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Teil 4, 177-185


Das scheinbare Erlöschen der Geist-Erkenntnis in der Neuzeit

(Goetheanum, März 1925)

Wer die Anthroposophie in ihrem Verhältnis zur Entwicklung der Bewusstseinsseele richtig beurteilen will, der muss immer von neuem den Blick auf diejenige Geistesverfassung der Kulturmenschheit lenken, die mit dem Aufblühen der Naturwissenschaften beginnt und die im neunzehnten Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht.

Man stelle sich doch den Charakter dieses Zeitalters vor das Seelenauge hin und vergleiche ihn mit dem früherer Zeitalter. In aller Zeit der bewussten Menschheitsentwicklung war die Erkenntnis als das angesehen, was den Menschen mit der Geistwelt zusammenbringt. Was man im Verhältnis zum Geiste war, das schrieb man der Erkenntnis zu. In Kunst, in Religion lebte die Erkenntnis.

Das wurde anders, als die Morgendämmerung des Bewusstseinszeitalters begann. Da fing die Erkenntnis an, sich um einen großen Teil des menschlichen Seelenlebens nicht mehr zu kümmern. Sie wollte erforschen, was der Mensch als Verhältnis zum Dasein entwickelt, wenn er seine Sinne und seinen beurteilenden Verstand nach der «Natur» richtet. Aber sie wollte sich nicht mehr mit dem beschäftigen, was der Mensch als Verhältnis zur Geist-Welt entwickelt, wenn er sein inneres Wahrnehmungsvermögen so gebraucht wie die Sinne.

So entstand die Notwendigkeit, das geistige Leben des Menschen nicht an das Erkennen der Gegenwart anzuschließen, sondern an Erkenntnisse der Vergangenheit, an Traditionen.

Entzwei gespalten wurde das menschliche Seelenleben. Vor dem Menschen stand die Natur-Erkenntnis, immer weiter strebend auf der einen Seite, in lebendiger Gegenwart sich entfaltend. Auf der andern Seite war das Erleben eines Verhältnisses zur geistigen Welt, für das die entsprechende Erkenntnis in älteren Zeiten erflossen war. Für dieses Erleben verlor sich allmählich alles Verständnis, wie die entsprechende Erkenntnis in der Vorzeit zustande gekommen ist. Man hatte die Überlieferung, aber nicht mehr den Weg, auf dem die überlieferten Wahrheiten erkannt worden sind. Man konnte nur an die Überlieferung glauben.

Der Mensch, der sich in voller Besonnenheit etwa um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die geistige Situation überlegte, hätte sich sagen müssen: Die Menschheit ist dazu gekommen, sich nur noch für fähig zu halten, eine Erkenntnis zu entfalten, die mit dem Geiste nichts zu tun hat. Was über den Geist gewusst werden kann, hat eine frühere Menschheit erforschen können; die Fähigkeit zu dieser Erforschung ist aber der menschlichen Seele verlorengegangen.

In der ganzen Tragweite stellte man sich nicht vor das Seelenauge, was da eigentlich vorlag. - Man beschränkte sich darauf, zu sagen: Erkenntnis reicht eben nicht bis zur geistigen Welt; diese kann nur Gegenstand des Glaubens sein.

Man blicke, um etwas Licht für diese Tatsache zu bekommen, in die Zeiten, in denen die griechische Weisheit vor dem christlich gewordenen Römertum zurückweichen musste. Als die letzten griechischen Philosophenschulen durch den Kaiser Justinian geschlossen wurden, wanderten auch die letzten Bewahrer alten Wissens aus dem Gebiete fort, auf dem nun das europäische Geisteswesen sich entwickelte. Sie fanden Anschluss bei der Akademie von Gondischapur in Asien. Sie war eine der Stätten, wo im Osten durch die Taten Alexanders die Überlieferung von dem alten Wissen sich erhalten hatte. In der Form, die Aristoteles diesem alten Wissen hat geben können, lebte es da.

Aber es wurde ergriffen von derjenigen orientalischen Strömung, die man als Arabismus bezeichnen kann. Der Arabismus ist nach der einen Seite seines Wesens eine verfrühte Entfaltung der Bewusstseinsseele. Er bot durch das in der Richtung der Bewusstseinsseele zu früh wirkende Seelenleben die Möglichkeit, dass sich in ihm von Asien aus über Afrika, Südeuropa, Westeuropa eine geistige Welle ergoss, die gewisse europäische Menschen mit einem Intellektualismus erfüllte, der erst später kommen durfte; Süd- und Westeuropa bekamen im siebenten, achten Jahrhundert geistige Impulse, die erst im Zeitalter der Bewusstseinsseele hätten kommen dürfen.

Diese geistige Welle konnte das Intellektuelle im Menschen wecken, nicht aber das tiefere Erleben, durch das die Seele in die Geist-Welt taucht.

Wenn nun der Mensch im fünfzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert sein Erkenntnisvermögen in Tätigkeit brachte, so konnte er nur bis zu einer Seelentiefe untertauchen, in der er noch nicht auf die geistige Welt stieß.

Der in das europäische Geistesleben einziehende Arabismus hielt die erkennenden Seelen von der Geist-Welt zurück. Er brachte - verfrüht - den Intellekt zur Wirksamkeit, der nur die äußere Natur fassen konnte.

Und dieser Arabismus erwies sich als sehr mächtig. Wer von ihm erfasst wurde, in dem begann ein innerer - zum großen Teile ganz unbewusster - Hochmut die Seele zu ergreifen. Er empfand die Macht des Intellektualismus; aber er empfand nicht das Unvermögen des bloßen Intellektes, in die Wirklichkeit einzudringen. So überließ er sich denn der äußeren sinnenfälligen Wirklichkeit, die sich durch sich selbst vor den Menschen hinstellte; aber er kam gar nicht darauf, an die geistige Wirklichkeit heranzutreten.

Dieser Lage sah sich das mittelalterliche Geistesleben gegenüber. Es hatte die gewaltigen Überlieferungen von der Geist-Welt; aber sein Seelenleben war durch den - man möchte sagen: im geheimen - wirkenden Arabismus intellektualisch so imprägniert, dass sich der Erkenntnis kein Zugang bot zu den Quellen, aus denen der Inhalt dieser Überlieferung doch zuletzt stammte.

Es kämpfte nun vom frühen Mittelalter an das, was instinktiv in den Menschen als geistiger Zusammenhang gefühlt wurde, mit der Gestalt, die das Denken durch den Arabismus angenommen hatte.

Man fühlte die Ideenwelt in sich. Man erlebte sie als etwas Reales. Aber man fand in der Seele nicht die Kraft, in den Ideen den Geist zu erleben. So entstand der Realismus, der die Realität in den Ideen empfand, aber diese Realität nicht finden konnte. Der Realismus hörte in der Ideenwelt das Sprechen des Weltenwortes, er war aber nicht fähig, die Sprache zu verstehen.

Der Nominalismus, der sich ihm entgegenstellte, leugnete, weil das Sprechen nicht verstanden werden konnte, dass es überhaupt vorhanden sei. Für ihn war die Ideenwelt nur eine Summe von Formeln in der menschlichen Seele ohne eine Wurzelung in einer geistigen Realität.

Was in diesen Strömungen wogte, es lebte fort bis in das neunzehnte Jahrhundert. Der Nominalismus wurde die Denkungsart der Natur-Erkenntnis. Sie baute ein großartiges System von Anschauungen der sinnenfälligen Welt auf, aber sie vernichtete die Einsicht in das Wesen der Ideenwelt. - Der Realismus lebte ein totes Dasein. Er wusste von der Realität der Ideenwelt; aber er konnte im lebendigen Erkennen nicht zu ihr gelangen.

Man wird zu ihr gelangen, wenn Anthroposophie den Weg finden wird von den Ideen zu dem Geist-Erleben in den Ideen. In dem wahrhaft fortgebildeten Realismus muss dem naturwissenschaftlichen Nominalismus ein Erkenntnisweg zur Seite treten, der zeigt, dass die Erkenntnis des Geistigen in der Menschheit nicht erloschen ist, sondern in einem neuen Aufstieg aus neu eröffneten menschlichen Seelenquellen in die menschliche Entwicklung wieder eintreten kann.

Goetheanum, März 1925.

Leitsätze Nr. 177 bis 179 (29. März 1925)

(Mit Bezug auf die vorangehende Betrachtung: Das scheinbare Erlöschen der Geist-Erkenntnis in der Neuheit)

177. Wer den Seelenblick auf die Entwicklung der Menschheit im naturwissenschaftlichen Zeitalter wirft, dem bietet sich zunächst eine traurige Perspektive. Glänzend wird die Erkenntnis des Menschen in bezug auf alles, was Außenwelt ist. Dagegen tritt eine Art Bewusstsein ein, als ob eine Erkenntnis der Geist-Welt überhaupt nicht mehr möglich sei.

178. Es scheint, als ob eine solche Erkenntnis die Menschen nur in alten Zeiten gehabt hätten, und als ob man mit Bezug auf die geistige Welt sich eben damit begnügen müsse, die alten Traditionen aufzunehmen und zu einem Gegenstande des Glaubens zu machen.

179. Aus der Unsicherheit, die aus diesem gegenüber dem Verhältnis des Menschen zur geistigen Welt im Mittelalter hervorgeht, entsteht der Unglaube an den Geist-Inhalt der Ideen im Nominalismus, dessen Fortsetzung die moderne Naturanschauung ist, und als Wissen von der Realität der Ideen ein Realismus, der aber erst durch die Anthroposophie seine Erfüllung finden kann.


Die geschichtlichen Erschütterungen beim Heraufkommen der Bewusstseinsseele

(Goetheanum, März 1925)

Der Untergang des Römischen Reiches im Zusammenhang mit dem Auftreten von Völkern, die von Osten herankommen - der sogenannten Völkerwanderung, ist eine geschichtliche Erscheinung, auf die der Blick des forschenden Menschen immer wieder sich richten muss. Denn die Gegenwart enthält noch vieles von Nachwirkungen dieser erschütternden Geschehnisse.

Aber das Verständnis gerade dieser Ereignisse ist einer äußerlichen geschichtlichen Betrachtung nicht möglich. Man muss auf die Seelen der Menschen blicken, die in «Völkerwanderung» und Untergang des römischen Kaiserreiches gestellt sind.

Griechentum und Römertum blühen in der Zeit, als sich in der Menschheit die Verstandes- oder Gemütsseele entfaltet. Ja, Griechen und Römer sind die eigentlichen Träger dieser Entfaltung. Aber die Entwicklung dieser Seelen-Etappe trägt bei diesen Völkern nicht einen Keim in sich, der in rechter Art die Bewusstseinsseele aus sich entwickeln könnte. Alles, was an Geist- und Seelen-Inhalt in der Verstandes- oder Gemütsseele steckt, tritt in reichem Leben in dem Dasein des Griechen- und Römertums zutage. Mit Eigenkraft hinüberströmen in die Bewusstseinsseele kann es nicht.

Trotzdem tritt natürlich das Stadium der Bewusstseinsseele auf. Aber es ist, als ob die Bewusstseinsseele nicht etwas aus der Persönlichkeit des Griechen und Römers Hervorgehendes wäre, sondern etwas von außen seinem Wesen Eingepflanztes.

Das Verbunden- und Losgelöstsein von den göttlichgeistigen Wesenheiten, von dem in diesen Betrachtungen so viel die Rede war, vollzieht sich im Laufe der Zeiten mit verschiedener Intensität. In alten Zeiten war es eine mit starkem Geschehen in die Menschheitsentwicklung eingreifende Macht. Im griechischen und römischen Erleben der ersten christlichen Jahrhunderte ist es eine schwächere Macht. Aber es ist vorhanden. Solange er voll in sich die Verstandes- oder Gemütsseele entfaltete, fühlte der Grieche und Römer - unbewusst, aber für die Seele bedeutsam - ein Losgelöst-Werden von der göttlich-geistigen Wesenhaftigkeit, ein Selbständig-Werden des Menschhaften. Das hörte in den ersten christlichen Jahrhunderten auf. Das Hereindämmern der Bewusstseinsseele wurde als ein Verbundensein mit dem Göttlich-Geistigen empfunden. Man entwickelte sich wieder zurück von einer größeren zu einer geringeren Selbständigkeit der Seele. Man konnte den christlichen Inhalt nicht in die menschliche Bewusstseinsseele aufnehmen, weil man diese selbst nicht in die menschliche Wesenheit hereinnehmen konnte.

So empfand man diesen christlichen Inhalt als etwas von außen - von der geistigen Außenwelt - Gegebenes, nicht aber als etwas, mit dem man durch seine Erkenntniskräfte zusammenwuchs.

Anders war es bei den in die Geschichte eintretenden, von Nordosten kommenden Völkern. Sie hatten das Stadium der Verstandes- oder Gemütsseele in einem Zustande durchgemacht, der sich für sie als Abhängigkeit von der Geistwelt empfinden ließ. Sie fingen erst an, etwas von der menschlichen Selbständigkeit zu empfinden, als die ersten Kräfte der Bewusstseinsseele in den christlichen Anfängen heraufdämmerten. Bei ihnen trat die Bewusstseinsseele als etwas der Menschenwesenheit Verbundenes auf. Sie empfanden sich in froher innerer Kraftentfaltung, indem die Bewusstseinsseele in ihnen auflebte.

In dieses sprießende Leben der heraufdämmernden Bewusstseinsseele fiel bei diesen Völkern der christliche Inhalt. Sie fühlten ihn als etwas in der Seele Auflebendes, nicht als etwas von außen Gegebenes.

Das war die Stimmung, in der diese Völkerschaften an das Römische Reich und alles, was damit zusammenhing, herankamen. Das war die Stimmung des Arianismus gegenüber dem Athanasianismus. Ein tiefer innerer Gegensatz war in der weltgeschichtlichen Entwicklung da.

In der dem Menschen äußerlichen Bewusstseinsseele des Römers und Griechen wirkte zunächst die nicht völlig mit dem Erdenleben sich vereinende, sondern nur hereinstrahlende göttlich-geistige Wesenheit. In der erst aufdämmernden Bewusstseinsseele der Franken-, Germanen und so weiter wirkte nur noch schwach, was von Göttlich-Geistigem mit der Menschheit sich verbinden konnte.

Das Nächste war, dass der christliche Inhalt, der in der über dem Menschen schwebenden Bewusstseinsseele lebte, sich im Leben ausbreitete; der mit der Seele vereinigt etwas blieb, das als Antrieb, Impuls in dem Innern der Menschen verblieb und auf seine Entfaltung wartete, die erst eintreten kann, wenn ein gewisses Stadium in der Entfaltung der Bewusstseinsseele erreicht ist.

Es ist die Zeit, von den ersten christlichen Jahrhunderten angefangen bis in das Zeitalter der Bewusstseinsseelenentwicklung hinein, eine solche, in der als maßgebliches Geistesleben über der Menschheit ein geistiger Inhalt waltet, mit dem sich der Mensch erkennend nicht verbinden kann. Er verbindet sich deshalb äußerlich; er «erklärt» ihn, und er denkt darüber nach, inwiefern die Seelenkräfte nicht ausreichend sind, um die erkennende Verbindung herbeizuführen. Er unterscheidet zwischen dem Gebiete, in das die Erkenntnis reicht, und dem, wohin sie nicht reicht. Es macht sich der Verzicht geltend, Seelenkräfte zu betätigen, die sich erkennend in die Geistwelt erheben. Und so kommt die Zeit heran, Wende des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, in der man sich mit den auf das Geistige gerichteten Seelenkräften von dem Geistigen überhaupt erkennend abwendet. - Man beginnt, nur in den Seelenkräften zu leben, die auf das sinnlich Wahrnehmbare gerichtet sind.

Stumpf werden die Erkenntniskräfte für das Geistige besonders im achtzehnten Jahrhundert.

Die Denker verlieren aus ihren Ideen den geistigen Inhalt. Sie machen im Idealismus von der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die geistleeren Ideen selbst als schaffenden Welt-Inhalt geltend. So Fichte, Schelling, Hegel; oder sie weisen auf ein Übersinnliches, das sich verflüchtigt, weil es entgeistigt ist. So Spencer, John Stuart Mill und andere. Die Ideen sind tot, wenn sie den lebendigen Geist nicht suchen.

Der geistige Blick für das Geistige geht nun einmal verloren.

Eine «Fortsetzung» des alten Geist-Erkennens ist nicht möglich. Es müssen die Seelenkräfte, indem die Bewusstseinsseele sich in ihnen entfaltet, ihre erneuerte elementare, unmittelbar lebendige Verbindung mit der Geist-Welt erstreben. Anthroposophie will dieses Erstreben sein.

Im geistigen Leben des Zeitalters wissen gerade die führenden Persönlichkeiten zunächst nicht, was sie will. Und damit werden weite Kreise, die diesen Führern folgen, auch abgehalten. Die Führer leben in einem Seelen-Inhalt, der sich allmählich ganz entwöhnt hat, die geistigen Kräfte zu gebrauchen. Für sie ist es, als ob man einen Menschen, der ein gelähmtes Organ hat, veranlassen wollte, dieses zu gebrauchen. Denn gelähmt waren in der Zeit vom sechzehnten bis in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die höheren Erkenntniskräfte. Und die Menschheit blieb darüber ganz unbewusst; sie betrachtete das einseitige Gebrauchen der auf die Sinnenwelt gerichteten Erkenntnis als einen besonderen Fortschritt.

Goetheanum, März 1925.

Leitsätze Nr. 180 bis 182 (5. April 1925)

(Mit Bezug auf die vorangehenden Betrachtungen über die geschichtlichen Erschütterungen beim Heraufkommen der Bewusstseinsseele)

180. Die Griechen und Römer sind die für die Entfaltung der Verstandes- oder Gemütsseele besonders veranlagten Völker. Sie entwickeln dieses Seelenstadium zur Vollendung. Aber sie tragen nicht die Keime in sich, um in geradliniger Art fortzuschreiten zur Bewusstseinsseele. Ihr Seelenleben geht in die Verstandes- oder Gemütsseele hinein unter.

181. Aber es waltet nun in der Zeit von der Entstehung des Christentums bis in das Zeitalter der Bewusstseinsseelen-Entwicklung eine Geistwelt, die sich nicht mit den menschlichen Seelenkräften vereinigt. Diese «erklären» die Geistwelt, aber sie erleben sie nicht.

182. In den Völkern, die mit der sogenannten «Völkerwanderung» von Nordosten gegen das Römerreich vorrücken, lebt ein gefühlsmäßiges Erfassen der Verstandes- oder Gemütsseele. Dagegen bildet sich in ihren Seelen die in dieses Gefühlsmäßige eingebettete Bewusstseinsseele aus. Das innere Leben dieser Völker wartet auf die Zeit, in der wieder ein Vereinigt-Sein der Seele mit der Geist-Welt voll möglich ist.


Von der Natur zur Unter-Natur

(Goetheanum, März 1925)

Man spricht davon, dass mit der Überwindung des philosophischen Zeitalters das naturwissenschaftliche in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts heraufgezogen ist. Und man spricht auch so, dass dieses naturwissenschaftliche Zeitalter heute noch andauert, indem zugleich viele betonen, man habe sich zu gewissen philosophischen Intentionen wieder zurückgefunden.

Das alles entspricht den Erkenntniswegen, die die neuere Zeit eingeschlagen hat, nicht aber den Lebenswegen. Mit seinen Vorstellungen lebt der Mensch noch in der Natur, wenn er auch das mechanische Denken in die Naturauffassung hineinträgt. Mit seinem Willensleben aber lebt er in so weitem Umfange in einer Mechanik des technischen Geschehens, dass dies dem naturwissenschaftlichen Zeitalter seit lange eine ganz neue Nuance gegeben hat.

Will man das menschliche Leben verstehen, so muss man es zunächst von zwei Seiten her betrachten. Aus den vorigen Erdenleben bringt sich der Mensch die Fähigkeit mit, das Kosmische aus dem Erden-Umkreis und das im Erdenbereich wirkende vorzustellen. Er nimmt durch die Sinne das auf der Erde wirksame Kosmische wahr, und er denkt durch seine Denkorganisation das aus dem Erden-Umkreis auf die Erde hereinwirkende Kosmische.

So lebt er durch seinen physischen Leib im Wahrnehmen, durch seinen Ätherleib im Denken.

Das, was in seinem astralischen Leib und in seinem Ich vor sich geht, waltet in verborgeneren Regionen der Seele. Es waltet zum Beispiel im Schicksal. Aber man muss es zunächst nicht in den komplizierten Schicksalszusammenhängen, sondern in den elementarischen, einfachen Lebensvorgängen aufsuchen.

Der Mensch verbindet sich mit gewissen Erdenkräften, indem er seinen Organismus in diese Kräfte hineinorientiert. Er lernt aufrechtstehen und gehen, er lernt mit seinen Armen und Händen sich in das Gleichgewicht der irdischen Kräfte hineinstellen.

Nun sind diese Kräfte keine solchen, die vom Kosmos hereinwirken, sondern die bloß irdisch sind.

In Wirklichkeit ist nichts eine Abstraktion, das der Mensch erlebt. Er durchschaut nur nicht, woher das Erlebnis kommt, und so bildet er aus Ideen über Wirklichkeiten Abstraktionen. Der Mensch redet von der mechanischen Gesetzmäßigkeit. Er glaubt, sie aus den Naturzusammenhängen heraus abstrahiert zu haben. Das ist aber nicht der Fall, sondern alles, was der Mensch an rein mechanischen Gesetzen in der Seele erlebt, ist an seinem Orientierungsverhältnis zur Erdenwelt (an seinem Stehen, Gehen usw.) innerlich erfahren.

Damit aber kennzeichnet sich das Mechanische als das rein Irdische. Denn das Naturgesetzmäßige, in Farbe, Ton und so weiter ist im Irdischen aus dem Kosmos zugeflossen. Erst im Erdenbereich wird auch dem Naturgesetzmäßigen das Mechanische eingepflanzt, wie ihm der Mensch mit seinem eigenen Erleben erst im Erdenbereich gegenübersteht.

Das weitaus meiste dessen, was heute durch die Technik in der Kultur wirkt und in das er mit seinem Leben im höchsten Grade versponnen ist, das ist nicht Natur, sondern Unter-Natur. Es ist eine Welt, die sich nach unten hin von der Natur emanzipiert.

Man sehe, wie der Orientale, wenn er nach dem Geiste strebt, herauszukommen sucht aus den Gleichgewichtszuständen, die bloß vom Irdischen kommen. Er nimmt eine Meditationsstellung an, die ihn in das bloße kosmische Gleichgewicht hineinbringt. Die Erde wirkt dann nicht mehr auf die Orientierung seines Organismus. (Dies sei nicht zur Nachahmung, sondern nur zur Verdeutlichung des hier Vorgebrachten gesagt. Wer meine Schriften kennt, weiß, wie sich in dieser Richtung östliches und westliches Geistesleben unterscheiden.)

Der Mensch brauchte die Beziehung zu dem bloß Irdischen für seine Bewusstseinsseelenentwicklung. Da kam denn in der neuesten Zeit die Tendenz zustande, überall auch im Tun das zu verwirklichen, in das sich der Mensch einleben muss. Er trifft, indem er sich in das bloß Irdische einlebt, das Ahrimanische. Er muss sich mit seinem eigenen Wesen in das rechte Verhältnis zu diesem Ahrimanischen bringen.

Aber es entzieht sich ihm in dem bisherigen Verlauf des technischen Zeitalters noch die Möglichkeit, auch gegenüber der ahrimanischen Kultur das rechte Verhältnis zu finden. Der Mensch muss die Stärke, die innere Erkenntniskraft finden, um von Ahriman in der technischen Kultur nicht überwältigt zu werden. Die Unter-Natur muss als solche begriffen werden. Sie kann es nur, wenn der Mensch in der geistigen Erkenntnis mindestens gerade so weit hinaufsteigt zur außerirdischen Über-Natur, wie er in der Technik in die Unter-Natur heruntergestiegen ist. Das Zeitalter braucht eine über die Natur gehende Erkenntnis, weil es innerlich mit einem gefährlich wirkenden Lebensinhalt fertig werden muss, der unter die Natur heruntergesunken ist. Es soll hier natürlich nicht etwa davon gesprochen werden, dass man zu früheren Kulturzuständen wieder zurückkehren soll, sondern davon, dass der Mensch den Weg finde, die neuen Kulturverhältnisse in ein rechtes Verhältnis zu sich und zum Kosmos zu bringen.

Heute fühlen noch die wenigsten, welch bedeutsamen geistigen Aufgaben sich da für den Menschen herausbilden. Die Elektrizität, die nach ihrer Entdeckung als die Seele des natürlichen Daseins gepriesen wurde, sie muss erkannt werden in ihrer Kraft, von der Natur in die Unter-Natur hinabzuleiten. Es darf der Mensch nur nicht mitgleiten.

In der Zeit, in der es eine von der eigentlichen Natur unabhängige Technik noch nicht gab, fand der Mensch den Geist in der Naturanschauung. Die sich unabhängig machende Technik ließ den Menschen auf das Mechanistisch-Materielle als das für ihn nun wissenschaftlich werdende hinstarren. In diesem ist nun alles Göttlich-Geistige, das mit dem Ursprünge der Menschheitsentwicklung zusammenhängt, abwesend. Das rein Ahrimanische beherrscht die Sphäre.

In einer Geistwissenschaft wird nun die andere Sphäre geschaffen, in der ein Ahrimanisches gar nicht vorhanden ist. Und gerade durch das erkennende Aufnehmen derjenigen Geistigkeit, zu der die ahrimanischen Mächte keinen Zutritt haben, wird der Mensch gestärkt, um in der Welt Ahriman gegenüberzutreten.

Goetheanum, März 1925.

Leitsätze Nr. 183 bis 185 (12. April 1925)

(Mit Bezug auf die vorangehenden Betrachtungen über Natur und Unter-Natur)

183. Im naturwissenschaftlichen Zeitalter, das um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts beginnt, gleitet die Kulturbetätigung der Menschen allmählich nicht nur in die untersten Gebiete der Natur, sondern unter die Natur hinunter. Die Technik wird Unter-Natur.

184. Das erfordert, dass der Mensch erlebend eine Geist-Erkenntnis finde, in der er sich eben so hoch in die Über-Natur erhebt, wie er mit der unternatürlichen technischen Betätigung unter die Natur hinuntersinkt. Er schafft dadurch in seinem Innern die Kraft, nicht unterzusinken.

185. Eine frühere Naturanschauung barg noch den Geist in sich, mit dem der Ursprung der menschlichen Entwicklung verbunden ist; allmählich ist dieser Geist aus der Naturanschauung geschwunden und der rein ahrimanische ist in sie eingezogen und von ihr in die technische Kultur übergeflossen.

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