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Goethes Geistesart in ihrer Offenbarung durch seinen Faust

Diese Ausführungen werden in dieser Neu-Ausgabe neu hinzugefügt

Der Seelenkonflikt, den Goethe aus seinem eigenen Innenleben in die Persönlichkeit des Faust gelegt hat, leuchtet in voller Stärke gleich im Anfang des Dramas auf. Da, wo Faust sich von dem Zeichen des Makrokosmos ab- und demjenigen des Erdgeistes zuwendet. Was der erste Faustmonolog bis zu diesem Seelenerlebnis enthält, ist im Grunde doch nur ein Auftakt. Die Unbefriedigung an den Wissenschaften, die andere an seiner Lage als Gelehrter, sind etwas, was in die besondere Goethesche Eigenart viel weniger hineinweist als das Verhältnis, in dem sich Faust zu dem Geiste des ganzen Alls auf der einen Seite und zu dem der Erde auf der andern fühlt. Aus dem Zeichen des Makrokosmos offenbart sich der Seele die umfassende Harmonie der ganzen Welt:

Wie alles sich zum Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und lebt!
Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!
Mit segenduftenden Schwingen
Vom Himmel durch die Erde dringen,
Harmonisch all das All durchklingen!

Hält man diese Worte zusammen mit dem, was Goethe als Zeichen des Makrokosmos gekannt hat, so fällt der Blick auf ein bedeutsames Erlebnis in Fausts Seele. Vor dieser stand ein Sinnbild des Weltalls. Die Erde im Zusammenhang mit den anderen Planeten des Sonnensystems und die Sonne selbst. Die Wirksamkeit der einzelnen Himmelskörper als Offenbarung von Geistwesen, die Bewegung und Wechselverhältnis lenken. Nicht eine mechanische Himmelssphäre, sondern ein kosmisches Weben von geistigen Hierarchien, als dessen Ausfluss das Leben der Welt erscheint, in die der Mensch hineingestellt ist. Und dieser selbst als Zusammenfluss des Wirkens all dieser Wesen.

Doch Faust kann in dem Anschauen dieser All-Harmonie in seiner Seele nicht das Erleben fühlen, nach dem er strebt. Man empfindet, in den Untergründen dieser Seele wühlt die Sehnsucht: wie werde ich im vollsten Sinne des Wortes «Mensch»? Sie möchte in sich erleben, was den Menschen bewusst zum wahren Menschen macht.

Sie kann aus den Tiefen ihres Wesens nicht in derjenigen Art, die ihr vorschwebt, dasjenige Erfühlen heraufholen, durch das sie sich als den Zusammenfluss alles dessen erscheinen könnte, was ihr durch das Zeichen des Makrokosmos vorgestellt wird. Denn dies ist «Erkenntnis», welche sich durch das innere starke Erleben in «Selbsterkenntnis» umwandeln kann. Keine Erkenntnis aber, auch nicht die höchste, kann unmittelbar den ganzen Menschen ergreifen. Sie kann nur einen Teil des Menschen ergreifen; der Mensch muss sie dann durch das Leben tragen; und im Wechselverhältnis mit dem Leben dehnt sie dann ihren Bereich über das ganze menschliche Wesen aus. Faust fehlt die Geduld, die Erkenntnis als das hinzunehmen, was sie zunächst allein sein kann. Er möchte im Augenblick eine Seelen-Erfüllung erleben, die nur im Laufe der Zeit zu erleben ist. Und so wendet er sich ab von der Offenbarung des Makrokosmos:

Welch Schauspiel! aber ach! ein Schauspiel nur!

Die Erkenntnis kann nicht mehr sein als Bild des Lebens. Faust will nicht ein Bild des Lebens; er will das Leben selbst. - So wendet er sich dem Zeichen des Erdgeistes zu. In diesem Zeichen hat er vor sich ein Sinnbild des ganzen unendlichen Menschenwesens, wie dieses ist durch die Kräfte der Erdenwirksamkeit. Das Sinnbild ruft in seiner Seele die Anschauung wach von allem, was der Mensch an unbegrenzter Wesenheit in sich trägt, was ihn aber betäuben müsste, wenn er es nicht auseinandergezogen in die Bilder der im Leben sich offenbarenden Erkenntnis, sondern zusammengezogen in die Wahrnehmung eines einzigen Erkenntnis-Augenblickes empfänge.

In der Erscheinung des Erdgeistes tritt vor Faust, was der Mensch in Wirklichkeit ist, was aber betäubend wirkt, wenn es nicht in der abgeschwächten Spiegelung der Erkenntniskräfte in das Bewusstsein eintritt. Gewiss nicht in philosophischer Form, wohl aber in einer lebendigen Erkenntnisempfindung war in Goethe die geistige Angst, welche den Menschen überkommt bei dem Gedanken: was wird mit mir, wenn das Rätsel meines Daseins mir plötzlich anschaulich wird, ich es aber erkennend nicht bewältigen kann!

Goethe hat in seinen Faust nicht etwa nur die Enttäuschungen eines in die Irre gehenden Erkenntnisdranges hineinlegen wollen; er wollte vielmehr die im Wesen des Menschen begründeten Konflikte dieses Dranges selbst darstellen. Der Mensch ist in jedem Augenblicke seines Daseins mehr, als sich zum Vollbringen seines Lebens enthüllen darf. Der Mensch soll sich entwickeln aus seinem Innern heraus; er soll entfalten, was in vollem Maße zu erkennen ihm erst nach der Entfaltung gegönnt sein kann.

Seine Erkenntniskräfte sind so geartet, dass sie selbst zur Unzeit an das herangebracht, was sie zur rechten Zeit bewältigen sollen, durch ihren eigenen Gegenstand betäubt werden können. - Faust lebt in alle dem, was in den Worten des Erdgeists sich offenbart. Aber dieses sein eigenes Wesen betäubt ihn, als es ihm anschaulich vor die Seele tritt in dem Augenblicke, in dem seine Lebensreife, dieses Wesen nicht erkennend, zum Bilde wandeln kann.

Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
Nicht mir!

Bei diesen Worten stürzt Faust zusammen. Im Grunde hat er sich geschaut; aber er kann sich nicht gleichen, weil er, was er ist, nicht erkennend umfassen kann. Die Selbstanschauung hat das dieser Anschauung nicht gewachsene Bewusstsein betäubt.

Faust stellt die Frage: «Nicht dir! Wem denn?» - Die Antwort wird dramatisch gegeben. Wagner tritt ein. Dieser selbst ist die Antwort auf das «Wem denn?». Seelischer Hochmut war es, der in Faust im Augenblicke das Geheimnis des eigenen Wesens erfassen wollte. Was in ihm lebt, ist zunächst nur das Streben nach diesem Geheimnis; das Ebenbild dessen, was er im Augenblicke von sich erkennend umfassen kann, ist Wagner. Man wird die Szene mit Wagner ganz missverstehen, wenn man nur auf den Gegensatz blickt zwischen dem hochgeistigen Faust und dem beschränkten Wagner. In der Begegnung mit diesem nach der Erdgeistszene sollte Faust begreiflich werden, dass er mit seiner Erkenntniskraft im Grunde auf der Wagnerstufe steht. Dramatisch gedacht ist in der hier in Frage kommenden Szene Wagner das Ebenbild von Faust.

Was durch den Erdgeist sich für Faust nicht in einem Augenblicke offenbaren konnte, es musste aus der Entwicklung des Lebens sich ergeben. Und Goethe fühlte das Bedürfnis, Faust nicht nur von dem Ausgangspunkte seines etwa vierzigjährigen Lebens aus das weitere Menschendasein vertieft durchmachen zu lassen, sondern, gewissermaßen rückschauend, vor seine Seele auch dasjenige treten zu lassen, dem er sich in seinem abstrakten Erkenntnisstreben entzogen hat. In Wagner stand er sich selbst vor dem Seelenauge.

Der Monolog, der sich in dem vollendeten Faust an die Stelle anschließt: «Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet ... », enthält in seinen Worten nur Wogen, die aus unterbewussten Seelentiefen heraufschlagen und die zuletzt ausmünden in den Entschluss zu dem Selbstmord. Faust kann in diesem Augenblicke seines Erlebens nur die Gefühlsfolgerung ziehen, dass dem Menschen «alle Hoffnung schwinden» müsse. Vor dieser Gefühls-Schlussfolgerung rettet seine Seele nur, dass das Leben vor seinen Geist zaubert, was vorher an seinem abstrakten Erkenntnisstreben wesenlos vorbeigezogen ist: die Osterfeier des einfachen Menschengemütes und der Osterspaziergang.

Während dieser Erlebnisse, die ihm die nicht voll erlebte Jugend wenigstens im Rückblick vor die Seele bringen, wirkt in ihm nach, was er durch die Berührung mit der geistigen Welt, durch die Begegnung mit dem Erdgeist erfahren hat. Durch diese Nachwirkung löst er sich während der Gespräche mit Wagner beim Osterspaziergang von dessen Seelenverfassung los. Wagner bleibt im Gebiete des abstrakten Wissenschaftsstrebens; Faust muss die Seelenerfahrungen, die er gemacht hat, in das unmittelbare Leben hineintragen, auf dass ihm dieses Leben die Macht gibt, eine andere Antwort als Wagner auf die Frage zu bekommen: «Nicht dir! Wem denn?».

Wer wie Faust von der geistigen Welt in ihrer Wirklichkeit berührt worden ist, der muss dem Leben anders gegenüberstehen als derjenige, dem sich nur das Sinnendasein geoffenbart hat und dessen Erkenntnis nur in Vorstellungen besteht, welche von diesem Sinnendasein hergeholt sind. Was Goethe das «Geistesauge» nennt: für Faust ist es durch sein Erlebnis geöffnet. Ihn bringt das Leben noch zu anderen «Überwindungen» als zu derjenigen der Wagner-Wesenheit. Wagner ist auch ein Stück der Menschennatur, die Faust in sich trägt. Er überwindet sie, indem er in sich nachträglich belebt, was er zu beleben in der Jugendzeit versäumt hat. Auch die Belebung des Bibelwortes, die Faust sucht, gehört noch zur Wiedererweckung des Versäumten.

Aber eben während dieser Belebung tritt ein anderes «Ebenbild» des eigenen Wesens vor Fausts Seele: der Mephistopheles. Er ist die weitere schwerwiegendere Antwort auf das «Nicht dir! Wem denn?». Ihn hat er durch dasjenige zu überwinden, was die Lebenserfahrungen in seiner von der Geisteswelt berührten Seele werden können. Man sündigt gewiss nicht gegen die künstlerische Erfassung des Faust-dramas, wenn man in Mephistopheles einen Teil von Fausts Wesen selbst sieht. Denn man behauptet damit nicht, dass Goethe in dem Mephistopheles nicht habe eine vollebendige dramatische Gestalt, sondern nur eine symbolische Figur schaffen wollen. Auch im Leben ist es so, dass der Mensch in anderen Menschen Teile seiner eigenen Wesenheit anschaut. Man erkennt sich an den andern Menschen. Ich behaupte nicht, dass Hans Müller nur ein Symbol für mich ist, wenn ich sage: ich schaue in ihm ein Stück meines eigenen Wesens. Die dramatischen Gestalten des Wagner und des Mephistopheles sind individuell lebensvolle Wesen; was Faust durch sie erlebt, ist Selbstanschauung.

Was steht im Grunde im Fortgange des Faustdramas durch die Schüler-Szene vor der Seele dessen, der dieses Drama auf sich wirken lässt ? Doch nichts anderes als die Art, wie Faust seinen Schülern durch dasjenige gegenübertreten kann, was in ihm selbst von Mephistopheles ist. Als das, was in Mephistopheles dem Schüler gegenübertritt, kann sich der Mensch offenbaren, wenn er den Mephistopheles in sich nicht überwindet.

Mir scheint allerdings, dass in dieser Szene von einer früheren Ausarbeitung seines Faust Goethe etwas stehen gelassen hat, was er wohl umgearbeitet hätte, wenn er sich überhaupt in eine vollständige Umarbeitung der älteren Teile in den Geist hinein, den jetzt das Ganze zeigt, hätte finden können. Im Sinne dieses Geistes müsste, was Mephistopheles mit dem Schüler treibt, auch von Faust erlebt werden. Das ist nicht der Fall. Aber Goethe war bei der früheren Ausarbeitung seines Faust nicht darauf bedacht, alles so dramatisch zu gestalten, dass es in irgendeiner Art auch als Erlebnis des Faust selbst erscheint. Und er hat dann in die letzte Ausgestaltung seiner Dichtung manches einfach herübergenommen, was dem angedeuteten Geiste der späteren dramatischen Gestaltung sich nicht einfügt.

Der Verfasser dieser Ausführungen gehört zu denjenigen Lesern des Faust, die zu dieser Dichtung immer wieder zurückkehren. Bei solchem Rückkehren traten ihm stets als Leser neue Einblicke vor die Seele in das, was Goethe an unermesslicher Lebenserkenntnis und Lebenserfahrung in seinen Faust hineingelegt hat. Doch wollte es ihm nie glücken, in Mephistopheles trotz dessen dramatischer Lebendigkeit eine einheitliche, innerlich ungebrochene Wesenheit zu erkennen. Er fand es endlich sogar begreiflich, dass die Faustkommentatoren nicht recht wissen, als was sie Mephistopheles eigentlich ansehen sollen. Die Ansicht ist aufgetaucht, Mephistopheles sei kein rechter Teufel, sondern nur ein Diener des Erdgeistes. Dem widerspricht doch wieder, dass Mephistopheles einmal selbst sagt:

Ich möcht' mich gleich dem Teufel übergeben,
Wenn ich nur selbst kein Teufel wär'!

Hält man zusammen, was in Mephistopheles sich ausspricht: man kommt eben denn doch nicht zurecht.

Nun hat sich für Goethe im Fortarbeiten an seiner Faust-dichtung diese immer mehr an die tiefsten menschlichen Rätselerlebnisse herangerückt. Das Licht, das von diesen Rätselerlebnissen ausströmt, leuchtet überall in die dargestellten Ereignisse seiner Dichtung hinein. In Mephistopheles verkörpert sich, was der Mensch im Laufe einer tieferen Lebenserfahrung zu überwinden hat. Ein innerer Gegner dessen, was der Mensch aus seiner Wesenheit heraus erstreben muss, steht in der Gestalt des Mephistopheles da.

Wer aber die Erlebnisse völlig verfolgt, die Goethe in die Schöpfung des Mephistopheles hineingeheimnisst hat, der kommt nicht auf einen solchen geistigen Gegner der Menschennatur, sondern auf zwei. Der eine erwächst aus dem Willens- und Gefühlswesen, der andere aus dem Erkenntniswesen des Menschen. Das Willens- und Gefühlswesen strebt danach, den Menschen von der übrigen Welt, in der er Wurzel und Quelle seines Daseins hat, zu isolieren. Es gaukelt dem Menschen vor, dass er seinen Lebensweg gehen könne, indem er sich ganz nur auf sein inneres Wesen stützt. Es täuscht darüber hinweg, dass der Mensch am Weltganzen ein Glied ist, wie ein Finger am Organismus.

Dass er sich zum geistigen Tode verurteilt, wenn er sich vom Ganzen der Welt abschnürt, so wie der Finger sich zum physischen Tode verurteilen würde, wenn er getrennt vom Organismus leben wollte. In dem Menschen ist ein elementares Streben nach solcher Abschnürung. Lebensweisheit wird nicht dadurch erworben, dass man sich gegen dieses elementarische Streben blind stellt, sondern dadurch, dass man es in seiner Eigenart überwindet, indem man es verwandelt, so dass es aus einem Gegner zu einem Helfer des Lebens wird. Wer wie Faust von der Geisteswelt berührt worden ist, der muss viel bewusster in den Kampf mit dieser dem Menschenleben gegnerischen Macht verstrickt werden als derjenige, dem solche Berührung fern geblieben ist. Als Wesen dramatisiert kann diese Macht der luziferische Widerpart des Menschen genannt werden. (1) Er wirkt durch die im eigenen Innern der Menschenwesenheit nach Steigerung des Egoismus strebenden Seelenkräfte.

Der andere Gegner der Menschennatur schöpft seine Kraft aus den Täuschungen, denen der Mensch als die Außenwelt wahrnehmendes und vorstellendes Wesen ausgesetzt ist. Das vom Erkennen getragene Erleben der Außenwelt ist von den Bildern abhängig, die sich der Mensch von dieser Außenwelt nach der jeweiligen Verfassung seiner Seele, nach dem Gesichtspunkte, auf dem er steht, nach den allermannigfaltigsten andern Vorbedingungen machen kann.

In die Entstehung dieser Bilder nistet sich der Geist der Täuschung ein. Er verzerrt das Verhältnis der Wahrheit, in das sich der Mensch ohne dessen Wirksamkeit zur Außenwelt und zur übrigen Menschheit setzen könnte. Er ist zum Beispiel auch der Geist der Zwietracht und des Streites zwischen Mensch und Mensch. Er bringt die Menschen in solche gegenseitige Abhängigkeiten, die Reue und Gewissensbisse zur Folge haben. Man kann diesen Geist im Anklange an eine Gestalt der persischen Mythe den ahrimanischen Geist nennen. (2) Die persische Mythe legt ihrem Ahriman Eigenschaften bei, die zum Gebrauch dieses Namens berechtigen.

Luziferischer und ahrimanischer Widerpart der Menschenweisheit treten in ganz verschiedener Art an die menschliche Entwicklung heran. Goethes Mephistopheles trägt nun deutlich ahrimanische Züge; und doch lebt in ihm auch das luziferische Element. Eine Faustnatur ist den Versuchungen Ahrimans ebenso wie denjenigen Luzifers in stärkerem Maße ausgesetzt als eine solche, die nicht geistige Erfahrungen gemacht hat. Man könnte sich nun denken, dass Goethe statt des einen Mephistopheles die zwei gekennzeichneten Wesen Faust gegenübergestellt hätte. Faust wäre dann in die eine Art seiner Lebenslabyrinthe durch das eine, in die andere durch das andere geführt worden.

So wie Goethe seinen Mephistopheles gekennzeichnet hat, sind in demselben uneinheitlich luziferische und ahrimanische Züge vermengt. Dies verhindert nicht nur den Leser, sich ein einheitliches Bild des Mephistopheles in der Phantasie zu formen, sondern es trat Goethe selbst hindernd in den Weg, wenn er immer wieder von neuem durch sein Leben hindurch den Faden der Faustdichtung fortspinnen wollte. Man verspürt eben einen ganz naturgemäßen Drang, manches, was Mephistopheles tut oder sagt, von einem anderen Wesen getan zu sehen oder gesagt zu hören. Gewiss, Goethe hat die Schwierigkeiten, die sich ihm bei der Fortsetzung seines Faust entgegengestellt haben, manchem ganz anderen zugeschrieben; in seinem Unterbewusstsein aber wirkte die zwiespältige Wesenheit des Mephistopheles, die es schwierig machte, die Fortführung des Lebenslaufes des Faust in Bahnen zu geleiten, welche durch die dem Leben widerstrebenden Mächte hindurchführen müssen.

Gegen Ausführungen wie diese ergibt sich nur allzuleicht der gewiss billige Einwand, man wolle Goethe korrigieren. Man muss diesen Einwand ertragen im Hinblick auf die Notwendigkeit, Goethes persönliches Verhältnis zu seiner Faustdichtung zu verstehen. Man verfolge doch nur, wie Goethe gegenüber Freunden gerade da über das Erlahmen seiner Schaffenskraft klagt, als er sich anschicken möchte, die «Dichtung seines Lebens» zu Ende zu führen. Man bedenke, dass er im hohen Alter Eckermanns Zuspruch braucht, um sich aufzuraffen, den Plan der Faustfortsetzung, den er als solchen dem dritten Buch von «Wahrheit und Dichtung» einverleiben will, auszuarbeiten. Karl Julius Schröer kann mit Recht (3) sagen:

«Ohne Eckermann hätten wir wohl weiter nichts als den erwähnten Plan, der vielleicht eine Gestalt hätte wie das ,Schema zur Fortsetzung' der ,natürlichen Tochter', das in die Werke aufgenommen ist. Wir wissen, was ein solcher Plan für die Welt ist; ein Betrachtungsgegenstand für den Literarhistoriker, weiter nichts.»

Man hat das Stocken von Goethes Arbeit an seinem Faust allem Möglichen und Unmöglichen zugeschrieben; man hat sich bemüht, die in der Gestalt des Mephistopheles gefühlten Widersprüche in der einen oder der anderen Art «aufzulösen». Der Betrachter Goethes kommt über beides nicht leicht hinweg. Oder soll man sich wirklich zu einem Bekenntnis herbeilassen, wie es Jakob Minor in seinem übrigens interessanten Buche «Goethes Faust» ablegt? (4)

«Goethe stand ... nahe dem fünfzigsten Jahre; und aus der Zeit der Schweizerreise stammt, soviel ich weiß, der erste Seufzer, den ihm der Gedanke an das herannahende Alter in dem schönen Gedichte ,Schweizeralpe' entlockt hat. Auch bei ihm, dem Ewigjungen, der bisher nur zu schauen und zu gestalten gewohnt war, tritt nun der Gedanke als Vorläufer der Weisheit des Alters mehr in den Vordergrund. Er schematisiert, er rubriziert als echter Sohn des umständlichen Vaters auf der Schweizerreise wie bei seinem Faust.»

Man kann doch aus der Betrachtung des Lebens auch die Anschauung gewinnen, dass in einer solchen Dichtung, wie dem Goetheschen Faust, Dinge dargestellt werden müssen, die erst durch die Lebenserfahrung des höheren Alters gewonnen werden können. Müsste selbst bei einem Goethe mit diesem höheren Alter die Dichterkraft versiegen: wie könnte eine solche Dichtung überhaupt entstehen?

So paradox es mancher Gesinnung auch erscheinen mag: eine ernste Betrachtung des persönlichen Verhältnisses Goethes zu seinem Faust und eine solche der Gestalt des Mephistopheles scheinen dazu zu drängen, in der letzteren einen inneren Grund zu sehen für die Schwierigkeiten, die Goethe seiner Lebensdichtung gegenüber empfunden hat. Die Zwiespältigkeit der Mephistophelesfigur wirkte in den Untergründen seiner Seele; sie trat nicht herauf über die Schwelle seines Bewusstseins. Da aber die Erlebnisse des Faust Spiegelungen der Taten des Mephistopheles enthalten müssen, so stellten sich stets Hemmungen ein, wenn der Lebenslauf des Faust dramatisch fortgeführt werden sollte, und aus dem Wirken des uneinheitlichen Widersachers nicht die rechten Impulse für eine solche Fortführung sich ergeben wollten.

*

Der «Prolog im Himmel», der jetzt mit der «Zueignung» und dem «Vorspiel auf dem Theater» den ersten Teil von Goethes Faust einleitet, ist erst 1797 gedichtet. Aus den Verhandlungen, die Goethe über seine Dichtung mit Schiller geführt hat, und deren Niederschlag sich in dem Briefwechsel der beiden findet, kann man ersehen, dass er um diese Zeit die Grundkräfte umgedacht hat, als deren Offenbarung das Leben des Faust erscheint. Bis dahin erfließt für die Anschauung dessen, was an Faust sich zeigt, alles aus dessen nach Lebensvollendung und Lebensweitung drängenden Seelen-Inneren. Man sieht keine anderen Impulse als diese inneren.

Durch den «Prolog im Himmel» wird Faust als strebender Mensch in den ganzen Weltzusammenhang hineingestellt. Die geistigen Mächte, welche die Welt in Wirksamkeit versetzen und erhalten, zeigen sich in ihrer Entfaltung; und in ihr Zusammen- und Gegeneinanderwirken ist das Leben des Faust hineingestellt. So wird wenigstens für das Bewusstsein des Dichters und des Lesers Fausts Wesenheit in den Makrokosmos hineinversetzt, in den sich der Faust des jungen Goethe durch seine Erkenntnis nicht hineinstellen wollte. Mephistopheles tritt unter den wirkenden Weltenwesen «im Himmel» auf. Aber gerade da tritt auch das zwiespältige Wesen des Mephistopheles deutlich in die Erscheinung.

Von allen Geistern, die verneinen,
Ist mir der Schalk am wenigsten zur Last,

sagt der «Herr». Es müsste also noch andere Geister, die «verneinen», im Weltenkampfe geben.

Und wie stimmt es zu der Bemühung des Mephistopheles am Schluss des zweiten Teiles des Faust um den Leichnam, wenn er sich hier «im Himmel» so äußert:

Am meisten lieb' ich mir die vollen frischen Wangen.
Für einen Leichnam bin ich nicht zu Haus.

Man denke sich: statt des einen Mephistopheles stünden ein luziferischer und ein ahrimanischer Geist dem «Herrn» gegenüber im Kampf um den Faust. Ein ahrimanischer muss sich um den «Leichnam» bemühen, denn er ist der Geist der Täuschung. Geht man den Quellen der Täuschung nach, so findet man, dass sie mit dem zusammenhängen, was als das Sterblich-Materielle schon im Leben des Menschen wirkt.

Die Erkenntniskräfte, welche sich regen in demselben Maße, in dem diejenigen Impulse in ihm auftauchen, die zuletzt den Tod herbeiführen, unterliegen der ahrimanischen Täuschung. Die Willens- und Gefühlsimpulse wirken diesen Kräften entgegen. Sie hängen zusammen mit dem sprießenden, wachsenden Leben. Sie sind in Kindheit und Jugend am mächtigsten. Sie treten im Alter in dem Grade lebhafter auf, als sich der Mensch die Antriebe der Jugend in dieses Alter hinüberrettet. Sie bergen die luziferische Abirrung in sich. Luzifer kann sagen: ich liebe mir die «vollen frischen Wangen»; Ahriman muss für einen Leichnam «zu Hause» sein. Und der «Herr» kann zu Ahriman sagen:

«Von allen Geistern, die verneinen, ist mir der Schalk am wenigsten zur Last.» Denn die Schalk-Natur ist mit der Täusche-Natur verwandt. Und für das «Ewige» im Menschen ist die das Materiell-Vergängliche beherrschende Ahrimanwesenheit weniger bedeutend als die andere «verneinende» Wesenheit, die innig mit dem Wesenskern des Menschen verknüpft ist. Nicht eine Phantasie-Willkür ist es, was in Mephistopheles eine Zwienatur empfindet, sondern das selbstverständliche Fühlen eines zwiefach Wesenhaften in der menschlichen Welt- und Lebensgestaltung. Goethe muss etwas in seinem Unterbewusstsein empfunden haben, das ihn ahnen ließ: ich bringe den Gegensatz Faust-Mephistopheles vor die universale Lebensgestaltung; aber diese will zu diesem Gegensatz nicht stimmen.

Wäre, was hier gesagt ist, im Sinne der pedantisch bedenklichen Forderung gemeint: Goethe hätte den Mephistopheles anders zeichnen sollen, so könnte es ganz leicht widerlegt werden. Man brauchte nur darauf hinzuweisen, wie in Goethes Phantasie diese Gestalt aus der Überlieferung der Faustsage, aus der deutschen und nordischen Mythologie als eine einheitliche hervorgegangen ist und hervorgehen musste. Und gegen das Aufzeigen von «Widersprüchen» in einer lebendigen Gestalt könnte man, abgesehen davon, dass, was lebensvoll ist, gerade das «Leben mit seinen Widersprüchen» enthalten muss, sich an Goethes klares Wort halten: «Wenn durch die Phantasie nicht Dinge entstünden, die für den Verstand ewig problematisch bleiben, so wäre überhaupt zu der Phantasie nicht viel. Dies ist es, wodurch sich die Poesie von der Prosa unterscheidet.»

Nein, auf diesem Felde liegt das nicht, was hier gemeint ist.

Aber unbestreitbar ist, was Karl Julius Schröer (5) sagt:

«Großartig spielend, mit überlegenem Humor scherzend, meisterhaft charakterisierend bei fortwährend durchblickendem tiefen Hintergrunde höchster Fragen der Menschheit  ... hebt uns die Dichtung endlich zur Andacht hehrster Empfindungen empor ... »

Das ist es, worauf es ankommt: was in seiner Faustdichtung vor Goethes Phantasie stand, das erschien ihm auf dem «fortwährend durchblickenden tiefen Hintergrunde höchster Fragen der Menschheit». Die Gesinnung, aus welcher in gründlicher Goethe-Erkenntnis und edler Liebe zu Goethes Art Schröer dies vorbringt, kann gewiss nicht angefochten werden, da Schröer jedenfalls nicht vorgeworfen werden kann, er wolle die Dichtung Goethes im Sinne einer abstrakten Ideenentwicklung erklären.

Aber, weil Goethe den Hintergrund höchster Fragen der Menschheit vor der Seele hatte, erweiterte sich für seinen Geistes blick die überlieferte Gestalt des «nordischen Teufels» zu jener zwiespältigen Wesenheit, zu welcher der ernste Betrachter des Lebens und der Welt nun einmal geführt wird, wenn er erkennend schaut, wie die Menschenwesenheit in das Ganze des Weltalls hineingestellt ist.

Die Mephistopheles-Gestalt, welche Goethe vorschwebte, als er seine Dichtung begann, war angemessen der Abwendung des Faust von dem Sinne des Makrokosmos. Die Seelenkonflikte, die sich da aus seinem lnnern erhoben, führten zu einem Kampf gegen die gegnerische Macht, welche den Menschen im Innern anfasst und die einen luziferischen Charakter hat. Aber Goethe war genötigt, des zweiten Teiles des Faust näherte, um so mehr empfand er diese Notwendigkeit. Und in der «Klassischen Walpurgisnacht», die zur wirklichen Begegnung des Faust mit Helena führen sollte, treten Weltenmächte, tritt makrokosmisches Geschehen in Zusammenhang mit den Erlebnissen des Menschen. Indem Mephistopheles in diesen Zusammenhang eingreift, muss er einen ahrimanischen Charakter annehmen.

Goethe hatte sich durch seine naturwissenschaftliche Weltanschauung die Brücke gebaut, über die er Weltgeschehen in die Menschen-Entwicklung herüberbringen konnte. Er hat das getan in seiner «Klassischen Walpurgisnacht». Deren dichterischen Wert wird man erst erkennen, wenn man voll durchschauen wird, wie in diesem Gebiete des Faust es Goethe gelungen ist, Naturanschauungen künstlerisch so ganz zu bezwingen, dass an ihnen kein begrifflich-abstrakter Rest bleibt, sondern alles in das Bild, in die phantasiegemäße Gestaltung eingeflossen ist. Es ist nur ästhetischer Aberglaube, wenn man der «Klassischen Walpurgisnacht» vorwirft: sie enthalte einen peinlichen Rest abstrakter naturwissenschaftlicher Theorien. Und in vielleicht noch größerem Maße ist in dem gewaltigen Schlussbild des fünften Aktes des zweiten Teiles die Brücke geschlagen zwischen übersinnlichem All-Geschehen und Menschen-Erlebnis.

Es scheint keinem Zweifel unterworfen: Goethes Geistesart nahm im Laufe seines Lebens eine Entwicklung, durch die ihm die zwiespältige Wesenheit der dem Menschen gegnerischen Weltmächte vor das Seelenauge trat, und er hat die Notwendigkeit empfunden, im Fortgange seiner Faustschöpfung deren Anfang selbst zu überwinden, indem das Leben den Faust dem Makrokosmos zuwendet, von dem er sich erst einst durch die einseitige Erkenntnis abgewendet hat.

Welch Schauspiel! aber ach! ein Schauspiel nur!

In das Schauspiel traten aber die Kräfte des umfassenden Weltgeschehens ein. Es wurde Leben, weil Faust nach Zielen  strebt, die den Menschen durch den Lebenskampf in seinem Innern zum Konflikte mit den Mächten führen, welche ihn als Glied des Weltganzen kämpfend, aber den Kampf aufnehmend erscheinen lassen.


Anmerkungen:
(1) Vgl. Rudolf Steiner, Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes Faust, Bd. 1 und 2.
(2) Siehe Bemerkung zu S. 53.
(3) Seite XXX der dritten Auflage des zweiten Teiles seiner Faustausgabe.
(4) 2. Band, S. 28
(5) Seite XCIV der dritten Auflage des zweiten Teiles seiner Faustausgabe.

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