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Anthroposophie / trithemius verlag / Jahrbuch 1993 Gespräch

Von der mangelnden Gesprächsbereitschaft in der anthroposophischen Bewegung

Von Lorenzo Ravagli.

Auszug aus dem Jahrbuch für anthroposophische Kritik 1993.

Der folgende Artikel spiegelt die Lage der Anthroposophischen Gesellschaft Anfang der 1990er Jahre wieder. Er ist nicht unkritisch auf die heutige Situation übertragbar. Manche darin geschilderten Tendenzen haben sich verstärkt, andere abgeschwächt.

Seit Weihnachten 1990 der Aufsatz zum »Vierten Mitgliederbrief« in den Mitteilungen aus der Anthroposophischen Arbeit in Deutschland erschienen ist, scheint eine Diskussion in Gang zu kommen. Die Beiträge von Ingo Krampen (I/91), Karl-Martin Dietz und Christoph Lindenberg (III/91) in diesen Mitteilungen können als Wortmeldungen innerhalb dieser Diskussion verstanden werden. Ich selbst habe meinen Aufsatz ebenso als Beitrag zur Eröffnung eines Gesprächs verstanden.

Dieses Gespräch hat allerdings noch nicht den notwendig scheinenden Umfang angenommen. Es wäre zu wünschen, daß eine Vielzahl von positiven und negativen Stimmen, von gedanklichen Beiträgen vielerlei Art sich mit diesem Lebensnerv der anthroposophischen Arbeit beschäftigen.

Die inhaltliche, auf die Praxis bezogene Auseinandersetzung über die Frage der Forschung auf geistigem Felde, die doch, direkt oder indirekt, zu den Aufgaben der Anthroposophischen Gesellschaft gehört, müsste innerhalb dieser Gesellschaft unablässig und rege stattfinden. Immerhin kann die Begründung einer »Forschungskommission« durch das Kollegium der Deutschen Landesgesellschaft im Februar des Jahres 1992 als ein erster Schritt in die notwendige Richtung betrachtet werden. Diese Forschungskommission ist gegenwärtig dabei, Erhebungen darüber anzustellen, was innerhalb der anthroposophischen Bewegung von Einzelpersonen oder Institutionen und auf welche Weise geforscht wird.

Es seien im folgenden noch einmal Kernfragen des Aufsatzes über den »4. Mitgliederbrief« thematisiert.

1. Geistige Lage der Gegenwart

 

Dabei handelt es sich um Fragen, die Steiner aufgeworfen hat: Besitzen wir Klarheit über die geistige Lage der Gegenwart?

Damit hängt das Problem zusammen, auf das Dietz hinweist: das öffentliche Erscheinungsbild der anthroposophischen Gesellschaft oder Bewegung. Denn das Erscheinungsbild bedürfte einer Wandlung, je nach der geistigen Lage der Gegenwart. Wer Erscheinung mit Wesen verwechselt, könnte fürchten, daß dadurch die Substanz der Anthroposophie verloren geht.

Es ist eine Illusion, zu glauben, daß eine Öffentlichkeitsarbeit ohne eine Besinnung auf die geistige Lage der Gegenwart und auf die geistigen Bedürfnisse der gegenwärtigen Menschheit, sowie auf das eigene Erscheinungsbild, effektiv sein kann. Indem lediglich die einst revolutionären, aber inzwischen konventionellen Formen der Vergangenheit fortgetragen werden, findet diese notwendige Besinnung nicht statt. Natürlich hängt die Form der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit mit dem eigenen Bewußtsein zusammen. Es geht demnach auch um eine Bewußtseinsveränderung. Man sollte sich keiner Täuschung hingeben: die Überalterung der anthroposophischen Arbeitskreise, die sich Fragen der allgemeinen Anthroposophie widmen (Zweige), das Nachwuchsproblem in den anthroposophischen Ausbildungsstätten und Einrichtungen hängt mit dem Charakter der anthroposophischen Öffentlichkeitsarbeit zusammen, die wiederum ein Ausdruck des den gegenwärtigen Entwicklungen nachhinkenden Bewußtseins ist.

Woher soll der Nachwuchs kommen, wenn nicht aus der Öffentlichkeit, für deren Bedürfnisse wir uns viel zu wenig interessieren? Nehmen wir Rudolf Steiner wirklich ernst, nehmen wir die Aufgabe der Geisteswissenschaft wirklich ernst, wenn uns das mangelnde Interesse der Jugend an unserer Arbeit nicht unablässig beschäftigt? Man kann auf die Artikulation dieses Mangels die Antwort hören, es »dürfe von der Jugend nicht etwas erwartet werden, wozu sie nicht fähig sei.« Die Jugend ist nicht fähig, ein Interesse für Anthroposophie aufzubringen?

Daß das Interesse für eine Erweiterung des Weltbildes aufgrund spiritueller Gesichtspunkte nach wie vor brennend ist, zeigt der Zulauf zu Veranstaltungen, die solche spirituellen Gesichtspunkte anbieten. Selbst anthroposophische Veranstaltungen an Universitäten stoßen auf Interesse, das allerdings nach kurzer Zeit häufig erlahmt.

Statt die Jugend abzukanzeln, sollten wir uns fragen, was machen wir in unserer Öffentlichkeitsarbeit falsch, daß wir das Interesse der Jugend nicht bleibend auf uns ziehen können? Unsere Ausdrucksformen können nicht adäquat sein, die Art und Weise unserer Selbstdarstellung kann nicht zeitgemäß sein, wenn sie die heranwachsende Generation nicht zu erreichen vermag. Möglicherweise sind auch unsere Arbeitsweisen veraltet.

Welche geistigen Interessen der Gegenwart sind es, auf die die gegenwärtige anthroposophische Arbeit keine Antwort gibt? Diese Frage müssen wir uns stellen. Und nicht die Wirkungslosigkeit unserer Bemühungen mit dem Defizit jener Menschen entschuldigen, die wir doch gerade erreichen wollen und sollen. Dietz weist auf die vielen jungen Menschen hin, die der Anthroposophie begegnen, sich ihr aber doch nicht zuwenden. Er meint dann, man müsse angesichts dieser Tatsache die Frage formulieren: »Wie finden noch mehr derjenigen Menschen in die anthroposophische Arbeit, die selbständig und qualifiziert Aufgaben übernehmen könnten?« 1) Ich halte diese Fragewendung für verkehrt. Wir sollten uns vielmehr fragen: Was machen wir falsch, daß sowenige der jungen Menschen, die der Anthroposophie begegnen, sich ihr auch nachhaltig zuwenden? Woran liegt es, daß sich die anthroposophischen Jugendseminare über Mangel an Zuspruch beklagen?

Zur Erkenntnis der geistigen Lage der Gegenwart gehört aber auch ihre kulturelle und historische Differenzierung in verschiedenen Gegenden der Erde. Abgesehen von gewissen geistigen Grundsignaturen, gibt es hier eine große Fülle von Sondererscheinungen und spezifischen Landeseigentümlichkeiten. Auch diese machen besondere Formen erforderlich, in welchen sich die Anthroposophie um Inkulturation zu bemühen hat. Im Zeitalter der Multikulturalität begegnen diese Eigentümlichkeiten aber auch in Europa. Wird darauf genügend Rücksicht genommen? Oder gibt es tatsächlich heute noch Menschen, die behaupten, das Werk Rudolf Steiners sei nicht in andere Sprachen übersetzbar, und man müsse Deutsch lernen, um Anthroposophie zu studieren?

2. Aufgabe der Anthroposophie

 

Die zweite der im genannten Aufsatz aufgeworfenen Fragen betraf die deutliche Vorstellung von der Aufgabe der Anthroposophie.

Krampen weist nachdrücklich auf die Aufgabenstellung hin, die darin besteht, daß Anthroposophie ein Kulturfaktor sein soll. Anthroposophie zu inkulturieren, ist in der Tat eine bedeutende Aufgabe. Vor allem setzt sie moralische Phantasie und moralische Technik voraus. Wie wollen wir, ohne uns mit den bestehenden Verhältnissen und den Menschen, die die bestehenden Verhältnisse gestalten, zu befreunden (ich meine durch die liebende Erkenntniszuwendung zu befreunden) diese Verhältnisse umgestalten? Kann die Haltung des besserwisserischen Hochmuts, die weitverbreitete Katakombenromantik (»wir sind ein kleines Häuflein, von dem die Rettung der Menschheit abhängt«) etwas zur positiven Gestaltung der gegenwärtigen Welt beitragen?

Allerdings sehe ich neben der Inkulturation, die uns leicht in Gefahr bringt, eine Verbreitung der Anthroposophie im Sinne einer Mission anzustreben, noch jene Aufgabe, von der Steiner im vierten Mitgliederbrief als der Aufgabe für die Anthroposophie spricht. Man sollte vermeiden, eine programmatische Antwort auf diese Frage zu geben. Denn diese Frage, welche Aufgabe es für die Anthroposophie gibt, läßt sich meines Erachtens nicht pauschal und normativ beantworten. Es gibt soviele Aufgaben, wie Menschen, die mit der Anthroposophie verbunden sind, sich aus ihrem Leben in der Anthroposophie Aufgaben setzen. Das können gemeinsame, es können aber auch individuelle Aufgaben sein. Es sollten aber die Aufgaben sein, die aus der individuellen moralischen Phantasie entspringen. Aufgaben, die sich aus der Problemwahrnehmung in der konkreten Lebenssituation ergeben, und Antworten, die nicht der Situation schablonenhaft die anthroposophischen Lösungswege, deren Formulierung möglicherweise schon 70 Jahre alt ist, überstülpen, sondern aus der Wahrnehmung und der individuell tätigen Phantasie neue Lösungen entwickeln.

In diesem Sinne scheint auch die Rede vom Forschungsdefizit (Dietz)2) zu normativ, wenn sie bereits die Summe der gestellten Aufgaben erschöpfen soll. Andererseits ist sie mehr als berechtigt. Es muß in der Tat Forschung betrieben werden, »bei der etwas herauskommt« (Lindenberg)3). Sowohl bei Dietz, wie bei Lindenberg klingt dies so, daß sich der Leser unwillkürlich fragt, was denn die Anthroposophische Gesellschaft seit dem Tode Steiners getan hat, wenn sie jetzt anfangen muß, zu forschen. Ist nicht die Aufgabe des Goetheanum die Forschung auf geistigem Felde?
Es ist jedoch auch so, daß man durch eine entsprechende Politik Forschung verhindern kann. Und Beispiele einer solchen Politik fiele es nicht schwer hier aufzuzählen. Dazu gehört eine nicht nachahmenswerte Form der Talentförderung, die in Nepotismus abgleitet, die fehlende Bereitschaft zum geburtshelferischen Verzicht zugunsten der eigenen Selbstdarstellung. Dazu gehört der Aufbau von Monopolstellungen für bestimmte Arbeitsweisen und deren Verteidigung gegen mögliche Konkurrenten. Diese Politik wirkt ebenso kontraproduktiv, wie die abschreckende geistige Stagnation des Nicht-Forschens.

Man muß allerdings zugestehen, daß wohl geforscht worden ist: dies zeigt die Fülle der anthroposophischen Sekundärliteratur. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um Reproduktionen von Aussagen Rudolf Steiners. Aber diese vielfach praktizierte Forschung ist durch die Eigentümlichkeit gekennzeichnet, daß sie meist von isolierten Einzelpersönlichkeiten geleistet wurde, die zwar ihre Arbeit auch veröffentlicht haben, die aber kaum mit anderen darüber ins Gespräch eingetreten sind, noch eine wirkliche Kritik innerhalb der anthroposophischen »Forschungsgemeinschaft« erfahren haben. Sie haben stattdessen »Schulen« gebildet, die sich um ihre Meister scharen, deren ausgewählte Paladine sich gegenseitig wenig sinnvolle Schaukämpfe um die wahre Methode oder die wahre Anthroposophie liefern.

Ein anderer Aspekt des Forschungsproblems, der insbesondere von Krampen und Dietz angesprochen wird, besteht darin, daß die anthroposophische Arbeit vielfach eine Angelegenheit der Freizeit ist. In welchem Ausmaß gerade Angehörige der Tochterbewegungen von den »Alltagsfragen aufgefressen werden«, ist bekannt. Arbeitstagungen haben meist den Charakter von Fortbildungsveranstaltungen, auf denen grundlegende Inhalte der Anthroposophie transportiert werden, weniger den Charakter von Forschungsgesprächen.

Wenigstens versuchen doch viele, die in den Tochterbewegungen tätig sind, die Anthroposophie zu praktizieren, was immer das im Einzelnen auch heißen mag. Daneben gibt es aber auch jene Menschen, die in Arbeitszentren oder Zweigen tätig sind, für die Anthroposophie aufgrund ihrer beruflichen oder schicksalsmäßigen Arbeitssituation eine Angelegenheit der Freizeit, des Feierabends und des Wochenendes ist. Das heißt, sie können sie nicht zu einem unmittelbaren Gestaltungsmittel ihres Alltags machen. Dadurch entsteht ein verständlicher seelischer Druck, der sich in ihrer Arbeit mit der Anthroposophie nicht immer zugunsten dieser Arbeit entlädt. Dieser Tatbestand wird in der Diskussion viel zu wenig berücksichtigt. Viele soziale Schwierigkeiten hängen, wie sich vermuten lässt, damit zusammen. Die auf die Freizeit beschränkte Beschäftigung mit Anthroposophie lässt nicht unbedingt ein begeistertes Verständnis für die Notwendigkeit der Muße und der Kritik entstehen, die wirkliche Forschung nötig hat.

Daß Menschen für Forschungsaufgaben an allen möglichen Orten freigestellt und beauftragt werden müßten, dieses Bewußtsein ist zu wenig entwickelt. Oder wenn die Notwendigkeit gesehen wird, dann spielen oft als »karmisch« kaschierte, psychologische Faktoren in Entscheidungen hinein, die die Umsetzung dieser Einsicht in die Tat verhindern, oder sie in einer Weise realisieren lassen, die eher kontraproduktiv ist. Dabei spielen Emotionen wie Neid, Eifersucht, Mißgunst usw., die selbst tätig sein wollende Mitglieder gegeneinander hegen, eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Dennoch muß nicht daran gezweifelt werden, daß es auch in der jetzigen anthroposophischen Bewegung genügend zur Bearbeitung von Forschungsfragen fähige Menschen gibt. Nur können sich ihre Fähigkeiten nicht entfalten, weil sie in ganz andere Verpflichtungen eingebunden sind. Das sind oft tragische Schicksalssituationen. Doch solange auch von den gegenwärtig Verantwortlichen die vordringliche Aufgabe in der Errichtung von Gebäuden gesehen wird, kann kaum die notwendige Forschung finanziert werden. Durch Auslobung von bescheidenen Preisgeldern ist diese Situation auch nicht zu ändern. Es muss vielmehr an die Anthroposophische Gesellschaft die Frage gestellt werden, was für eine »Forschungspolitik« sie in den letzten sechzig Jahren betrieben hat.

3. Dialogbereitschaft

 

Dieser Sachverhalt führt auf das meines Erachtens zentrale Problem der anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft: Die fehlende Bereitschaft zum Dialog und zur Selbstkritik. Es hängt mit der dritten von mir aufgeworfenen Frage zusammen: Der Frage nach dem Zusammenhang der tätig sein wollenden Mitglieder.

Lindenberg artikuliert dieses Problem unter dem Titel des »gemeinsamen Bewußtseins«, das nicht im gut funktionierenden Nachrichtendienst (manchmal auch Denunzierungsdienst)4) bestehen soll, sondern in der internen Kritik, Dietz spricht von der »Strukturproblematik« (Unprofessionalität), Krampen von der »Ineffektivität der Verwaltung«5).

Mir scheint, der Umgang der Mitglieder der anthroposophischen »Forschungsgemeinschaft« (Laborgemeinschaft) miteinander ist weitgehend von gegenseitiger, gewollter oder ungewollter, Blindheit gekennzeichnet. Es ist dies eine Blindheit für die wirklichen individuellen Anliegen des Anderen, für seine geistige Arbeit, für sein Bemühen, für seine Verdienste im Interesse der Sache. Diese Blindheit hängt vermutlich zu nicht geringen Teilen mit der übersteigerten Anspruchshaltung vieler tätig sein wollender Mitglieder gegenüber sich selbst und gegenüber anderen zusammen. Krampen spricht von den Folgen dieser Anspruchshaltung: Sie mündet in mangelnde Vorbereitung und mangelnde Nachbereitung. Individuelle Vorbereitung und Nachbereitung von Sitzungen werden wiederum auf Sitzungen absolviert: Man kann leicht Beispiele für die Kontraproduktivität dieses Verfahrens finden.

Diese Anspruchshaltung hat aber auch zur Folge, daß man sich gegen jede Form der Kritik immunisiert, mag man äußerlich auch Toleranz zur Schau tragen, denn innerlich orientiert man sich an Rudolf Steiner, dem scheinbar allwissenden Lehrer. Man prüfe, wie subtil sich dieses Vorbild in der Psyche dahingehend auswirkt, daß man gegenüber Kritik eine gewisse Seelenstimmung entwickelt, die einem wirklichen Gespräch keineswegs förderlich ist. Deswegen arten Diskussionen unter anthroposophischen Freunden auch so leicht in persönliche Verunglimpfungen aus.

Demnach ist das Forschungsdefizit der Anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft auch ein Defizit des kritischen Dialogs in dieser Forschungsgemeinschaft.

Dieser Dialog wird aber nach allen Seiten nicht geführt. Ich habe zum Beispiel Ende 1987 in einem anthroposophischen Forschungsinstitut die Idee formuliert, ein Jahrbuch für anthroposophische Kritik zu begründen. Diese Idee ruhte in den Archiven des Instituts, bis ich sie selbst wieder aufgegriffen habe. Hier einige Gedanken aus diesem Zusammenhang, die für das Verständnis des Anliegens des vorliegenden Jahrbuchs von Bedeutung sind (ich zitiere einen Brief vom 20. Sept 1987):

»Kritik würde [...] heißen, frei von Naivität und Dogmatismus im Bereich der Grundlegung bzw. Begründung der Anthroposophie und ihrer Einzeldisziplinen zu arbeiten. [...] Man kann einwenden, die angestrebte Grundlegung sei durch Steiner schon geleistet [...], prinzipiell stimme ich dem zu. [...] Dennoch: Wo haben wir eine wissenschaftliche Grundlegung und Entwicklung der anthroposophischen Menschenkunde, der Wesensgliederlehre, der Temperamentslehre, der pädagogischen Methodik und Didaktik; desgleichen der Medizin, der Landwirtschaft, der geschichtlichen Symptomatologie, kurz: aller natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, über die genialen Seheraphorismen hinaus?

Wo liegt auch eine systematische Auseinandersetzung mit den Einzelaussagen des Seher-Denkers vor, eine denkbare Relativierung oder Erklärung von Ansichten, die von der Entwicklung der Wirklichkeit oder Forschung überholt sind? [...]

Darüberhinaus meine ich mit der Forderung nach Grundlegung nicht nur die rein systematische Grundlegung der Methoden einzelner Disziplinen, sondern damit verbunden auch die Entwicklung, wirkliche Ableitung der hermeneutischen Ideen der einzelnen Fachgebiete - also etwa der Idee der Zwölfgliederung in der Sinneslehre [...]

Wie läßt sich diese Idee aus der wirklichen Beobachtung ableiten, wie kann das systematisch entwickelnde Erkennen zu ihr hinführen [...] Eine solche Arbeit kann natürlich nicht von einem Einzelnen geleistet werden, sondern nur von einer Gemeinschaft, die sich dem offenen und angeregten Dialog verschworen hat und vor keiner Frage oder Denkperspektive zurückschreckt. Dieser offene, herrschaftsfreie (von Vorurteilen freie) Diskurs, der an den Grundlagen und Weiterentwicklungen rührt, ist auch langfristig die einzige Möglichkeit, eine weltanschauliche Isolation und gesellschaftliche Segregation zu verhindern. [...]

Eine solche Auseinandersetzung wissenschaftlicher Art ist darüber hinaus auch der einzige Weg, die Zwiesprache mit den Gegnern aufzunehmen, die besonders der Waldorfpädagogik (durch ihre Expansion) vermehrt entstehen. Das ist nicht im Sinn einer vorschnellen Selbstschutzreaktion gemeint, sondern als grundsätzliche selbstkritische Infragestellung, die das historische Gewissen von der Waldorfbewegung selbst fordert...

Ein Forum, solche Fragen aufzuwerfen, zu diskutieren, zu entwickeln, könnten die Jahrbücher für anthroposophische Kritik sein [...] usw.«

Heute wäre zu diesen Sätzen hinzuzufügen: sie müssten auch dem kritischen Dialog über Ergebnisse, Absichten, Aufgaben innerhalb der Foschungsgemeinschaft dienen.

In anthroposophischen Kreisen begegnet man häufig einer heftigen Abwehr gegen jegliche Form der Kritik unter Hinweis auf den Pfad der Verehrung und die Stimmung der Devotion. Steiner selbst hat aber gleichzeitig neben der Notwendigkeit der Devotion des Geistesschülers vor wahrer Wissenschaft und dem wahrhaft Guten, unentwegt die Notwendigkeit des kritischen Bewußtseins betont.

Angefangen von seiner Dissertation »Wahrheit und Wissenschaft«, die ein kritisches Bewußtsein verlangt, bis in seine Schriften zur Methodik des Schulungsweges, in denen die Aufforderung zur Devotion vor wahrer Erkenntnis und dem wahrhaft Guten stets mit der Warnung verbunden ist, diese Aufforderung nicht mit der Aufforderung zur Kritiklosigkeit zu verwechseln.

Ja, Steiner hat sogar zur Kritik gegenüber ihm selbst aufgefordert, etwa 1909 in den Vorbemerkungen zur »Geheimwissenschaft im Umriß«. Dort verlangt er Leser, »die nicht gewillt sind, auf blinden Glauben hin die vorgebrachten Dinge anzunehmen, sondern welche sich bemühen, das Mitgeteilte an den Erkenntnissen der eigenen Seele und an den Erfahrungen des eigenen Lebens zu prüfen. Er möchte vor allem vorsichtige Leser, die nur das logisch zu Rechtfertigende gelten lassen.« Er fordert die »vernunftgemäße Prüfung« wie sie auch auf die »Tatsachen der Naturwissenschaft angewendet wird«, und spricht seinem Buch nur insofern Tauglichkeit zu, als es sich »vor der unbefangenen Vernunft rechtfertigen kann.« 6)

Ein Bewußtsein, das in der Auseinandersetzung mit Forschungsresultaten nun nicht blinden Autoritätsglauben walten lässt, sondern vernunftgemäße Prüfung, ist ein kritisches Bewußtsein. Gemeint ist von Steiner wohl kaum, daß der Leser nach Bestätigungsgründen für das Vorgebrachte in seinem eigenen Gefühlsleben suchen soll. Danach also, daß sich in ihm mit der Zeit ein Gefühl der Zustimmung zu seinen Ausführungen entwickelt, das dann zum Maßstab der Prüfung wird. Gemeint ist eine vernunftgemäße Prüfung sowohl hinsichtlich der logischen Stimmigkeit (Kohärenzkriterium), als auch die Prüfung an den »Erkenntnissen der eigenen Seele und an den Erfahrungen des eigenen Lebens« (das würde dem experimentellen Beobachtungskriterium entsprechen). In welchem Umfang diese Kriterien gegenüber den einzelnen dargestellten Inhalten anwendbar sind, müßte im Einzelfall geprüft werden. Vor allem müßte ein Umgang mit dem Werk Rudolf Steiners ein solches Prüfen einschließen und eine sachliche Diskussion über die Bedeutung und den Charakter dieses Prüfens möglich sein. Bindet Steiner doch allen Wert (»der Verfasser weiß, sein Buch wäre nichts wert«) seiner Darstellung daran, daß diese Prüfung möglich ist. Es müßte also das allergrößte Interesse bestehen, herauszufinden, was mit dieser Forderung eigentlich gemeint ist, und wie ein entsprechender Umgang mit dem genannten Werk auszusehen hätte, wenn man nicht davon ausgehen will, daß es sich bei dieser Äußerung bloß um eine literarische Floskel handelt. Eine solche Diskussion ist aber in der anthroposophischen Öffentlichkeit kaum dokumentiert.

4. Offenheit gegenüber Kritik

 

Das kritische Bewußtsein, das der Anthroposoph an den philosophischen Grundschriften der Anthroposophie entwickeln kann, ist nicht nur das notwendige Instrumentarium der Selbsterkenntnis innerhalb des Schulungsweges, es ist auch der allerbeste Schutz vor der »Gegnerschaft« und der von dieser ausgehenden Kritik.

Bereits der Aufsatz über den »Vierten Mitgliederbrief« enthält den Gedanken, daß anthroposophische Institutionen und Repräsentanten der Anthroposophie sich durch ein größeres Maß an Selbstkritik auszeichnen müssten, als die Öffentlichkeit ihnen Kritik entgegenbringt.

Diese Selbstkritik ist nicht nur Voraussetzung der Veränderung zum Besseren, sondern auch eine Art Waffe, mit der jeder Gegner abgewehrt werden kann. Sie hat einen apotropäischen Charakter. Die Selbstkritik ist in Wahrheit das michaelische Schwert, das den inneren und den äußeren Drachen zu bezwingen vermag. Bringen wir den Mut zur Selbstkritik nicht auf, dann müssen wir unserem Schicksal dankbar für jeden Kritiker sein, den es uns schickt.

Häufig wird heftige Kritik am Vorhaben geübt, in die anthroposophische Arbeit ein kritisches Bewußtsein einzubringen. Diese Kritik wird von Menschen geübt, die Kritik an anderen völlig ablehnen. Daß sie dabei selbst, oft mit emotionalem Nachdruck, praktizieren, was sie explizit ablehnen, bemerken sie gar nicht. Daß sie meinen, selbst Kritik üben zu dürfen, es aber anderen mit dem Hinweis darauf verbieten wollen, daß die Maxime des freien Menschen, »das Verständnis des fremden Wollens«, eine solche Kritik am anderen unmöglich mache, zeigt, wie unkritisch ihr eigenes Bewußtsein ist.

Ein kritisches Bewußtsein ist stets von der Selbstreflexion begleitet, die Steiner in »Wahrheit und Wissenschaft«7) als das Wissen um die »Gesetzmäßigkeit des eigenen Tuns« charakterisiert. Wer nicht Kritik übt, vermag das »fremde Wollen« überhaupt nicht zu verstehen. Er vermag nämlich nicht einmal zu unterscheiden, welche begrifflichen Inhalte seines Bewußtseins er seiner eigenen Produktion verdankt, und welche er vom anderen, dessen ideellen Willensinhalt die gedachten Begriffe bilden, übernimmt. Deswegen widerfährt es nicht selten um kritisches Bewußtsein bemühten Menschen, daß ihre Intentionen völlig falsch interpretiert werden, ohne daß diese Fehlinterpretationen ein Ausdruck bösen Willens wären. Sie zeigen lediglich, daß diejenigen, die die Fehlinterpretationen produzieren, nicht fähig sind, ihre Interpretationen von dem zu unterscheiden, was der andere will oder denkt.

Daß die von Steiner in »Wahrheit und Wissenschaft« charakterisierte kritische Besonnenheit nur dem eigenen Bewußtsein gegenüber walten dürfe, nicht aber anderen Bewußtseinen gegenüber, widerlegt Steiner durch die Tat. Seine Schrift »Wahrheit und Wissenschaft« beinhaltet nämlich zu einem großen Teil Kritik an anderen und diese Ausübung des kritischen Bewußtseins ist zugleich der Akt, in dem die Anthroposophie als Wissenschaft begründet wird. Dasselbe gilt von den »Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung« und von der »Philosophie der Freiheit«. Es wäre doch sehr sonderbar, ja bedenklich, wenn dieser Geist zwar in der Grundlegung der Anthroposophie andern gegenüber walten dürfte, in ihr selbst und ihr selbst gegenüber aber zum Schweigen gebracht werden müßte. Der in diesen Schriften waltende Freiheitsgeist muß auch das Zusammenwirken der anthroposophisch Tätigen durchwalten. Das aber schließt die Bereitschaft ein, stets prüfend nach der Berechtigung und nach der Richtigkeit des eigenen Tuns zu fragen. Im Sinne der »Philosophie der Freiheit« wäre es eine selbstauferlegte Verpflichtung desjenigen, der aus moralischen Intuitionen handelt, durch die zu entwickelnde moralische Technik seine Verwirklichungsversuche an den Gegebenheiten der Wirklichkeit zu orientieren. Da diese sich fortwährend ändert, muß das aus Intuitionen handelnde Bewußtsein stets von Neuem prüfen, ob seine Handlungs- und Verhaltensformen noch der sich wandelnden Welt gemäß sind.

Im Sinne der Freiheitsphilosophie kann es keine gewohnten Formen, kann es nur in einem sehr begrenzten Sinn eine korporative Identität geben. Denn eine solche, die auf die Uniformierung des Erscheinungsbildes und der Verhaltensweisen hinausliefe, wäre lediglich das Ergebnis eines Gewohnheitshandelns.

Dieses Prüfen muß aber dort, wo aus einem »gemeinsamen Bewußtsein heraus« gehandelt werden soll, den Inhalten dieses gemeinsamen Bewußtseins gegenüber, bzw. den Aufgaben und Lösungswegen gegenüber praktiziert werden, die Inhalte des angestrebten gemeinsamen Bewußtseins sind. Das heißt, gerade Gemeinschaften, die sich dem Wirken für die Anthroposophie aus einem gemeinsamen Bewußtsein heraus verschrieben haben, muß dieser Intention gemäß die Verpflichtung zuwachsen, diese Kritik sich selbst gegenüber, also sich als Gemeinschaft gegenüber zu üben.

Die Scheu vor einem solchen »liebevollen« Umgehen mit dem Anderen, das sich keineswegs auf irgendwelche »Verfehlungen« zu beziehen braucht, wie Steiner im 6. Brief an die Mitglieder8) ausführte, wäre für das zeitgemäße Wirken aus der Anthroposophie tödlich. In diesem Wirken kann es nicht um das Handeln des Einzelnen und um seine Intentionen gehen, sondern um das, was angesichts der Forderungen der Zeit als notwendig erscheint. Darüber, was notwendig erscheint, muß aber eine Diskussion möglich sein. Denn es kann unmöglich allen Menschen das gleiche notwendig erscheinen. Dies führt notgedrungen zur Forderung nach Toleranz und Pluralität.

Was nun die Entwicklung eines kritischen Bewußtseins anbelangt, so hat gerade die Waldorfbewegung in den letzten Jahren angefangen, diese Waffe zu schmieden und sollte es weiter tun. Deswegen kann ich die pauschale Aussage von Dietz nicht gutheißen, daß »wir« mit den Kritikern der Anthroposophie ziemlich unprofessionell umgehen.9) Hätte Dietz das Buch »Waldorfpädagogik in der Diskussion« und ähnliche neuere Publikationen gelesen, könnte er diesen Satz nicht mehr so formulieren. Oder er müßte seine Vorstellungen von Professionalität an einem Beispiel erläutern.

Ich hoffe, man versteht meine Ausführungen nicht falsch. Ich schließe mich in alles ein, was ich hier angesprochen habe und sehe in den ausgesprochenen Gedanken nichts als Anregungen für das, allerdings dringend notwendige, Gespräch.

Anmerkungen:

1) Mitteilungen III/91: S. 172.
2) Ebenda, S. 169 f.
3) Ebenda, S. 176.
4) Ebenda, S. 175.
5) Mitteilungen I/91: S. 31 f.
6) Rudolf Steiner: Geheimwissenschaft im Umriß, Dornach 1987 (tb), S. 14 f.
7) Rudolf Steiner: Wahrheit und Wissenschaft, Dornach 1958, S. 44.
8) Rudolf Steiner: Briefe an die Mitglieder, Dornach 1987, S. 35 f.
9) Mitteilungen III/91: S. 173.


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