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Inhalt

1. 1861-1872. Kraljevec, Mödling, Pottschach, Neudörfl. Kindheit.

2. 1872-1879. Wiener-Neustadt. Geometrie. Realschule. Lehrer.

3. 1879-1882. Wien, Inzersdorf. Technische Hochschule Wien, Schröer, Felix Kogutzki. Theorie des Raums, der Wärme.

4. 1882-1886. Wien. Theorie des Tons. Musik, Wagnerianer.

5. 1882-1886. Wien. Nationalitäten in Österreich. Schröer. Objektiver Idealismus. Goethe.

6. 1882-1886. Wien und Attersee. Privaterzieher. Eduard von Hartmann. Goethe-Herausgabe. Grundlinien einer Erkenntnistheorie.

7. 1886-1889. Wien. Wiener Thomisten, Sinnetts Esoterischer Buddhismus.

8. 1886-1889. Wien. Hamerlings Homunculus. Idealismus, Ästhetik.

9. 1889-1890. Weimar, Berlin, München, Wien.

10. Um 1890. Philosophie der Freiheit.

11. Um 1890. Wahre und falsche Mystik.

12. Um 1890. Goethe-Herausgabe.

13. 1890, Wien. Nietzsche. Hamerling, Antisemitismus, Breuer, Freud, Psychoanalyse.

14. 1890, Rostock, Weimar. Dissertation, Heinrich von Stein, Platonismus, Goethe-Schiller-Archiv.

15. 1890-1894, Weimar. Haeckel, Treitschke.

16. 1890-1894, Weimar.

17. 1892-1894. Philosophie der Freiheit.

18. 1894-1896, Weimar. Nietzsche-Buch, Eugen Dühring.

19. 1894-1896, Weimar.

20. 1894-1896, Weimar.

21. 1894-1897, Weimar.

22. 1897, Weimar, 35. Lebensjahr.

23. Weimar, Berlin.

24. 1897-1899, Berlin: Muss man verstummen?

25. Berlin.

26. Berlin. Prüfungskapitel.

27. Berlin. Jahrhundertwende, Stirner, Mackay.

28. Berlin. Arbeiterbildungsschule.

29. Berlin. Jacobowski, Die Kommenden, Bruno Wille, Giodano-Bruno-Bund, Beginn der anthroposophischen Tätigkeit, Geheimhaltung und Veröffentlichung der Esoterik.

30. 1899-1902, Berlin. Goethes geheime Offenbarung, Theosophische Bibliothek, Von Buddha zu Christus, Das Christentum als mystische Tatsache, Marie von Sivers.

31. 1900-1913, Berlin. Berliner Literaten. Egoismus. Theosophische Gesellschaft, Deutsche Sektion Ausschluss 1913, Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft.

32. Berlin. Öffentliches Wirken für die Anthroposophie.

33. Berlin. Vortragstätigkeit.

34. Berlin. Kunst, Geisterkenntnis.

35. Bücher, Privatdrucke, Zyklen.

36. Memphis-Misraim Maurerei.

37. Theosophischer Kongress Paris 1906.

38. Berlin, München, Münchner Kongress 1907.


Die Kapitelüberschriften stammen vom Webmaster.

24. Kapitel. 1897-1899

Und die Frage wurde Erlebnis: muss man verstummen? Mit dieser Gestaltung meines Seelenlebens stand ich damals vor der Notwendigkeit, in meine äußere Wirksamkeit eine ganz neue Note hineinzubringen. Die Kräfte, die mein äußeres Schicksal bestimmten, konnten weiterhin nicht eine solche Einheit sein mit den inneren Richtlinien, die sich aus meinem Erleben der Geistwelt ergaben, wie bisher. 

Ich hatte schon seit längerer Zeit daran gedacht, in einer Zeitschrift die geistigen Impulse an die Zeitgenossenschaft heranzubringen, von denen ich meinte, dass sie in die damalige Öffentlichkeit getragen werden sollten. Ich wollte nicht «verstummen», sondern so viel sagen, als zu sagen möglich war.

Selbst eine Zeitschrift zu gründen, was damals etwas, woran ich nicht denken konnte. Die Geldmittel und die zu einer solchen Gründung notwendigen Verbindungen fehlten mir vollständig.

So ergriff ich denn die Gelegenheit, die sich mir ergab, die Herausgeberschaft des «Magazin für Literatur» zu erwerben.

Das war eine alte Wochenschrift. Im Todesjahr Goethes (1832) ist sie gegründet worden. Zunächst als «Magazin für Literatur des Auslandes». Sie brachte Übersetzungen dessen, was die Redaktion an ausländischen Geistesschöpfungen auf allen Gebieten für wertvoll hielt, um dem deutschen Geistesleben einverleibt zu werden.

Später verwandelte man die Wochenschrift in ein «Magazin für die Literatur des In- und Auslandes». Jetzt brachte sie Dichterisches, Charakterisierendes, Kritisches aus dem Gesamtgebiet des Geisteslebens. Innerhalb gewisser Grenzen konnte sie sich mit dieser Aufgabe gut halten. Ihre so geartete Wirksamkeit fiel in eine Zeit, in der im deutschen Sprachgebiete eine genügend große Anzahl von Persönlichkeiten vorhanden war, die jede Woche in kurz überschaulicher Weise das vor die Seele gerückt haben wollten, was auf geistigem Gebiete «vorging».

Als dann in den achtziger und neunziger Jahren in diese ruhig-gediegene Art, das Geistige mitzumachen, die neuen literarischen Zielsetzungen der jungen Generation traten, wurde das «Magazin» wohl bald in diese Bewegung mithineingerissen. Es wechselte ziemlich rasch seine Redakteure und bekam von diesen, die in den neuen Bewegungen in der einen oder der andern Art drinnen standen, seine jeweilige Färbung.

Als ich es 1897 erwerben konnte, stand es den Bestrebungen der jungen Literatur nahe, ohne sich in einen stärkeren Gegensatz zu versetzen gegen das, was außerhalb dieser Bestrebungen lag.

Aber jedenfalls war es nicht mehr in der Lage, sich allein durch das finanziell zu halten, was es inhaltlich war. So war es unter anderem das Organ der «Freien literarischen Gesellschaft» geworden. Das ergab zu der sonst nicht mehr ausreichenden Abonnentenzahl Einiges hinzu. Aber trotz alledem lag bei meiner Übernahme des «Magazin» die Sache so, dass man alle, auch die unsichern Abonnenten zusammennehmen musste, um gerade knapp noch einen Stand herauszubekommen, bei dem man sich halten konnte. Ich konnte die Zeitschrift nur übernehmen, wenn ich mir zugleich eine Tätigkeit auferlegte, die geeignet erschien, den Abonnentenkreis zu erhöhen.

Das war die Tätigkeit in der «Freien literarischen Gesellschaft». Ich musste den Inhalt der Zeitschrift so einrichten, dass diese Gesellschaft zu ihrem Rechte kam. Man suchte in der «Freien literarischen Gesellschaft» nach Menschen, die ein Interesse hatten für die Schöpfungen der jüngeren Generation. Der Hauptsitz dieser Gesellschaft war in Berlin, wo jüngere Literaten sie gegründet hatten. Sie hatte aber Zweige in vielen deutschen Städten. Allerdings stellte sich bald heraus dass manche dieser «Zweige» ein recht bescheidenes Dasein führten. Mir oblag nun in dieser Gesellschaft, Vorträge zu halten, um die Vermittlung mit dem Geistesleben, die durch das «Magazin» gegeben sein sollte, auch persönlich zum Ausdruck zu bringen.

Ich hatte somit für das «Magazin» einen Leserkreis, in dessen geistige Bedürfnisse ich mich hineinfinden musste. Ich hatte in der «Freien literarischen Gesellschaft» eine Mitgliederschaft, die ganz Bestimmtes erwartete, weil ihr bisher ganz Bestimmtes geboten worden war. Jedenfalls erwartete sie nicht das, was ich ihr aus dem Innersten meines Wesens heraus hätte geben mögen. Das Gepräge der «Freien literarischen Gesellschaft» war ja auch dadurch bestimmt, dass sie eine Art Gegenpol gegen die «Literarische Gesellschaft» bilden sollte, in der Persönlichkeiten wie z. B. Spielhagen tonangebend waren.

Es lag nun an meinem Drinnenstehen in der geistigen Welt, dass ich diese Verhältnisse, in die ich da eintrat, wirklich ganz innerlich mitmachte. Ich versuchte ganz, mich in meinen Leserkreis und in den Mitgliederkreis der «Gesellschaft» zu versetzen, um aus der Geistesart dieser Menschen die Formen zu finden, in die ich zu gießen hatte, was ich geistig geben wollte.

Ich kann nicht sagen, dass ich mich beim Beginn dieser Wirksamkeit Illusionen hingegeben hätte, die mir nach und nach zerstört worden wären. Aber gerade das Wirken aus Leser- und Zuhörerkreis heraus, das mir angemessen war, stieß auf immer größere Widerstände.

Es war mit keinem ernsten, durchgreifenden Geistes-Zug bei dem Menschenkreis zu rechnen, den das «Magazin» um sich gesammelt hatte, bevor ich es übernommen hatte. Die Interessen dieses Kreises waren nur bei Wenigen tiefgreifend. Und auch bei den Wenigen lagen nicht starke Kräfte des Geistes zugrunde, sondern mehr ein allgemeines Wollen, das in allerlei künstlerischen und sonstigen geistigen Formen sich ausleben wollte.

Und so trat denn an mich bald die Frage heran, ob ich es vor meinem Innern und vor der geistigen Welt verantworten konnte, in diesem Kreise zu wirken. Denn wenn mir auch viele Persönlichkeiten, die da in Betracht kamen, sehr lieb waren, wenn ich auch freundschaftlich mich ihnen verbunden fühlte, so gehörten auch sie dem, was in mir lebte, gegenüber doch zu denen, die zu der Frage führten: «Muss man verstummen?»

Dazu kam ein Anderes. Von einer großen Anzahl von Menschen, die mir bisher freundschaftlich nahe standen, durfte ich, nach ihrem Verhalten zu mir, die Empfindung haben, sie gehen zwar in ihrem eigenen Seelenleben nicht sehr weit mit dem meinigen mit; aber sie setzen etwas in mir voraus, das mein Tun auf dem Erkenntnisgebiet und in mancherlei Lebensverhältnissen ihnen wertvoll erscheinen ließ. Sie stellten sich so oft ungeprüft, nach ihren Erlebnissen mit mir, zu meinem Dasein.

Die bisherige Herausgeberschaft des «Magazin» empfand nicht so. Sie sagte sich, trotz mancher Züge von Lebenspraxis in ihm ist der Steiner doch eben «Idealist». Und da der Verkauf des «Magazin» so bewirkt wurde, dass im Laufe der Jahre Raten an den bisherigen Besitzer zu zahlen waren, dass dieser auch die stärksten sachlichen Interessen an dem Fortbestand der Wochenschrift hatte, so konnte er, von seinem Gesichtspunkte aus, gar nicht anders, als sich und der Sache noch eine andere Garantie schaffen, als diejenige, die in meiner Person lag, von der er nicht sagen konnte, wie sie innerhalb des Menschenkreises wirken werde, der um «Magazin» und «Freie literarische Gesellschaft» sich bisher zusammengefunden hatte. Daher wurde mit zur Bedingung des Kaufes gemacht, dass Otto Erich Hartleben als Mitherausgeber zeichnen und tätig sein solle.

Nun möchte ich in der Rückschau auf diese Tatsachen heute nicht, dass bei der Einrichtung meiner Herausgeberschaft irgend etwas anders gekommen wäre. Denn der in der Geisteswelt Stehende muss, wie ich in dem Vorangehenden beschrieben habe, die Tatsachen der physischen Welt voll durch Erleben kennen lernen. Und mir war das insbesondere durch meinen Seelenumschwung zu einer selbstverständlichen Notwendigkeit geworden. Nicht hinzunehmen, was ich als die Kräfte des Schicksals deutlich erkannte, wäre mir eine Versündigung gegen mein Geist Erleben gewesen. Ich sah nicht nur «Tatsachen», die mich damals für einige Zeit mit Otto Erich Hartleben zusammenstellten, sondern «schicksal(karma-) gewobene Tatsachen».

Aber es ergaben sich doch aus diesem Verhältnisse nicht zu bewältigende Schwierigkeiten.

Otto Erich Hartleben war ein durch und durch von Ästhetik beherrschter Mensch. Als graziös empfand ich alles, was sich aus seiner restlos ästhetischen Weltauffassung bei ihm, bis in seine Gesten hinein, offenbarte, trotz des oft recht fragwürdigen «Milieus», in dem er mir entgegentrat. Er hatte aus dieser Haltung seiner Seele heraus das Bedürfnis, immer wieder monatelang sich in Italien aufzuhalten. Und wenn er von da zurückkam, da lag in dem, was von seinem Wesen in die Erscheinung trat, selbst ein Stück Italien. - Dazu hatte ich eine persönliche starke Liebe zu ihm.

Allein ein Zusammenarbeiten auf dem uns nun gemeinsamen Felde war eigentlich unmöglich. Er war gar nicht daraufhin orientiert, sich in Ideen- und Interessengebiete des Magazinleserkreises oder des Kreises der «Freien literarischen Gesellschaft» «hineinzuversetzen», sondern er wollte eben an beiden Orten «durchsetzen», was ihm seine ästhetische Empfindung sagte. Das wirkte auf mich wie ein mir fremdes Element. Dabei machte er sein Recht, mitzuarbeiten, oftmals geltend, aber oftmals ganz lange Zeit hindurch auch nicht Er war ja auch oft lange in Italien abwesend. So kam etwas ganz Uneinheitliches in den Inhalt des «Magazin».

Und bei all seiner «reifen ästhetischen Weltanschauung» konnte Otto Erich Hartleben den «Studenten» in sich nicht überwinden. Ich meine die fragwürdigen Seiten der «Studentenschaft», natürlich nicht das, was als schöne Daseinskraft aus der Studentenzeit in das spätere Leben hinübergetragen werden kann.

Als ich mit ihm mich zusammenzuschließen hatte, war ihm ein weiterer Verehrerkreis wegen seines Dramas: «Die Erziehung zur Ehe» zugefallen. Das Werk war durchaus nicht aus dem Graziös-Ästhetischen hervorgegangen, das im Umgange mit ihm so reizvoll wirkte; es war gerade aus der «Ausgelassenheit» und «Ungebundenheit» hervorgegangen, die alles, was als geistige Produktion und auch als Entscheidungen gegenüber dem «Magazin» von ihm kam, doch nicht aus der Tiefe seines Wesens, sondern aus einer gewissen Oberflächlichkeit kommen ließen. Den Hartleben des persönlichen Umganges kannten nur Wenige.

Es ergab sich als etwas Selbstverständliches, dass ich nach meiner Übersiedelung nach Berlin, von wo aus ich das «Magazin» redigieren musste, in dem Kreise verkehrte, der mit Otto Erich Hartleben zusammenhing. Denn es war derjenige, der mir die Möglichkeit gab, was zur Wochenschrift und zur «Freien literarischen Gesellschaft» gehörte, so zu überschauen, wie es notwendig war.

Das brachte mir auf der einen Seite einen großen Schmerz. Denn dadurch wurde ich verhindert, die Menschen aufzusuchen und ihnen näher zu kommen, mit denen von Weimar her schöne Verhältnisse bestanden. Wie lieb wäre es mir auch gewesen, Eduard v. Hartmann öfters zu besuchen.

All das ging nicht. Die andere Seite nahm mich voll in Anspruch. Und so wurde von einem mir werten Menschlichen mit einem Schlage manches von mir genommen, was ich gerne behalten hätte. Aber ich erkannte das als eine Schicksals- (karmische) Fügung. Mir wäre es aus Seelenuntergründen heraus, die ich hier charakterisiert habe, durchaus möglich gewesen, zwei so grundverschiedenen Menschenkreisen wie dem mit Weimar zusammenhängenden und dem um das «Magazin» bestehenden, meine Seele mit vollem Interesse zuzuwenden. Allein keiner der Kreise hätte auf die Dauer an einer Persönlichkeit irgendwelche Freude gehabt, die abwechselnd mit Menschen verkehrte, die in bezug auf Seele und Geist polarisch entgegengesetzten Weltgebieten angehörten. Auch wäre es ja unvermeidlich geworden, bei solchem Verkehr fortwährend zu rechtfertigen, warum ich mein Wirken ausschließlich in den Dienst stelle, in den ich es, wegen dessen, was das «Magazin» war, stellen musste.

Immer mehr trat mir vor die Seele: solche Art, Menschen gegenüberzustehen, wie ich sie für Wien, für Weimar hier beschreiben durfte, war nun unmöglich geworden. Literaten kamen zusammen, und literarisch lernten sich Literaten kennen. Selbst bei den Besten, auch bei den ausgeprägtesten Charakteren grub sich dies Literarische (oder auch Malerische, Bildhauerische) so tief in das Wesen der Seele, dass das rein Menschliche ganz in den Hintergrund trat.

Solchen Eindruck bekam ich, wenn ich zwischen diesen – von mir doch geschätzten – Persönlichkeiten saß. Auf mich selbst machten dafür die menschlichen Seelen-Hintergründe einen um so tieferen Eindruck. In der «Freien literarischen Gesellschaft» in Leipzig saß ich einmal nach einem Vortrage von mir und einer Vorlesung O. J. Bierbaums mit einem Kreise zusammen, in dem auch Frank Wedekind war. Mein Schauen war wie gefesselt von dieser wahrhaft seltenen Menschen-Gestalt. Ich meine hier «Gestalt» ganz im physischen Sinne.

Diese Hände! Wie aus einem vorigen Erdenleben, in denen sie Dinge verrichtet haben, die nur von Menschen verrichtet werden können, welche ihren Geist bis in die feinsten Fingerverzweigungen strömen lassen. Mag das dann, weil Energie verarbeitet worden ist, den Eindruck von Brutalität gegeben haben; das höchste Interesse wurde angezogen von dem, was diese Hände ausstrahlten. Und dieser ausdrucksvolle Kopf – ganz wie eine Gabe dessen, was aus den besonderen Willensnoten der Hände kam. Er hatte in Blick und Mienenspiel etwas, das sich so willkürlich der Welt geben, aber namentlich auch von ihr sich zurückziehen konnte, wie die Gesten der Arme durch die Empfindung der Hände.

Ein der Gegenwart fremder Geist sprach aus diesem Kopfe. Ein Geist, der sich eigentlich außer das Menschentreiben dieser Gegenwart stellt. Der nur nicht innerlich zum Bewusstsein darüber kommen konnte, welcher Welt der Vergangenheit er angehört. Als Literat war – ich meine jetzt nur das, was ich an ihm schaute, kein literarisches Urteil – Frank Wedekind wie ein Chemiker, der die gegenwärtigen Ansichten der Chemie ganz von sich geworfen, und der Alchemie, aber auch diese nicht mit innerem Anteil, sondern mit Zynismus treibt. Man konnte viel von der Wirkung des Geistes in der Form kennen lernen, wenn man die äußere Erscheinung Frank Wedekinds in die Seelenanschauung hereinbekam. Dabei darf man allerdings nicht mit dem Blicke desjenigen «Psychologen» vorgehen, der «Menschen beobachten will», sondern mit dem, der das rein Menschliche auf dem Hintergrunde der Geistwelt durch innere geistige Schicksaisfügung zeigt, die man nicht sucht, sondern die herankommt.

Ein Mensch, der bemerkt, er werde von einem «Psychologen» beobachtet, der darf ärgerlich werden; der Übergang aber von dem rein menschlichen Verhältnis zu dem «auf geistigem Hintergrunde schauen» ist auch rein menschlich, etwa wie der von einer flüchtigen zu einer intimeren Freundschaft.

Eine der eigenartigsten Persönlichkeiten des Hartleben’schen Berliner Kreises war Paul Scheerbarth. Er hat «Gedichte» geschrieben, die dem Leser zunächst wie willkürliche Wort- und Satzzusammenstellungen vorkommen. Sie sind so grotesk, dass man deswegen sich angezogen fühlt, über den ersten Eindruck hinauszugehen. Dann findet man, dass ein phantastischer Sinn allerlei sonst unbeachtete Bedeutungen in den Worten sucht, um einen geistigen Inhalt zum Ausdruck zu bringen, der nicht minder aus einer bodenlosen, aber einen Boden überhaupt gar nicht suchenden Seelen-Phantastin heraus stammt.

In Paul Scheerbarth lebte ein innerer Kultus des Phantastischen; aber der bewegte sich in den Formen des gesucht Grotesken. Er hatte, nach meiner Auffassung, das Gefühl, der geistvolle Mensch dürfe, was er darstellt, nur in grotesken Formen darstellen, weil andere alles ins Philiströse zerren. Aber dies Gefühl will auch das Groteske nicht in gerundeter künstlerischer Form entwickeln, sondern in souveräner, gesucht unbesonnener Seelenverfassung. Und was sich in diesen grotesken Formen offenbart, das muss dem Gebiet der inneren Phantastik entspringen. Ein nicht nach Klarheit suchender Seelenzug nach dem Geistigen lag bei Paul Scheerbarth zugrunde. Was aus der Besonnenheit kommt, das geht nicht auf geistige Regionen, so sagte sich dieser «Phantast». Deshalb darf man, um Geist auszudrücken, nicht besonnen sein. Aber Scheerbarth tat auch keinen Schritt von der Phantastik zur Phantasie. Und so schrieb er aus einem in der interessanten, aber wüsten Phantastik steckengebliebenen Geist heraus, in dem ganze kosmische Welten als Rahmenerzählungen flimmern, schillern, das Geistgebiet karikieren und ebenso gehaltene Menschenerlebnisse umschließen. So in «Tarub, Bagdads berühmte Köchin».

Man sah den Mann nicht so, wenn man ihn persönlich kennen lernte. Ein Bureaukrat, etwas ins Geistige gehoben. Die «äußere Erscheinung», die bei Wedekind so interessant war, bei ihm alltäglich, philiströs. Und dieser Eindruck erhöhte sich noch, wenn man in der ersten Zeit der Bekanntschaft mit ihm ins Gespräch kam. Er hatte in sich den glühendsten Hass auf die Philister, hatte aber die Gesten der Philister, deren Sprechweise, zeigte sich so, als ob der Hass davon käme, dass er aus Philisterkreisen zuviel in die eigene Erscheinung aufgenommen hatte und das spürte; aber zugleich das Gefühl hatte, er könne es nicht bekämpfen. Man las auf dem Grunde seiner Seele eine Art Bekenntnis: Ich möchte die Philister vernichten, weil sie mich zum Philister gemacht haben.

Ging man aber von dieser äußeren Erscheinung zu dem von ihr unabhängigen inneren Wesen Paul Scheerbarths, so enthüllte sich ein ganz feiner, nur eben im Grotesk-Phantastischen steckengebliebener, geistig unvollendeter Geistmensch. Dann erlebte man mit seinem «hellen» Kopf, mit seinem «goldenen» Herzen die Art mit, wie er in der Geist-Welt stand. Man musste sich sagen, welch eine starke, in die Geistwelt schauend dringende Persönlichkeit hätte da in die Welt treten können, wenn das Unvollendete wenigstens bis zu einem gewissen Grade vollendet worden wäre. Man sah zugleich, dass das «Bekenntnis zur Phantastik» schon so stark war, dass auch eine Vollendung in der Zukunft dieses Erdenlebens nicht mehr im Bereich der Möglichkeit lag.

In Frank Wedekind und Paul Scheerbarth standen Persönlichkeiten vor mir, die in ihrem ganzen Wesen dem, der die Tatsache der wiederholten Erdenleben des Menschen kannte, höchst bedeutsame Erlebnisse gaben. Sie waren ja Rätsel in dem gegenwärtigen Erdenleben. Man sah bei ihnen auf das, was sie sich in dieses Erdenleben mitgebracht hatten. Und eine unbegrenzte Bereicherung ihrer ganzen Persönlichkeit trat auf. Man verstand aber auch ihre Unvollkommenheiten als Ergebnisse früherer Erdenleben, die in der gegenwärtigen geistigen Umgebung nicht voll zur Entfaltung kommen konnten. Und man sah, wie das, was aus diesen Unvollkommenheiten werden konnte, künftige Erdenleben brauchte.

So stand noch manche Persönlichkeit dieses Kreises vor mir. Ich erkannte, dass, ihr zu begegnen, für mich Schicksalsfügung (Karma) war.

Ein rein menschliches, herzliches Verhältnis konnte ich auch zu dem so durch und durch liebenswürdigen Paul Scheerbarth nicht gewinnen. Es war doch so, dass im Verkehr der Literat in Paul Scheerbarth, wie in den andern auch, immer durchschlug. So waren meine allerdings liebevollen Empfindungen für ihn doch durch die Aufmerksamkeit und das Interesse zuletzt bestimmt, die ich an seiner in so hohem Grade merkwürdigen Persönlichkeit nehmen musste.

Eine Persönlichkeit war allerdings in dem Kreise da, die sich nicht als Literat, sondern im vollsten Sinne als Mensch darlebte, W. Harlan. Aber der sprach wenig, und saß eigentlich immer wie ein stiller Beobachter da. Wenn er aber sprach, so war es immer entweder im besten Sinne geistreich, oder echt witzig. Er schrieb eigentlich viel, aber eben nicht als Literat, sondern als ein Mensch, der aussprechen musste, was er auf der Seele hatte. Damals war von ihm gerade die «Dichterbörse» erschienen, eine Lebensdarstellung voll köstlichen Humors. Ich hatte es immer gern, wenn ich etwas früher in das Versammlungslokal des Kreises kam und erst Harlan ganz allein dasaß. Man kam sich dann nahe. Ihn nehme ich also aus, wenn ich davon spreche, dass ich in diesem Kreise nur Literaten und keine «Menschen» gefunden habe. Und ich glaube, er verstand, dass ich den Kreis so ansehen musste. Die ganz verschiedenen Lebenswege haben uns bald weit auseinandergeführt.

Es waren die Menschen um «Magazin» und «Freie literarische Gesellschaft» deutlich in mein Schicksal verwoben. Ich aber war nicht auf irgend eine Art in das ihrige verwoben. Sie sahen mich in Berlin, in ihrem Kreise auftauchen, erfuhren, dass ich das «Magazin» redigieren und für die «Freie literarische Gesellschaft» arbeiten wolle; aber verstanden nicht, warum gerade ich dies tun solle. Denn so, wie ich für ihre Seelenaugen unter ihnen herumging, hatte es für sie nichts Verlockendes, auf mich tiefer einzugehen. Obwohl in mir keine Spur Theorie steckte, kam ihrem theoretischen Dogmatisieren mein geistiges Wirken wie etwas Theoretisches vor. Das war etwas, wofür sie als «künstlerische Naturen» glaubten, kein Interesse haben zu dürfen.

Ich lernte aber durch unmittelbare Anschauung eine künstlerische Strömung in ihren Repräsentanten kennen. Sie war nicht mehr so radikal wie die Ende der achtziger und in den ersten neunziger Jahren in Berlin auftretenden. Sie war auch nicht mehr so, dass sie wie die Theater-Umwandlung Otto Brahms einen Voll-Naturalismus als die Rettung der Kunst hinstellte. Sie war ohne eine solche zusammenfassende Kunstüberzeugung. Sie beruhte mehr auf dem, was aus dem Willen und den Begabungen der einzelnen Persönlichkeiten zusammenströmte, das aber auch ein einheitliches Stilstreben ganz entbehrte.

Meine Lage innerhalb dieses Kreises wurde seelisch unbehaglich wegen des Gefühls, dass ich wusste, warum ich da war, die andern nicht.

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