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Inhalt

1. 1861-1872. Kraljevec, Mödling, Pottschach, Neudörfl. Kindheit.

2. 1872-1879. Wiener-Neustadt. Geometrie. Realschule. Lehrer.

3. 1879-1882. Wien, Inzersdorf. Technische Hochschule Wien, Schröer, Felix Kogutzki. Theorie des Raums, der Wärme.

4. 1882-1886. Wien. Theorie des Tons. Musik, Wagnerianer.

5. 1882-1886. Wien. Nationalitäten in Österreich. Schröer. Objektiver Idealismus. Goethe.

6. 1882-1886. Wien und Attersee. Privaterzieher. Eduard von Hartmann. Goethe-Herausgabe. Grundlinien einer Erkenntnistheorie.

7. 1886-1889. Wien. Wiener Thomisten, Sinnetts Esoterischer Buddhismus.

8. 1886-1889. Wien. Hamerlings Homunculus. Idealismus, Ästhetik.

9. 1889-1890. Weimar, Berlin, München, Wien.

10. Um 1890. Philosophie der Freiheit.

11. Um 1890. Wahre und falsche Mystik.

12. Um 1890. Goethe-Herausgabe.

13. 1890, Wien. Nietzsche. Hamerling, Antisemitismus, Breuer, Freud, Psychoanalyse.

14. 1890, Rostock, Weimar. Dissertation, Heinrich von Stein, Platonismus, Goethe-Schiller-Archiv.

15. 1890-1894, Weimar. Haeckel, Treitschke.

16. 1890-1894, Weimar.

17. 1892-1894. Philosophie der Freiheit.

18. 1894-1896, Weimar. Nietzsche-Buch, Eugen Dühring.

19. 1894-1896, Weimar.

20. 1894-1896, Weimar.

21. 1894-1897, Weimar.

22. 1897, Weimar, 35. Lebensjahr.

23. Weimar, Berlin.

24. 1897-1899, Berlin: Muss man verstummen?

25. Berlin.

26. Berlin. Prüfungskapitel.

27. Berlin. Jahrhundertwende, Stirner, Mackay.

28. Berlin. Arbeiterbildungsschule.

29. Berlin. Jacobowski, Die Kommenden, Bruno Wille, Giodano-Bruno-Bund, Beginn der anthroposophischen Tätigkeit, Geheimhaltung und Veröffentlichung der Esoterik.

30. 1899-1902, Berlin. Goethes geheime Offenbarung, Theosophische Bibliothek, Von Buddha zu Christus, Das Christentum als mystische Tatsache, Marie von Sivers.

31. 1900-1913, Berlin. Berliner Literaten. Egoismus. Theosophische Gesellschaft, Deutsche Sektion Ausschluss 1913, Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft.

32. Berlin. Öffentliches Wirken für die Anthroposophie.

33. Berlin. Vortragstätigkeit.

34. Berlin. Kunst, Geisterkenntnis.

35. Bücher, Privatdrucke, Zyklen.

36. Memphis-Misraim Maurerei.

37. Theosophischer Kongress Paris 1906.

38. Berlin, München, Münchner Kongress 1907.


Die Kapitelüberschriften stammen vom Webmaster.

13. Kapitel. 1890

Gerade in dieser Zeit war mein äußeres Leben ein durchaus geselliges. Mit den alten Freunden kam ich viel zusammen. So wenig ich die Möglichkeit hatte, von den Dingen zu sprechen, die ich hier andeutete, so intensiv waren aber doch die geistigen und seelischen Bande, die mich an die Freunde knüpften. Ich muss oft zurückdenken an die zum Teil endlosen Gespräche, die damals in einem bekannten Kaffeehause am Michaelerplatz in Wien geführt wurden. Ich musste es besonders in der Zeit, in der nach dem Weltkriege das alte Österreich zersplitterte. Denn die Bedingungen dieser Zersplitterung waren damals durchaus schon vorhanden. Aber keiner wollte es sich gestehen. Ein jeder hatte Heilmittel-Gedanken, je nach seinen besonderen nationalen oder kulturellen Neigungen. Und wenn Ideale, die in aufgehenden Strömungen leben, erhebend sind, so sind es solche, die aus dem Niedergange erwachsen und die ihn abhalten möchten, in ihrer Tragik nicht minder. Solche tragischen Ideale wirkten damals in den Gemütern der besten Wiener und Österreicher.

Ich erregte oft Missstimmung bei diesen Idealisten, wenn ich eine Überzeugung äußerte, die sich mir durch meine Hingabe an die Goethe-Zeit aufgedrängt hatte. Ich sagte, in dieser Zeit war ein Höhepunkt der abendländischen Kulturentwickelung erreicht. Nachher wurde er nicht festgehalten. Das naturwissenschaftliche Zeitalter mit seinen Folgen für das Menschen- und Volksleben bedeutet einen Niedergang. Zu einem weiteren Fortschritte bedürfe es eines ganz neuen Einschlages von der geistigen Seite her. Es lässt sich in den Bahnen, die bisher im Geistigen eingeschlagen worden sind, nicht fortgehen, ohne zurückzukommen. Goethe ist eine Höhe, aber auf derselben nicht ein Anfang, sondern ein Ende. Er zieht die Folgen aus einer Entwickelung, die bis zu ihm geht, in ihm ihre vollste Ausgestaltung findet, die aber nicht weiter fortgesetzt werden kann, ohne zu viel ursprünglicheren Quellen des geistigen Erlebens zu gehen, als sie in dieser Entwickelung enthalten sind.

In dieser Stimmung schrieb ich an dem letzten Teile meiner Goethe-Darstellungen.

In dieser Stimmung lernte ich Nietzsches Schriften zuerst kennen. «Jenseits von Gut und Böse» war das erste Buch, das ich von ihm las. Ich war auch von dieser Betrachtungsart zugleich gefesselt und wieder zurückgestoßen. Ich konnte schwer mit Nietzsche zurecht kommen. Ich liebte seinen Stil, ich liebte seine Kühnheit; ich liebte aber durchaus die Art nicht, wie Nietzsche über die tiefsten Probleme sprach, ohne im geistigen Erleben mit der Seele bewusst in sie unterzutauchen. Nur kam mir wieder vor, wie wenn er viele Dinge sagte, die mir selbst im geistigen Erleben unermesslich nahe standen. Und so fühlte ich mich seinem Kämpfen nahe und empfand, ich müsse einen Ausdruck für dieses Nahestehen finden. Wie einer der tragischsten Menschen der damaligen Gegenwart erschien mir Nietzsche. Und diese Tragik, glaubte ich, müsse sich der tiefer angelegten Menschenseele aus dem Charakter der geistigen Verfassung des naturwissenschaftlichen Zeitalters ergeben. Mit solchen Empfindungen verlebte ich meine letzten Wiener Jahre.

Vor dem Ende meines ersten Lebensabschnittes konnte ich auch noch Budapest und Siebenbürgen besuchen. Der früher erwähnte, aus Siebenbürgen stammende Freund, der all die Jahre her mit seltener Treue mir verbunden geblieben war, hatte mich mit mehreren seiner in Wien weilenden Landesgenossen bekannt gemacht. Und so hatte ich denn außer dem andern sehr ausgebreiteten geselligen Verkehr auch einen solchen mit Siebenbürgern. Unter diesen waren Herr und Frau Breitenstein, die mir damals befreundet wurden und die es in herzlichster Weise geblieben sind. Sie haben seit langem eine führende Stellung in der Wiener Anthroposophischen Gesellschaft. Der menschliche Zusammenhang mit Siebenbürgern führte mich zu einer Reise nach Budapest. Die Hauptstadt Ungarns, mit ihrem von dem Wiens so ganz verschiedenen Charakter, machte mir einen tiefen Eindruck. Man gelangt ja von Wien aus auf einer Reise dahin, die ganz in anmutvollster Natur, temperamentvollstem Menschentum und musikalischer Regsamkeit erglänzt. Man hat da, wenn man zum Fenster des Eisenbahnzuges hinaussieht, den Eindruck, dass die Natur selbst in einer besonderen Art poetisch wird, und dass die Menschen, gar nicht viel achtend der ihnen gewohnten poetischen Natur, sich in derselben nach einer oft tiefinnerlichen Herzensmusik herumtummeln. Und betritt man Budapest, so spricht eine Welt, die von den Angehörigen der anderen europäischen Volkstümer zwar mit dem höchsten Anteil angeschaut, die aber nie völlig verstanden werden kann. Ein dunkler Untergrund, über dem ein in Farben spielendes Licht glänzt. Mir erschien dieses Wesen wie in Eins für den Blick zusammengedrängt, als ich vor dem Franz Deak-Monument stand. In diesem Kopfe des Schöpfers jenes Ungarns, das vom Jahre 1867 bis 1918 bestand, lebte ein derb-stolzer Wille, der herzhaft zugreift, der sich ohne Schlauheit, aber mit elementarischer Rücksichtslosigkeit durchsetzt. Ich fühlte, wie subjektiv wahr für jeden echten Ungarn der von mir oft gehörte Wahlspruch ist: «Außer Ungarn gibt es kein Leben; und wenn es eines gibt, so ist es kein solches.»

Als Kind hatte ich an Ungarns westlicher Grenze gesehen, wie Deutsche diesen derb-stolzen Willen zu fühlen hatten; jetzt lernte ich in Ungarns Mitte kennen, wie dieser Wille den magyarischen Menschen in eine menschliche Abgeschlossenheit bringt, die mit einer gewissen Naivität sich in einen ihr selbstverständlichen Glanz kleidet, der viel daran liegt, sich den verborgenen Augen der Natur, nicht aber den offenen des Menschen zu zeigen.

Ein halbes Jahr nach diesem Besuche veranlassten die Siebenbürger Freunde, dass ich in Hermannstadt einen Vortrag halten konnte. Es war Weihnachtszeit. Ich fuhr über die weiten Flächen, in deren Mitte Arad liegt. Lenaus sehnsuchtgetragene Poesien klangen in mein Herz herein, als meine Augen über diese Flächen sahen, an denen alles Weite ist, die dem hinschweifenden Blick keine Grenze setzt. Ich musste in einem Grenznest zwischen Ungarn und Siebenbürgen übernachten. Ich saß in einer Gaststube die halbe Nacht. Außer mir war nur noch ein Tisch mit Kartenspielern. Da waren alle Nationalitäten beisammen, die in Ungarn und Siebenbürgen damals gefunden werden konnten. Menschen spielten da mit einer Leidenschaftlichkeit, die in Zeiten von einer halben Stunde sich immer überschlug, so dass sie wie in Seelenwolken sich auslebte, die sich über den Tisch erhoben, sich wie Dämonen bekämpften und die Menschen vollständig verschlangen. Welche Verschiedenheit im Leidenschaftlich-Sein offenbarte sich da bei diesen verschiedenen Nationen!

Am Weihnachtstage kam ich nach Hermannstadt. Ich wurde in das Siebenbürger Sachsentum eingeführt. Das lebte da innerhalb des Rumänischen und Magyarischen. Ein edles Volkstum, das im Untergange, den es nicht sehen möchte, sich wacker bewahren möchte. Ein Deutschtum, das wie eine Erinnerung an sein Leben vor Jahrhunderten in den Osten verschlagen, seiner Quelle die Treue bewahren möchte, das aber in dieser Seelenverfassung einen Zug von Weltfremdheit hat, die eine anerzogene Freudigkeit überall im Leben offenbart. Ich verlebte schöne Tage unter den deutschen Geistlichen der evangelischen Kirche, unter den Lehrern der deutschen Schulen, unter andern deutschen Siebenbürgern. Mir wurde das Herz warm unter diesen Menschen, die in der Sorge um ihr Volkstum und in dessen Pflege eine Kultur des Herzens entwickelten, die auch vor allem zum Herzen sprach.

Es lebte in meiner Seele diese Wärme, als ich mit den alten und neugewonnenen Freunden in dicke Pelze gehüllt durch eisige Kälte und knisternden Schnee eine Schlittenfahrt südwärts nach den Karpaten (den transsylvanischen Alpen) machte. Eine schwarze, waldige Bergwand, wenn man sich von der Ferne hinbewegt; eine wild zerklüftete, oft schauerlich stimmende Berglandschaft, wenn man da ist.

Den Mittelpunkt in all dem, was ich da erlebte, bildete mein langjähriger Freund. Er dachte immer neue Dinge aus, durch die ich das Siebenbürger Sachsentum genau kennen lernen sollte. Er verbrachte auch jetzt noch immer einige Zeit in Wien, einige in Hermannstadt. Er hatte damals ein Wochenblatt in Hermannstadt für die Pflege des Siebenbürger Sachsentums begründet. Ein Unternehmen, das ganz aus Idealismus und aus keinem Milligramm Praxis bestand, an dem aber doch fast alle Träger des Sachsentums mitarbeiteten. Es ging nach wenigen Wochen wieder ein.

Solche Erlebnisse wie diese Reisen wurden mir vom Schicksal zugetragen; und ich konnte mir durch sie den Blick für die Außenwelt anerziehen, der mir nicht leicht geworden ist, während ich in dem geistigen Element mit einer gewissen Selbstverständlichkeit lebte.

In wehmütigen Erinnerungen machte ich die Reise zurück nach Wien. Da kam mir bald ein Buch in die Hand, von dessen «Geistesreichtum» damals die weitesten Kreise sprachen: «Rembrandt als Erzieher». In Gesprächen über dieses Buch, die damals überall sich entwickelten, wo man hinkam, konnte man von einem Aufkommen eines ganz neuen Geistes hören. Ich musste gerade an dieser Erscheinung wahrnehmen, wie einsam ich mit meiner Seelenverfassung in dem damaligen Geistesleben stand.

Ich empfand von einem Buche, das von aller Welt auf das höchste gepriesen wurde, so: es kam mir vor, als wenn jemand sich durch einige Monate jeden Abend in einem besseren Gasthause an einen Tisch gesetzt und zugehört hätte, was die «hervorragenderen» Persönlichkeiten an den Stammtischen an «geistvollen» Aussprüchen machten, und dann dies in aphoristischer Form aufgezeichnet hätte. Nach dieser fortlaufenden «Vorarbeit» könnte er die Zettel mit den Aussprüchen in ein Gefäß geworfen, kräftig durcheinander geschüttelt und dann wieder herausgenommen haben. Nach der Herausnahme hätte er dann das eine an das andere gefügt und so ein Buch entstehen lassen. Natürlich ist diese Kritik übertrieben. Aber mich drängte eben meine Lebensauffassung zu solcher Ablehnung dessen, was der damalige «Geist der Zeit» als eine Höchstleistung pries. Ich empfand «Rembrandt als Erzieher» als ein Buch, das sich ganz auf der Oberfläche sich geistreich gebärdender Gedanken hielt und das in keinem Satze mit den wahren Tiefen einer menschlichen Seele zusammenhing. Ich fühlte es schmerzlich, dass meine Zeitgenossen gerade ein solches Buch für den Ausfluss einer tiefen Persönlichkeit hielten, während ich meinen musste, dass mit solchem Gedankenplätschern in seichten Geist-Gewässern alles Tief-Menschliche aus den Seelen herausgetrieben wird.

Als ich vierzehn Jahre alt war, musste ich damit beginnen, Privatunterricht zu geben; fünfzehn Jahre lang, bis zum Beginne meines zweiten in Weimar verbrachten Lebensabschnittes, hielt mich das Schicksal in dieser Betätigung fest Die Entfaltung der Seelen vieler Menschen im kindlichen und Jugendalter verband sich da mit meiner eigenen Entwickelung. Ich habe dabei beobachten können, wie verschieden das Hineinwachsen in das Leben beim männlichen und weiblichen Geschlechte ist. Denn neben der Erteilung von Unterricht an Knaben und junge Männer fiel mir auch der an eine Anzahl junger Mädchen zu. Ja, eine Zeitlang wurde auch die Mutter des Knaben, dessen Erziehung wegen seines pathologischen Zustandes ich übernommen hatte, meine Schülerin in der Geometrie; zu einer andern Zeit trug ich dieser Frau und deren Schwester Ästhetik vor.

In der Familie dieses Knaben habe ich durch mehrere Jahre eine Art von Heim gefunden, von dem aus ich bei anderen Familien der Erzieher- und Unterrichtstätigkeit oblag. Durch das freundschaftlich nahe Verhältnis zu der Mutter dieses Knaben kam es so, dass ich Freuden und Leiden dieser Familie völlig mitmachte. Mir stand in dieser Frau eine eigenartig schöne Menschenseele gegenüber. Ganz hingegeben war sie der Sorge um die Schicksalsentwickelung ihrer vier Knaben. Man konnte an ihr geradezu den großen Stil der Mutterliebe studieren. In Erziehungsfragen mit ihr zusammen arbeiten, bildete einen schönen Lebensinhalt. Für den musikalischen Teil des Künstlerischen hatte sie Anlage und Begeisterung. Die Musikübungen mit ihren Knaben besorgte sie, solange diese klein waren, zum Teile selbst. Mit mir unterhielt sie sich über die mannigfaltigsten Lebensprobleme verständnisvoll und mit dem tiefsten Interesse auf alles eingehend. Meinen wissenschaftlichen und sonstigen Arbeiten brachte sie die größte Aufmerksamkeit entgegen. Es war eine Zeit, wo ich das tiefste Bedürfnis hatte, alles, was mir nahe ging, mit ihr zu besprechen. Wenn ich von meinen geistigen Erlebnissen sprach, da hörte sie in einer eigentümlichen Art zu. Ihrem Verstande waren die Dinge zwar sympathisch, aber er behielt einen leisen Zug von Zurückhaltung; ihre Seele aber nahm alles auf. Sie behielt dabei dem Menschenwesen gegenüber eine gewisse naturalistische Anschauung. Die moralische Seelenverfassung dachte sie ganz in Zusammenhang mit der gesunden oder kranken Körperkonstitution. Ich möchte sagen, sie dachte instinktiv über den Menschen medizinisch, wobei dieses eben einen naturalistischen Einschlag hatte. Sich in dieser Richtung mit ihr zu unterhalten, war im höchsten Maße anregend. Dabei stand sie allem äußeren Leben wie eine Frau gegenüber, die das ihr Zufallende mit dem stärksten Pflichtgefühle besorgte, aber das meiste doch innerlich nicht als zu ihrer Sphäre gehörig betrachtete. Sie sah ihr Schicksal in vieler Beziehung als etwas Belastendes an. Aber sie forderte auch nichts vom Leben; sie nahm dieses hin, wie es sich gestaltete, sofern es nicht ihre Söhne betraf. Diesen gegenüber erlebte sie alles mit den stärksten Emotionen ihrer Seele.

All dieses, das Seelenleben einer Frau, deren schönste Hingabe an ihre Söhne, das Leben der Familie innerhalb eines weiten Verwandten- und Bekanntenkreises lebte ich mit. Aber dabei ging es nicht ohne Schwierigkeit ab. Die Familie war eine jüdische. Sie war in den Anschauungen völlig frei von jeder konfessionellen und Rassenbeschränktheit. Aber es war bei dem Hausherrn, dem ich sehr zugetan war, eine gewisse Empfindlichkeit vorhanden gegen alle Äußerungen, die von einem Nicht-Juden über Juden getan wurden. Der damals aufflammende Antisemitismus harte das bewirkt.

Nun nahm ich damals an den Kämpfen lebhaften Anteil, welche die Deutschen in Österreich um ihre nationale Existenz führten.

Ich wurde dazu geführt, mich auch mit der geschichtlichen und sozialen Stellung des Judentums zu beschäftigen. Besonders intensiv wurde diese Beschäftigung, als Hamerlings «Homunculus» erschienen war. Dieser eminent deutsche Dichter wurde wegen dieses Werkes von einem großen Teil der Journalistik als Antisemit hingestellt, ja auch von den deutschnationalen Antisemiten als einer der ihrigen in Anspruch genommen.

Mich berührte das alles wenig; aber ich schrieb einen Aufsatz über den «Homunculus», in dem ich mich, wie ich glaubte, ganz objektiv über die Stellung des Judentums aussprach.

Der Mann, in dessen Hause ich lebte, mit dem ich befreundet war, nahm dies als eine besondere Art des Antisemitismus auf. Nicht im geringsten haben seine freundschaftlichen Gefühle für mich darunter gelitten, wohl aber wurde er von einem tiefen Schmerze befallen. Als er den Aufsatz gelesen hatte, stand er mir gegenüber, ganz von innerstem Leid durchwühlt, und sagte mir: ‹Was Sie da über die Juden schreiben, kann gar nicht in einem freundlichen Sinne gedeutet werden; aber das ist es nicht, was mich erfüllt, sondern dass Sie bei dem nahen Verhältnis zu uns und unseren Freunden die Erfahrungen, die Sie veranlassen, so zu schreiben, nur an uns gemacht haben können.»

Der Mann irrte; denn ich hatte ganz aus der geistig-historischen Überschau heraus geurteilt; nichts Persönliches war in mein Urteil eingeflossen. Er konnte das nicht so sehen. Er machte, auf meine Erklärungen hin, die Bemerkung: «Nein, der Mann, der meine Kinder erzieht, ist, nach diesem Aufsatze, kein ‹Judenfreund›.» Davon war er nicht abzubringen. Er dachte keinen Augenblick daran, dass sich an meinem Verhältnis zu der Familie etwas ändern solle. Das sah er als eine Notwendigkeit an. Ich konnte noch weniger die Sache zum Anlass einer Änderung nehmen. Denn ich betrachtete die Erziehung seines Sohnes als eine Aufgabe, die mir vom Schicksal zugefallen war. Aber wir konnten beide nicht anders als denken, dass sich in dieses Verhältnis ein tragischer Einschlag gemischt hatte.

Es kam zu alledem dazu, dass viele meiner Freunde aus den damaligen nationalen Kämpfen heraus in ihrer Auffassung des Judentums eine antisemitische Nuance angenommen hatten. Die sahen meine Stellung in einem jüdischen Hause nicht mit Sympathie an; und der Herr dieses Hauses fand in meinem freundschaftlichen Umgange mit solchen Persönlichkeiten nur eine Bestätigung der Eindrücke, die er von meinem Aufsatze empfangen hatte.

Dem Familienzusammenhang, in dem ich so darinnen stand, gehörte der Komponist des «Goldenen Kreuzes», Ignaz Brüll, an. Eine feinsinnige Persönlichkeit, die ich außerordentlich lieb hatte. Ignaz Brüll hatte etwas Weltfremdes, in sich Versunkenes. Seine Interessen waren nicht ausschließlich musikalisch; sie waren vielen Seiten des geistigen Lebens zugewandt. Er konnte diese Interessen nur als ein «Glückskind» des Schicksals ausleben, auf dem Hintergrunde eines Familienzusammenhanges, der ihn von den Sorgen der Alltäglichkeit gar nicht berühren ließ, der sein Schaffen aus einem gewissen Wohlstande herauswachsen ließ. Und so wuchs er nicht in das Leben, sondern nur in die Musik hinein. Wie wertvoll oder nicht wertvoll sein musikalisches Schaffen war, davon braucht hier nicht die Rede zu sein. Aber es war im schönsten Sinne reizvoll, dem Manne auf der Straße zu begegnen, und ihn aus seiner Welt von Tönen erwachen zu sehen, wenn man ihn anredete. Er hatte auch gewöhnlich die Westenknöpfe nicht in die rechten Knopflöcher eingeknöpft. Sein Auge sprach in milder Sinnigkeit, sein Gang war nicht fest, aber ausdrucksvoll. Man konnte mit ihm über vieles sprechen; er harte dafür ein zartes Verstehen; aber man sah, wie der Inhalt des Gespräches sogleich bei ihm in das Reich des Musikalischen hineinschlüpfte.

In der Familie, in der ich so lebte, lernte ich auch den ausgezeichneten Arzt kennen, Dr. Breuer, der mit Dr. Freud zusammen bei der Geburt der Psychoanalyse stand. Er hatte aber nur im Anfange diese Anschauungsart mitgemacht, und war wohl mit deren späterer Ausbildung durch Freud nicht einverstanden. Dr. Breuer war für mich eine anziehende Persönlichkeit. Die Art, wie er im ärztlichen Berufe drinnen stand, bewunderte ich. Dabei war er auch in andern Gebieten ein vielseitig interessierter Geist. Er sprach über Shakespeare so, dass man die stärkste Anregung davon empfing. Es war auch interessant, ihn mit seiner durch und durch medizinischen Denkungsart über Ibsen oder gar über Tolstois «Kreuzersonate» sprechen zu hören. Wenn er mit meiner hier geschilderten Freundin, der Mutter der von mir zu erziehenden Kinder, über solche Dinge sprach, war ich oft mit dem stärksten Interesse dabei. Die Psychoanalyse war damals noch nicht geboren; aber die Probleme, die nach dieser Richtung hinzielten, waren schon da. Die hypnotischen Erscheinungen hatten dem medizinischen Denken eine besondere Färbung gegeben. Meine Freundin war mit Dr. Breuer von Jugend an befreundet. Vor mir steht da eine Tatsache, die mir viel zu denken gegeben hat. Diese Frau dachte in einer gewissen Richtung noch medizinischer als der so bedeutende Arzt. Es handelte sich einmal um einen Morphinisten. Dr. Breuer behandelte ihn. Die Frau sagte mir einmal das Folgende: «Denken Sie sich, was Breuer getan hat. Er hat sich von dem Morphinisten auf Ehrenwort versprechen lassen, dass er kein Morphium mehr nehmen werde. Er glaubte damit etwas zu erreichen; und er war entrüstet, als der Patient sein Wort nicht hielt. Er sagte sogar: wie kann ich jemand behandeln, der sein Wort nicht hält. Sollte man glauben - so sagte sie -, dass ein so ausgezeichneter Arzt so naiv sein könne. Wie kann man etwas ‹in der Natur› so tief Begründetes durch ein Versprechen heilen wollen?» - Die Frau braucht doch nicht ganz recht gehabt zu haben; des Arztes Ansichten über Suggestionstherapie können da zu seinem Heilungsversuche mitgewirkt haben; aber man wird nicht in Abrede stellen können, dass der Ausspruch meiner Freundin von der außerordentlichen Energie spricht, mit der sie in merkwürdiger Art aus dem Geiste heraus sprach, der in der Wiener medizinischen Schule lebte gerade zu der Zeit, in der diese Schule blühte.

Diese Frau war in ihrer Art bedeutend; und sie steht als bedeutende Erscheinung in meinem Leben darinnen. Sie ist nun schon lange tot; unter die Dinge, die mir den Fortgang von Wien schwer machten, gehört auch dies, dass ich mich von ihr trennen musste.

Wenn ich auf den Inhalt meines ersten Lebensabschnittes rückschauend hinblicke, so drängt sich mir, indem ich ihn wie von außen zu charakterisieren versuche, die Empfindung auf: das Schicksal hatte mich so geführt, dass ich mich in meinem dreißigsten Lebensjahre von keinem äußeren «Berufe» umklammert sah. Ich trat auch in das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar nicht für eine Lebensstellung ein, sondern als ein freier Mitarbeiter an der Goethe-Ausgabe, die im Auftrage der Großherzogin Sophie von dem Archiv herausgegeben wurde. In dem Bericht, den der Direktor des Archivs im zwölften Bande des Goethe-Jahrbuchs abdrucken ließ, steht: «Den ständigen Arbeitern hat sich seit dem Herbst 1890 Rudolf Steiner aus Wien zugesellt. Ihm ist (mit Ausnahme der osteologischen Partie) das gesamte Gebiet der ‹Morphologie› zugeteilt, fünf oder voraussichtlich sechs Bände der ‹zweiten Abteilung›, denen aus dem handschriftlichen Nachlas ein hochwichtiges Material zufließt.»

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