeiste spricht, in einer Art, die erst von dem schauenden Bewusstsein erkannt wird, so wird dies Weltbild in seiner Berechtigung verständlich.

Eine Art Gegenbild zur naturwissenschaftlichen Vorstellungsart ist die altindische Mystik. Zeichnet jene eine Welt, die unwahrnehmbar ist, so diese eine solche, in welcher der Erkennende zwar Geistiges erleben, aber dieses Erleben nicht bis zu der Kraft steigern will, wahrzunehmen.

Der Erkennende sucht da nicht durch die Kraft der Seelenerlebnisse aus dem gewöhnlichen Bewusstsein heraus zu einem schauenden Bewusstsein zu erwachen, sondern er zieht sich von aller Wirklichkeit zurück, um mit dem Erkennen allein zu sein. Er glaubt so die ihn störende Wirklichkeit überwunden zu haben, während er nur sein Bewusstsein von ihr zurückgezogen hat und sie gewissermaßen mit ihren Schwierigkeiten und Rätseln außer sich stehen lässt. Auch glaubt er von dem «Ich» frei geworden und in einer selbstlosen Hingabe an die Geistwelt mit dieser eins geworden zu sein.

In Wahrheit hat er nur sein Bewusstsein vom «Ich» verdunkelt und lebt unbewusst gerade ganz im «Ich». Statt aus dem gewöhnlichen Bewusstsein zu erwachen, fällt er in ein träumerisches Bewusstsein zurück. Er meint die Rätsel des Seins gelöst zu haben, während er nur den Seelenblick von ihnen abgewendet hält. Er hat das Wohlgefühl der Erkenntnis, weil er die Erkenntnisrätsel nicht mehr auf sich lasten fühlt. Was erkennendes «Wahrnehmen» ist, kann nur im Erkennen der Sinneswelt erlebt werden. Ist es da erlebt, dann kann es weiter für geistiges Wahrnehmen gebildet werden. Zieht man sich von dieser Art des Wahrnehmens zurück, so beraubt man sich des Wahrnehmungserlebnisses ganz und bringt sich auf eine Stufe des Seelenerlebens zurück, die weniger wirklich ist als die Sinneswahrnehmung. Man sieht im Nichterkennen eine Art Erlösung vom Erkennen und glaubt gerade dadurch in einem höheren Geisteszustand zu leben. Man verfällt dem bloßen Leben im «Ich und meint, das Ich überwunden zu haben, weil man das Bewusstsein dafür gedämpft hat, dass man ganz im Ich webt. Nur das Finden des Ich kann den Menschen von dem Verstricktsein vom Ich befreien. (Vergleiche auch die Ausführungen auf S. 138 ff. dieser Schrift.)

Man kann wahrlich dies alles sagen müssen und deshalb doch nicht weniger Verständnis und Bewunderung für die herrliche Schöpfung der Bhagavad-Gita und ähnlicher Erzeugnisse indischer Mystik haben wie jemand, der, was hier gesagt ist, als Beweis ansieht, dass der Sprechende «eben kein Organ» habe für die Erhabenheit echter Mystik. Man sollte nicht glauben, dass nur ein unbedingter Bekenner einer Weltanschauung diese zu schätzen wisse. (Ich schreibe dies, trotzdem ich mir bewusst bin, nicht weniger mit der indischen Mystik erleben zu können, als irgend einer ihrer unbedingten Bekenner.)

Nach den Erkenntnissen hin, die sich in der hier gekennzeichneten Art zur Welt stellen, richtet sich, was Johann Gottlieb Fichte zum Ausdrucke bringt. In der Art, wie er das Bild vom Traum aussprechen muss, um die Welt des gewöhnlichen Bewusstseins zu charakterisieren, zeigt sich dies.

«Bilder sind – sagt er – sie sind das einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder; – Bilder, die vorüberschweben, ohne dass etwas sei, dem sie vorüberschweben: die durch Bilder von Bildern zusammenhängen ... Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, der da träumt; in einen Traum, der in einem Traume von sich zusammenhängt.»

Das ist die Schilderung der Welt des gewöhnlichen Bewusstseins; und es ist der Ausgangspunkt zur Anerkennung des schauenden Bewusstseins, welches das Erwachen aus dem Traum der physischen zur Wirklichkeit der geistigen Welt bringt.

Schelling will die Natur als eine Stufe in der Entwicklung des Geistes betrachten. Er fordert, dass sie erkannt werde durch eine intellektuelle Anschauung. Er nimmt also die Richtung, deren Ziel nur von dem Gesichtspunkte des schauenden Bewusstseins aus ins Auge gefasst werden kann. Er bemerkt den Punkt, wo im Bewusstsein der Freiheit das schauende Bewusstsein in das gewöhnliche Bewusstsein hineinstrahlt. Er sucht endlich über den bloßen Idealismus in seiner «Philosophie der Offenbarung» hinauszukommen, indem er anerkennt, dass die Ideen selbst nur Bilder dessen sein können, was aus einer geistigen Welt heraus mit der Menschenseele im Verhältnis steht.

Hegel empfindet, dass in der Gedankenwelt des Menschen etwas liegt, durch das der Mensch nicht nur ausspricht, was er an der Natur erlebt, sondern was in ihm und durch ihn der Geist der Natur selbst erlebt. Er fühlt, dass der Mensch geistiger Zuschauer werden kann eines Weltenvorganges, der sich in ihm abspielt. Die Heraufhebung dessen, was er so empfindet und fühlt, zum Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins erhebt auch das Weltbild, das bei ihm nur ein Nachdenken der Vorgänge ist, die sich in der physischen Welt vollziehen, zur Anschauung einer wirklichen geistigen Welt.

Karl Christian Planck erkennt, dass der Gedanke des gewöhnlichen Bewusstseins nicht selbst am Weltgeschehen beteiligt ist, weil er, richtig gesehen, Bild eines Lebens, nicht selbst dieses Leben ist.

Deshalb ist Planck der Ansicht, dass eben derjenige, der diese Bildnatur des Denkens richtig durchschaut, die Wirklichkeit finden könne. Indem das Denken selbst nichts sein will, aber von etwas spricht, das ist, weist es auf eine wahre Wirklichkeit.

Denker wie Troxler, Immanuel Hermann Fichte nehmen in sich die Kräfte des deutschen Weltanschauungs-Idealismus auf, ohne sich zu beschränken in den Ansichten, die er in Johann Gottlieb Fichte, Schelling und Hegel hervorgebracht hat. Sie deuten bereits auf einen «inneren Menschen» im «äußeren Menschen», also auf den geistig-seelischen Menschen, den der Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins als eine Wirklichkeit anerkennt, die erlebt werden kann.

Besonders an der Weltanschauungsströmung, die sich als neuere Entwicklungslehre von Lamarck, über Lyell und andere bis zu Darwin und den gegenwärtigen Ansichten von den Lebenstatsachen zieht, kann die Bedeutung eingesehen werden, welche der Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins hat.

Diese Entwicklungslehre sucht das Aufsteigen der höheren Lebensformen aus den niederen darzustellen.

Sie erfüllt damit eine Aufgabe, die grundsätzlich in sich berechtigt ist. Allein sie muss dabei so verfahren, wie die Menschenseele im Traumbewusstsein mit den Traumerlebnissen verfährt; sie lässt das Folgende aus dem Früheren hervorgehen. In Wirklichkeit sind aber die treibenden Kräfte, die ein folgendes Traumbild aus dem früheren hervorzaubern, in dem Träumenden und nicht in den Traumbildern zu suchen. Dies zu empfinden, ist erst das wachende Bewusstsein in der Lage.

Das schauende Bewusstsein kann sich nun ebenso wenig zufrieden geben, in einer niederen Lebensform die wirksamen Kräfte zu suchen für das Entstehen einer höheren, wie sich das Wachbewusstsein dazu hergeben kann, einen Folgetraum aus einem vorhergehenden Traum wirklich hervorgehen zu lassen, ohne auf den Träumenden zu sehen.

Das in der wahren Wirklichkeit sich erlebende Seelenwesen schaut das Seelisch-Geistige, das es wirksam in der gegenwärtigen Menschennatur findet, auch schon wirksam in den Entwicklungsformen, welche zu dem gegenwärtigen Menschen geführt haben. Es wird nicht anthropomorphistisch in die Naturerscheinungen die gegenwärtige Menschenwesenheit hineinträumen; aber es wird das Geistig- Seelische, das durch schauendes Bewusstsein im gegenwärtigen Menschen erlebt wird, wirksam wissen in allem Naturgeschehen, das zum Menschen geführt hat. Es wird so erkennen, dass die dem Menschen offenbar werdende Geistwelt den Ursprung enthält auch der Naturbildungen, die dem Menschen vorangegangen sind.

Dadurch findet seine rechte Ausgestaltung, was aus den treibenden Kräften des deutschen Idealismus heraus Wilhelm Heinrich Preuß angestrebt hat mit seiner Lehre, die «den Artbegriff nach tatsächlicher Möglichkeit rettet, aber zugleich den von Darwin aufgestellten Begriff der Entwicklung hinübernimmt auf ihr Gebiet und fruchtbar zu machen sucht». Vom Gesichtspunkte des schauenden Bewusstseins aus wird zwar nicht gesagt werden können, was Preuß sagte:

«Der Mittelpunkt dieser neuen Lehre nun ist der Mensch, die nur einmal auf unserem Planeten wiederkehrende Spezies: Homo sapiens»; sondern der Mittelpunkt einer die menschliche Wirklichkeit umfassenden Weltanschauung ist die sich im Menschen offenbarende Geistwelt. Und so gesehen – wird wahr erscheinen, was Preuß meint:

«Merkwürdig, dass die älteren Beobachter bei den Naturgegenständen anfingen und sich dann dermaßen verirrten, dass sie den Weg zum Menschen nicht fanden, was ja auch Darwin nur in kümmerlichster und durchaus unbefriedigender Weise gelang, indem er den Stammvater des Herrn der Schöpfung unter den Tieren suchte, – während der Naturforscher bei sich als Menschen anfangen müsste, um so fortschreitend durch das ganze Gebiet des Seins und Denkens zur Menschheit zurückzukehren ... »

Zu einem anthropomorphistischen Ausdeuten der Naturerscheinungen kann der Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins nicht führen, denn er anerkennt eine geistige Wirklichkeit, von der das im Menschen Erscheinende die Offenbarung ebenso ist wie das in der Natur Erscheinende. Dieses anthropomorphische Hineinträumen der Menschenwesenheit in die Natur war das Schreckgespenst Feuerbachs und der Feuerbachianer. Für sie wurde dieses Schreckgespenst das Hindernis der Anerkennung einer geistigen Wirklichkeit.

Auch in Carneris Denkertätigkeit wirkte dieses Schreckgespenst nach. Es schlich sich störend ein, wenn er das Verhältnis. suchte seiner auf die seelische Wesenheit des Menschen gestützten ethischen Lebensansicht zur darwinistisch gefärbten Naturanschauung. Aber die treibenden Kräfte des deutschen Weltanschauungs-Idealismus übertönten diese Störung bei ihm, und so tritt in Wirklichkeit bei ihm ein, dass er bei dem als ethisch veranlagten Geistig-Seelischen im Menschen beginnt und fortschreitend durch das ganze Gebiet des Seins und Denkens zur ethisch sich vervollkommnenden Menschheit zurückkehrt.

Die Richtung, welche der deutsche Weltanschauungs-Idealismus genommen hat, kann nicht einlaufen in die Anerkennung einer Lehre, die in die Entwicklung von den niederen zu den höheren Daseinsformen ungeistige Triebkräfte hineinträumt. Aus diesem Grunde musste schon Hegel sagen:

«Solcher nebulöser, im Grunde sinnlicher Vorstellungen, wie insbesondere das sogenannte Hervorgehen z. B. der Pflanzen und Tiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der entwickelteren Tierorganisationen aus den niedrigeren und so weiter ist, muss sich die denkende Betrachtung entschlagen» (vergleiche Hegels Werke, Vollst. Ausg., 2. Aufl. Berlin 1847, Bd. 7a, S. 33).

Und aus diesem Weltanschauungs-Idealismus heraus sind die Empfindungen geboren, mit denen Herman Grimm dem naturwissenschaftlichen Weltbilde seine Stellung in der Gesamtweltanschauung zuweist. Herman Grimm, der geistvolle Kunstbetrachter, der anregende Darsteller großer Zusammenhänge in der Menschheitsgeschichte, sprach sich über Weltanschauungsfragen nicht gerne aus; er überließ dies Gebiet lieber anderen. Wenn er sich aber doch über diese Dinge äußerte, dann tat er es aus der unmittelbaren Empfindung seiner Persönlichkeit heraus. Er fühlte sich mit solchen Urteilen geborgen in dem Urteilsfelde, das die deutsche idealistische Weltanschauung umfasste und auf dem er sich stehend wusste.

Und aus solchem Untergrunde seiner Seele kamen die Worte, die er in seiner dreiundzwanzigsten Vorlesung über Goethe ausgesprochen hat:

«Längst hatte, in seinen (Goethes) Jugendzeiten schon, die große Laplace-Kantsche Phantasie von der Entstehung und dem einstigen Untergange der Erdkugel Platz gegriffen. Aus dem in sich rotierenden Weltnebel – die Kinder bringen es bereits aus der Schule mit – formt sich der zentrale Gastropfen, aus dem hernach die Erde wird, und macht, als erstarrende Kugel, in unfassbaren Zeiträumen alle Phasen, die Episode der Bewohnung durch das Menschengeschlecht mit einbegriffen, durch, um endlich als ausgebrannte Schlacke in die Sonne zurückzustürzen; ein langer, aber dem Publikum völlig begreiflicher Prozess, für dessen Zustandekommen es nun weiter keines äußeren Eingreifens bedarf, als die Bemühung irgendeiner außenstehenden Kraft, die Sonne in gleicher Heiztemperatur zu erhalten.

Es kann keine fruchtlosere Perspektive für die Zukunft gedacht werden, als die, welche uns in dieser Erwartung als wissenschaftlich notwendig heute aufgedrängt werden soll. Ein Aasknochen, um den ein hungriger Hund einen Umweg machte, wäre ein erfrischendes appetitliches Stück im Vergleich zu diesem letzten Schöpfungsexkrement, als welches unsere Erde schließlich der Sonne wieder anheimfiele, und es ist die Wissbegier, mit der unsere Generation dergleichen aufnimmt und zu glauben vermeint, ein Zeichen kranker Phantasie, die als ein historisches Zeitphänomen zu erklären, die Gelehrten zukünftiger Epochen einmal viel Scharfsinn aufwenden werden.

Niemals hat Goethe solchen Trostlosigkeiten Einlass gewährt ... Goethe würde sich wohl gehütet haben, die Folgerungen der Schule Darwins aus dem abzuleiten, was in dieser Richtung er zuerst der Natur abgelauscht und ausgesprochen hatte ...»

(Über Goethes Verhältnis zur naturwissenschaftlichen Vorstellungsart vergleiche meine Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in Kürschners «Deutscher National-Literatur» und mein Buch: «Goethes Weltanschauung».)

*

Auch Robert Hamerlings Sinnen bewegt sich in einer Richtung, die im Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins ihre Rechtfertigung findet. Von dem menschlichen Ich aus, das sich denkt, lenkt er die Betrachtung auf das Ich, das sich denkend erlebt; von dem Willen aus, der im Menschen wirkt, auf den Weltenwillen. Doch das sich erlebende Ich kann nur geschaut werden, wenn im seelischen Erleben ein Erwachen in der geistigen Wirklichkeit eintritt; und der Weltenwille dringt nur in die Erkenntnis ein, wenn das menschliche Ich erlebend ein Wollen ergreift, in dem es nicht sich zum Ausgangspunkte, sondern zum Zielpunkte macht, in dem es sich auf die Entfaltung dessen richtet, was in der Welt des Innenlebens vorgeht. Dann lebt die Seele sich ein in die geistige Wirklichkeit, in welcher die treibenden Kräfte der Naturentwicklung in ihrer Wesenheit miterlebt werden können. Wie Hamerlings Sinnen zu einer Empfindung davon führt, dass von solchem Erwachen des in der Geisteswelt sich wissenden Ich zu sprechen berechtigt ist, das zeigen Stellen seiner «Atomistik des Willens» wie diese:

«Im Dämmerschein kühner Mystik und im Lichte freier Spekulation deutet und erfasst dieses Rätsel, dies Wunder, dies geheimnisvolle Ich sich als eine der ungezählten Erscheinungsformen, in welchen das unendliche Sein zur Wirklichkeit gelangt, und ohne welche es nur ein Nichts, ein Schatten wäre» (Atomistik des Willens, 2. Bd. S. 166).

Und: «Den Gedanken im menschlichen Gehirn aus der Tätigkeit schlechterdings lebloser Stoffatome herleiten zu wollen, bleibt für alle Zeit ein vergebliches und törichtes Unterfangen. Stoffatome könnten niemals Träger eines Gedankens werden, wenn nicht in ihnen selbst schon etwas läge, was wesensgleich mit dem Gedanken ist. Und eben dies Ursprüngliche, mit dem lebendigen Denken Wesensverwandte, ist ohne Zweifel auch ihr wahrer Kern, ihr wahres Selbst, ihr wahres Sein» (Atomistik des Willens, 1. Bd. S. 279 f.).

Hamerling steht mit diesem Gedanken allerdings erst bloß ahnend vor dem Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins. Die Gedanken des menschlichen Gehirnes aus der Tätigkeit der Stoffatome herleiten zu wollen, bleibt gewiss «ein für alle Zeiten vergebliches und törichtes Unterfangen». Denn es ist dies nicht besser, als das Spiegelbild eines Menschen bloß aus der Tätigkeit des Spiegels herleiten zu wollen. Aber im gewöhnlichen Bewusstsein erscheinen die Gedanken doch als die von dem Stofflichen des Gehirns bedingte Widerspiegelung des Lebendig-Wesenhaften, das in ihnen als für dies gewöhnliche Bewusstsein unbewusst kraftet. Dieses Lebendig-Wesenhafte wird erst vom Gesichtspunkte des schauenden Bewusstseins verständlich. Es ist das Wirkliche, in dem das schauende Bewusstsein sich erlebt, und zu dem sich auch das Stoffliche des Gehirns verhält wie ein Bild zu dem verbildlichten Wesen. Der Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins sucht den «Dämmerschein kühner Mystik» einerseits zu überwinden durch die Klarheit eines in sich folgerichtigen, sich voll durchschauenden Denkens, andererseits aber auch das unwirkliche (abstrakte) Denken der philosophischen «Spekulation» durch ein Erkennen, das denkend zugleich Erleben eines Wirklichen ist.

*

Verständnis für die Erfahrungen, welche die Menschenseele durch eine Vorstellungsart macht, wie sie sich in der Denkerreihe von Fichte bis Hamerling offenbart, wird verhindern, dass eine Weltanschauung, die den Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins als einen berechtigten anerkennt, zurückfällt in Seelenstimmungen, welche ähnlich wie die alte indische eher durch eine Herabdämpfung als durch eine Steigerung des gewöhnlichen Bewusstseins das Erwachen in der geistigen Wirklichkeit suchen. (Der Verfasser dieser Schrift hat in seinen Büchern und Vorträgen immer wieder darauf hingewiesen, dass die Meinung, man könne gegenwärtig in einer Wiederbelebung solch älterer Weltanschauungsrichtungen wie der indischen einen Gewinn für Geisterkenntnis ziehen, auf Irrwegen wandelt. Was allerdings nicht gehindert hat, dass die von ihm vertretene geisteswissenschaftliche Weltanschauung immer wieder mit solchen fruchtlosen und geschichtsfeindlichen Wiederbelebungsversuchen verwechselt wird.)

Der deutsche Weltanschauungs-Idealismus strebt nicht nach Herabdämpfung des Bewusstseins, sondern sucht innerhalb dieses Bewusstseins nach den Wurzeln derjenigen Seelenkräfte, die stark genug sind, um mit vollem Ich-Erlebnis in die geistige Wirklichkeit einzudringen. In ihm hat die Geistesentwicklung der Menschheit das Streben in sich aufgenommen, durch Erstarkung der Bewusstseinskräfte zur Erkenntnis der Weltenrätsel zu kommen.

Die naturwissenschaftliche Vorstellungsart, die manchen über die Tragkraft dieser Weltanschauungsströmung in Irrtum gebracht hat, kann aber auch die Unbefangenheit erwerben, anzuerkennen, welche Wege zur Erkenntnis der wirklichen Welt in den Richtungen liegen, die von dieser idealistischen Weltansicht gesucht werden. Man wird sowohl die Gesichtspunkte des deutschen Weltanschauungs-Idealismus wie auch denjenigen des schauenden Bewusstseins verkennen, wenn man durch sie hofft eine sogenannte «Erkenntnis» zu erlangen, die durch eine Summe von Vorstellungen die Seele über alle weiteren Fragen und Rätsel hinweghebt und sie in den Besitz einer «Weltanschauung» bringt, in dem sie sich von allem Suchen ausruhen kann.

Der Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins bringt die Erkenntnisfragen aber nicht zum Stillstande; im Gegenteile, er bewegt sie weiter, und er vergrößert in einem gewissen Sinne sowohl ihre Zahl als auch ihre Lebhaftigkeit. Aber er hebt diese Fragen in einen Wirklichkeitskreis hinein, in dem sie denjenigen Sinn erhalten, nach dem das Erkennen schon unbewusst sucht, bevor es ihn noch entdeckt hat. Und in diesem unbewussten Suchen erzeugt sich das Unbefriedigende der Weltanschauungsstandpunkte, die das schauende Bewusstsein nicht gelten lassen wollen. Es kommt in diesem unbewussten Suchen auch die sich sokratisch dünkende, aber in Wirklichkeit sophistische Ansicht zustande, dass diejenige Erkenntnis die höchste sei, die nur die eine Wahrheit kennt, dass es keine Wahrheit gäbe.

Es finden sich Menschen, welche ängstlich werden, wenn sie daran denken, der Mensch könne den Antrieb zum Erkenntnisfortschritt verlieren, sobald er sich ausgerüstet glaubt mit einer Lösung der Welträtsel. Diese Sorge braucht gegenüber dem deutschen Idealismus wie auch gegenüber dem Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins niemand zu haben. (5)

Auch von anderen Seiten kann eine rechte Würdigung des neuen Weltanschauungs-Idealismus zur Austilgung von Missverständnissen führen, die ihm entgegengebracht werden. Es ist allerdings nicht in Abrede zu stellen, dass manche Bekenner dieses Weltanschauungs-Idealismus durch ihr eigenes Missverstehen des von ihnen Anerkannten ebenso zu Gegnerschaften Veranlassung gegeben haben, wie Bekenner der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart dadurch, dass sie die Tragkraft ihrer Anschauungen für die Erkenntnis der Wirklichkeit überschätzen, unberechtigte Ablehnungen dieser Anschauungen selbst hervorrufen.

Der bedeutende österreichische Philosoph (und katholische Priester), Laurenz Müllner, hat in einem Aufsatz über Adolf Friedrich Graf von Schack (Literatur- und kunstkritische Studien von Dr. Laurenz Müllner S. 54) in eindringlicher Art sich vom Standpunkte des Christentums über den Entwicklungsgedanken der neueren Naturwissenschaft ausgesprochen. Er weist die Behauptungen Schacks zurück, die in den Worten gipfeln:

«Die gegen die Deszendenztheorie gemachten Einwendungen rühren alle von Oberflächlichkeit her.»

Und nach dieser Zurückweisung sagt er:

«Das positive Christentum hat keinen Grund, sich gegen den Entwicklungsgedanken als solchen ablehnend zu verhalten, wenn der Naturprozess nicht lediglich als von Ewigkeit auf sich gestellter kausaler Mechanismus gefasst und wenn der Mensch nicht als Produkt desselben hingestellt wird. »

Diese Worte gingen aus demselben christlichen Geiste hervor, aus dem heraus Laurenz Müllner beim Antritte des Rektorats an der Wiener Universität in seiner bedeutungsvollen Rede über Galilei gesagt hat:

«So kam die neue Weltanschauung (gemeint ist die Kopernikanisch-Galileische) vielfach in den Schein eines Gegensatzes zu Meinungen, die in sehr fraglichem Rechte ihre Abfolge aus den Lehren des Christentums behaupteten. Es handelte sich vielmehr um den Gegensatz des erweiterten Weltbewusstseins einer neuen Zeit zu dem enger geschlossenen der Antike, um einen Gegensatz zur griechischen, nicht aber zur richtig verstandenen christlichen Weltanschauung, die in den neu entdeckten Sternenwelten nur neue Wunder göttlicher Weisheit hätte sehen dürfen, wodurch die auf Erden vollzogenen Wunder göttlicher Liebe nur höhere Bedeutung gewinnen können.»

Wie bei Müllner eine schöne Unbefangenheit des christlichen Denkers gegenüber der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart vorliegt, so ist eine solche gewiss auch möglich gegenüber dem deutschen Weltanschauungs-Idealismus. Solche Unbefangenheit würde sagen: Das positive Christentum hat keinen Grund, sich gegen den Gedanken eines Geisterlebnisses in der Seele als solchen ablehnend zu verhalten, wenn das Geisterlebnis nicht zur Ertötung des religiösen Andacht- und Erbauungs-Erlebnisses führt und wenn die Seele nicht vergottet wird.

Und die anderen Worte Laurenz Müllners könnten für einen unbefangenen christlichen Denker die Form annehmen: Die Weltanschauung des deutschen Idealismus kam vielfach in den Schein eines Gegensatzes zu Meinungen, die in sehr fraglichem Rechte ihre Abfolge aus den Lehren des Christentums behaupten. Es handelt sich vielmehr um den Gegensatz einer Weltanschauung, welche die Geistwesenheit der Seele anerkennt, zu einer solchen, welche zu dieser Geistwesenheit keinen Zugang finden kann, um einen Gegensatz zur missverstandenen naturwissenschaftlichen Vorstellungsart, nicht aber zur richtig verstandenen christlichen Weltanschauung, die in den rechten Geisterlebnissen der menschlichen Seele nur Offenbarungen göttlicher Macht und Weisheit sehen dürfte, wodurch die Erlebnisse der religiösen Andacht und Erbauung, sowie die Kräfte zu liebegetragener Menschenpflicht eine weitere Verstärkung gewinnen können.

*

Robert Hamerling empfand die Kraft zum Weltanschauungs-Idealismus als eine Grundkraft im Wesen des deutschen Volkstums. Die Art, wie er sein Erkenntnissuchen in seiner «Atomistik des Willens» dargestellt hat, zeigt, dass er für seine Zeit nicht an eine Wiederbelebung alter indischer Weltanschauungsströmung denkt. Aber so denkt er über den deutschen Idealismus, dass dieser ihm im Sinne der Forderungen einer neuen Zeit aus dem Wesen seines Volkstums heraus zu den geistigen Wirklichkeiten zu streben scheint, die in abgelebten Zeitaltern durch die damals stärksten Seelenkräfte der asiatischen Menschheit gesucht wurden. Und dass das Erkenntnisstreben dieses Weltanschauungs-Idealismus mit seiner Richtung nach den geistigen Wirklichkeiten den Aufblick des Menschen zu göttlichen Höhen nicht stumpft, sondern erstarkt, davon ist er durchdrungen, weil er dieses Erkenntnisstreben selbst als mit den Wurzeln religiöser Gesinnung verwachsen erblickt. Mit Gedanken über die Aufgabe seines Volkes, die Ausdruck dieses Wesenszuges ist, ist Robert Hamerling erfüllt, als er 1864 seinen «Germanenzug» dichtet. Wie die Schilderung einer Vision ist diese Dichtung. Von Asien herüber ziehen in uralter Zeit die Germanen nach Europa. Am Kaukasus ist Rast des wandernden Volkes.

Der Abend sinkt herab. Als goldne Mäler
Im letzten Dämmerschein erglühn die Kuppen
Des Kaukasus und wie aus fernen Welten
Schaun sie bedeutsam nieder auf die Gruppen
Des Volks, das rastend rings erfüllt die Täler
Mit seinen Waffen, Rossen und Gezeiten.

Zuletzt als Phönix aus den Opfergluten
Der Sonne steigt der Mond, hoch überm Plane
Des Orients mit voller Scheibe schwebend.

Nun aber ruhn die Völker. Wach geblieben
Ist Teut, der Jüngling, königlichen Blicks,
Das blonde Haupt in Sinnen tief versunken,

Und wie, aus kurzem Traum erwacht, nach oben
Sein Aug' sich wendet und ein Licht, ein klares,
Herniedertauet, sieh, da wollt' ihn deuchten,
Als ob hoch über ihm die goldnen Globen
Des Himmels sich vereinten ihre Leuchten
Im Schimmer eines Augensternenpaares:
Als ob ein wunderbares
Mildernstes Antlitz sich herunterneigte
Als ob vor seinen stolzen Sonnenflügen
Urmutter Asia mit hehren Zügen
Sich Aug' in Aug' dem mut'gen Sohne zeigte –

Und Urmutter Asia offenbart Teut seines Volkes Zukunft; sie spricht nicht bloß Lobeshymnen; sie spricht ernst von des Volkes Schatten- und Lichtseiten. Aber sie spricht auch von dem Wesenszug des Volkes, der das Erkenntnisstreben in voller Einheit mit dem Aufblick zum Göttlichen zeigt:

Fortleben wird in dir die traumesfrohe
Gottrunkenheit, die sel'ge Herzenswärme
Des alten asiat'schen Heimatlandes.
Geruhigen Bestandes
Wird dieser heil'ge Strahl, ein Tempelfeuer
Der Menschheit, frei von Rauch, mit reiner Flamme
Fortglühn in deiner Brust und Seelenamme
Dir bleiben und Pilote deinem Steuer!
Du strebst nur, weil du liebst: dein kühnstes Denken
Wird Andacht sein, die sich in Gott will senken.


Anmerkungen:

(1) Wenn jemand der oben gegebenen Darstellung mit dem Einwand begegnen wollte, sie berücksichtigte die Ergebnisse der Sinnes-Physiologie nicht, so würde er damit nur zeigen, dass er die Tragweite dieser Darstellung nicht richtig wertet. Ein solcher könnte nämlich sagen: aus der finsteren und stummen Welt erheben sich Bildungen, die sich immer weiter vermannigfaltigen und zuletzt zu Organen werden, durch deren Funktion z. B. die «finstern Ätherwellen» in Licht umgesetzt werden. Doch damit ist nicht etwas gesagt, das durch die hier gegebene Darstellung nicht betroffen würde. In dem Bilde der «finstern Welt» ist das Auge verzeichnet; aber durch kein Auge kann als wahrnehmbar gedacht werden, was durch seine eigene Wesenheit als unwahrnehmbar gedacht werden muss.

Man könnte vielleicht auch meinen, diese Darstellung berücksichtige nicht, dass das neueste naturwissenschaftliche Weltbild nicht mehr auf dem Boden stehe, auf dem noch z. B. Du Bois-Reymond gestanden hat. Man erwarte nicht mehr so viel wie dieser und seine wissenschaftlichen Gesinnungsgenossen von einer «Mechanik der Atome», von einer Zurückführung «aller Naturerscheinungen auf Bewegungen kleinster Materieteile» usw. In den Anschauungen von E. Mach, dem Physiker Max Planck und anderen seien diese älteren Theorien überwunden. Doch das in dieser Schrift Gesagte gilt auch von diesen neuesten Anschauungen. Dass z. B. Mach das Feld der Naturforschung auf die Sinnesempfindung aufbauen will, zwingt ihn gerade, in sein Weltbild nur dasjenige von der Natur aufzunehmen, was seinem Wesen nach niemals als wahrnehmbar gedacht werden kann. Er geht von der Sinnesempfindung zwar aus, kann aber nicht wieder mit seinen Ausführungen in einer wirklichkeitgemäßen Art zu ihr zurückkommen. Wenn Mach von Empfindung spricht, deutet er auf dasjenige, was empfunden wird; aber er muss, indem er den Gegenstand der Empfindung denkt, ihn vom «Ich» absondern. Er bemerkt nun nicht, dass er eben dadurch etwas denkt, was nicht mehr empfunden werden kann. Er zeigt dies dadurch, dass in seiner Empfindungswelt der Ich-Begriff völlig zerflattert.

Das «Ich» wird bei Mach zum mythischen Begriff. Er verliert das «Ich». Weil er, trotzdem er sich dessen nicht bewusst ist, doch unbewusst gezwungen ist, seine Empfindungswelt unempfindbar zu denken, wirft sie ihm das Empfindende – das Ich – aus sich heraus. Dadurch wird gerade Machs Ansicht zu einem Beweis für das hier Angeführte. Und Max Plancks, des Physiktheoretikers Ansichten, sind das beste Beispiel für die Richtigkeit der obigen Darstellung. Es darf sogar gesagt werden, dass die neuesten Gedanken über Mechanik und Elektrodynamik sich immer mehr noch der Richtung zubewegen, die hier als notwendig bezeichnet wird: aus der Wahrnehmungswelt heraus ein Bild einer Welt zu zeichnen, die nicht wahrnehmbar ist.

(2) Dasjenige, was man gegenwärtig Relativitätstheorie nennt, muss an Vorstellungen dieser Art orientiert werden; sonst kommt es nicht aus dem Logisch-Theoretischen zu wirklichkeitsgemäßen Ideen, in dem Sinne, wie in dieser Schrift der Begriff des «Wirklichkeitsgemäßen» bei Schilderung von Plancks Ansichten charakterisiert worden ist.

(3) Wem es um eine wirkliche Erkenntnis der geistigen Welt zu tun ist, der hat eine große Befriedigung, wenn ein geistreicher Künstler wie Hermann Bahr in seiner glänzenden Komödie «Der Meister» die Lebenskomödien darstellt, die sich oft so aufdringlich an die Bestrebungen anhängen, welche nach einer Wissenschaft des Geistigen suchen.

(4) Dass, was hier gemeint ist, nicht mit der Seelenverfassung verwechselt werden sollte, die dem altindischen Erkenntnisstreben zugrunde liegt, darauf wird in dem Folgenden noch gedeutet. (Vergleiche auch oben S. 84)

(5) In der Beurteilung von Weltanschauungsfragen durch manche Menschen wirkt ganz besonders verwirrend das Eingenommensein von Worten, mit denen man glaubt, Gedanken zu haben, während man sich nur in einer gedanklichen Unbestimmtheit beruhigt. Viel ist gewonnen, wenn man sich darüber nicht im unklaren ist, dass Worte wie Gebärden sind, die auf ihren Gegenstand bloß hindeuten können, deren eigentlicher Inhalt aber mit dem Gedanken selbst nichts zu tun hat. (Ebensowenig wie das Wort »Tisch« mit einem wirklichen Tisch.) Eindringlich in vieler Beziehung spricht darüber eine kleine Schrift »Kultur-Aberglaube« von Alexander von Gleichen-Rußwurm [1916, Forum-Verlag, München].

Wer den Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins gelten lässt, wird ganz besonders nötig haben, voll anzuerkennen, was die naturwissenschaftliche Vorstellungsart auch über die Seelenerscheinungen zu sagen hat. Eine von einem gewissen Gesichtspunkte aus hervorragende »Seelenkunde« in naturwissenschaftlicher Vorstellungsart hat der bedeutende Wiener Anthropologe Moritz Benedict geschrieben (1894). Man kann in dieser »Seelenkunde« wegen des gesunden Wirklichkeitssinnes des Verfassers in der Beurteilung des seelischen Lebens ein in mancher Beziehung geradezu klassisches Werk sehen. Und man kann diesem Buche gegenüber diese Ansicht haben, selbst wenn man sich sagen muss, dass der in dieser Schrift charakterisierte Gesichtspunkt des schauenden Bewusstseins von dem Verfasser dieser »Seelenkunde« wohl entschieden abgelehnt werden würde. Die so denken wie dieser Naturforscher, werden diese Ablehnung aber nicht immer haben müssen.

nach Oben