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Anthroposophie / trithemius verlag / Jahrbuch 1993 Mitglieder

Der vierte Mitgliederbrief

Von Lorenzo Ravagli.

Auszug aus dem Jahrbuch für anthroposophische Kritik 1993.

In seinem vierten Brief an die Mitglieder vom 10. Februar 19241)  hat Rudolf Steiner die Stellung der Mitglieder zur Gesellschaft nicht nur formal charakterisiert, sondern auch entscheidende inhaltliche Aufgabenstellungen formuliert, die heute gewiß nicht weniger dringlich sind als damals. Die formale Charakterisierung betrifft den Unterschied zwischen stillen und tätig sein wollenden Mitgliedern. Rudolf Steiner nimmt davon Abstand, den stillen Mitgliedern gegenüber der Gesellschaft Pflichten aufzuerlegen: im Gegenteil, die Gesellschaft hat ihnen gegenüber die Verpflichtung, sie in ihren Seelenbedürfnissen nicht zu enttäuschen. Anders sieht es aber mit den tätig sein wollenden Mitgliedern aus: diesen erwachsen aus ihrem Tätigseinwollen sogleich ein „ernster Pflichtenkreis" gegenüber der Gesellschaft und eine „große Verantwortlichkeit". Das sind für den, der mit Rudolf Steiners Sprache vertraut ist, gewichtige Worte, die darauf hindeuten, welches Maß an Beachtung jener Pflichten Rudolf Steiner erwartete.

Tätig sein wollende Mitglieder sind nun nicht nur solche, die auf irgendeinem Arbeitsfeld der Tochterbewegungen im Sinne der Anthroposophie wirken, sondern tätige Mitglieder sind schon all jene, die „anderen die Einsichten der Anthroposophie" öffentlich „überliefern" wollen. Rudolf Steiner spricht hier ausdrücklich nicht etwa von Forschung in der Anthroposophie, sondern von Lehre. Bereits für ein Vermitteln der Einsichten, das über den „stillsten Kreis" hinausgeht, gilt also die Rede vom Pflichtenkreis. Von dem, der Anthroposophie in der Öffentlichkeit lehren will, gilt, daß er jene vier Verpflichtungen auf sich nehmen muß, die Rudolf Steiner im folgenden nennt. Es sind dies:

1. Klarheit über die allgemeine geistige Lage der Menschen der Gegenwart.

2. Deutlichkeit der Vorstellung von der Aufgabe der Anthroposophie.

3. Größtmöglicher Zusammenhang mit anderen tätigen Mitgliedern.

4. Reges Interesse an der Gegnerfrage, sowie die Bereitschaft, das an Anthroposophie und Anthroposophischer Gesellschaft Berechtigte zu verteidigen.

Es ist offensichtlich, daß diese vier von Steiner nur kurz genannten Pflichten auch heute für tätig sein wollende Mitglieder gelten. Man wird wohl auch kaum ein tätiges Mitglied finden, das nicht bereit ist, dieser Behauptung zuzustimmen. Aber ist denn so ohne weiteres klar, was diese Forderungen beinhalten? Und besteht, was die inhaltliche Interpretation der vier Pflichten anbelangt, eine ebenso deutliche Übereinstimmung?

Betrachten wir die vier Pflichten etwas genauer.

1. Klarheit über allgemeine geistige Lage

Daß die gegenwärtige geistige Lage der Menschheit oder des jeweiligen Arbeitsfeldes, in dem man tätig ist, eingeschätzt und möglichst richtig eingeschätzt werden muß, um nicht an den Gegebenheiten vorbei zu reden oder zu handeln, ist offensichtlich. Weniger offensichtlich ist aber die inhaltliche Einschätzung der geistigen Lage. Und in dieser Einschätzung gehen die Ansichten durchaus nicht immer konform.

Nehmen wir an, es wirken in einer größeren Stadt, in einem Arbeitszentrum, dreißig bis vierzig tätige Mitglieder zusammen. Es finden auch regelmäßige Begegnungen dieser Mitglieder statt.

Ist ohne weiteres anzunehmen, daß all diese Mitglieder die allgemeine geistige Lage gleich einschätzen ? Die Erfahrung zeigt das Gegenteil. Sie zeigt sogar, daß die geistige Lage von verschiedenen Menschen sehr verschieden, ja geradezu diametral verschieden eingeschätzt wird, obwohl doch alle öffentlich die Einsichten der Anthroposophie vertreten. Ich glaube nicht, daß sich die verschiedenen Arbeitszentren da sehr voneinander unterscheiden. Es ist eine Sache der Lebenserfahrung, die einen über die Verschiedenheit der Einschätzungen von Menschen, Sachverhalten, Vorgängen belehrt: selbst und gerade dann, wenn Gruppen von Menschen aus einem ähnlichen ideellen Hintergrund urteilen. Oder ist dieser ideelle Hintergrund möglicherweise gar nicht so ähnlich ? Welche Urteilsmaßstäbe werden denn von tätigen Mitgliedern der Einschätzung der geistigen Weltlage zugrundegelegt ? Welche Maßstäbe finden in der Beurteilung ihre Anwendung ? Man neigt vielleicht vorschnell dazu, zu antworten, nun, Maßstäbe, die sich aus der Anthroposophie gewinnen lassen. Gut, aber wieviele verschiedene Maßstäbe gewinnen nicht verschiedene Menschen aus ein und derselben Anthroposophie! Der eine überträgt vielleicht Urteile, die Rudolf Steiner vor dem Ersten Weltkrieg über bestimmte Probleme ausgesprochen hat, unbesehen auf die Gegenwartssituation, ein anderer tut etwas ähnliches mit Aussagen, die aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stammen. Wieder andere greifen bestimmte Paradigmen heraus und vernachlässigen andere, ebenso wichtige. Etwa pädagogische oder medizinische, soziale oder kulturelle. Neigen wir nicht dazu, aufgrund unserer praktischen oder beruflichen Kompetenz erworbene Urteilsdispositionen in die Beurteilung der Zeitlage so einzubringen, daß sie unser Urteil tendenziös färben? Wie können wir eine solche Präponderanz verhindern ?

Die andere Frage betrifft nicht die Maßstäbe der Beurteilung, sondern die Beobachtungen, an denen die Urteile gebildet werden. Man wird wohl kaum behaupten, alle Urteile über die Phänomene der Gegenwart fänden sich bei Rudolf Steiner. Immerhin gibt es zahlreiche Phänomene, die es damals noch nicht gab, als Rudolf Steiner Urteile bildete. Auch wenn man sagt, die Tendenzen habe es gegeben und Steiner habe die Kriterien geliefert, um die Tendenzen und ihre Konsequenzen zu beurteilen, so muß doch der Zusammenhang dieser Tendenzen mit heutigen Phänomenen erkannt werden und es muß erkannt werden, welche Kriterien auf welche Phänomene anwendbar sind. Und das ist ja gerade das Problem. In der Frage der Beobachtungen, auf die wir offenbar angewiesen sind, um die Gegenwart zu beurteilen, verhält es sich ähnlich, wie mit den Urteilsmaßstäben. Es wird nicht von uns verlangt, daß wir bestimmte Theateraufführungen oder Handlungen bestimmter Politiker beurteilen, sondern die allgemeine geistige Lage der Gegenwart.

Wo aber kann man die allgemeine geistige Lage der Gegenwart beobachten? Berücksichtigt man die politischen Ereignisse, soweit sie sich in den Medien niederschlagen, deren Berichte außerordentlich tendenziös und selektiv sind? Berücksichtigt man das kulturelle Leben in verschiedenen Künsten, wie etwa Malerei, Musik, Theater, indem man Ausstellungen und Aufführungen besucht? Beobachtet man Religionsgemeinschaften und ihr Verhalten im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, indem man wiederum hauptsächlich Publikationen (Printmedien) berücksichtigt? Besucht man Wirtschaftsbetriebe, Warenhäuser und läßt die Atmosphäre des Environments auf sich einströmen? Oder legen wir unsere alltäglichen Begegnungen mit Menschen, am Arbeitsplatz, auf öffentlichen Straßen, in Geschäften unseren Urteilen zugrunde?

Neigen wir nicht auch in dieser Frage dazu, Beobachtungen, die uns in unserem Lebenszusammenhang möglich sind und mit unserer individuellen, biographischen Lebenssituation zusammenhängen, besonders zu berücksichtigen? Wie sollten wir auch anders? Andere stehen uns ja nicht zur Verfügung. Aber sind diese Beobachtungen des Steuerberaters, des wissenschaftlichen Mitarbeiters am Universitätsinstitut, des Bühnenbeleuchters in seinem beruflichen Umfeld repräsentativ für die allgemeine geistige Lage? Ist jedes Phänomen eo ipso repräsentativ für das Ganze? Ist jede Beobachtung Beobachtung eines Phänomens oder vielleicht nur ein Pseudo-Phänomen, ein Artefakt, der unsere Erwartungen wiederspiegelt, die er angeblich bestätigen soll? Gibt es nicht auch so etwas wie ein Gefälle oder Gezeiten zeittypischer Ereignisse, die bestimmte Beobachtungsfelder besonders geeignet erscheinen lassen, andere überhaupt nicht? Gibt es nicht auch Nischen der gesellschaftlichen Umwelt, die gleichsam vom Hauch des Zeitgeistes unberührt sind? Kulturelle und gesellschaftliche Inseln, die sich frühere Zustände bewahrt haben?

Schließlich kommt noch ein anderes erschwerend hinzu. Es sind zwei Urteilstendenzen, die häufig in Weltanschauungsgemeinschaften begegnen und miteinander kollidieren. Sie hängen offenbar mit zwei Seelentypen zusammen, die sich in den Tendenzen dieser Urteile niederschlagen. Sie sind auch in Gemeinschaften tätiger Mitglieder anzutreffen und machen die Würze vieler Beratungen aus. Die eine Urteilshaltung möchte ich die pessimistische, die andere die optimistische nennen.

Die erste sieht die gegenwärtige geistige Situation der Menschheit mit Grauen: überall ist nur Dekadenz, ist Niedergang und Verfall zu beobachten, in welches Lebensgebiet man auch den Blick wendet. Alle Beobachtungen, die man machen kann, scheinen nur eines zu rechtfertigen: Untergangsprophetien. Von der Welt ist nichts mehr zu erwarten, sie ist von Widersachern beherrscht und dem Bösen verfallen, Rettung kann nur noch von der Weltanschauung kommen, zu der man sich selbst bekennt. Man kann die Seelenstimmung, die sich in solchen Urteilsnuancen ausdrückt, auch die Katakombenstimmung nennen. Alles Heil der übrigen Welt kann also nur aus der anthroposophischen Bewegung kommen und was nicht aus ihr kommt, ist von vorneherein abzulehnen.

Die zweite Haltung sieht in der Welt (der Menschheit) ein unbegrenztes und unbegrenzbares geistiges Potential. Sie hält alles für möglich. Sie sieht allenthalben Anzeichen des Aufbruchs und der Wandlung, sieht fortschrittliche geistige Mächte inspirierend am Werk, denen man sich selbst im Sinne des Menschheitsfortschritts verbunden fühlt. Diese Haltung geht auf alles Nicht-Anthroposophische völlig unvoreingenommen zu und trägt die eigene Überzeugung auch nicht gleich zu Markte. Sie glaubt, daß die Anthroposophie ein Teil des gesamten geistigen Lebens der Menschheit, vielleicht nicht das Schlechteste, darstellt. Sie ist aber nicht alleinseligmachend, sondern muß überall ihre Bundesgenossen suchen und den Dialog auch mit Anschauungen pflegen, die nicht in allem mit ihr übereinstimmen. Die in solchen Auffassungen zum Ausdruck kommende Haltung kann man die kosmopolitische nennen.

Wie sind nun all diese Gesichtspunkte miteinander zu verbinden? Wie anders als im Gespräch? Die Frage ist: wie können wir zu einer gemeinsamen Einschätzung der geistigen Lage der gegenwärtigen Menschheit kommen? Gibt es möglicherweise eine Form der Urteilsbildung, die nicht von den genannten einschränkenden Bedingungen abhängig ist? Oder ist eine solche, quasi uniforme Einschätzung der geistigen Lage gar nicht anzustreben? Kommt es vielmehr auf eine pluriforme Einschätzung und ein pluriformes Handeln an, das dieser Einschätzung entspricht? Das von Toleranz und Achtung für die verschiedenen Intuitionen der Einzelnen geprägt ist? Und mit der Unterstützung aller rechnet, die sich dem gemeinsamen geistigen Bezugspunkt verbunden fühlen?

2. Deutliche Vorstellung von der Aufgabe der Anthroposophie

Diese Aufgabenstellung scheint leichter zu bewältigen, als die vorangehende. Jeder, der sich eine gewisse Zeit mit Anthroposophie befaßt hat, weiß doch, was die Anthroposophie ist und was für eine Aufgabe sie hat. Da die Aufgabe der Anthroposophie aus ihrem Wesen folgt, muß sie daraus abgeleitet werden. Doch wissen wir wirklich, was Anthroposophie ist? Vor allem, was im Zusammenhang der tätigen Mitglieder fast noch wichtiger ist: stimmen unsere Vorstellungen von dem, was Anthroposophie ist und worin ihre Aufgabe besteht, überein?

Vielleicht wird es noch eher möglich sein, eine Übereinstimmung zu erzielen, wenn man zwanzig tätige Mitglieder danach fragt, was denn nun eigentlich die Anthroposophie sei - obwohl das schon sehr unwahrscheinlich ist. Erst recht unrealistisch aber ist die Hoffnung, man werde ohne weiteres eine Übereinstimmung bezüglich der Aufgabe der Anthroposophie finden. Die Differenzen beginnen schon in der Frage der Quantität. Bloß eine Aufgabe soll die Anthroposophie haben? Sie hat eine große Zahl sehr verschiedener Aufgaben. Welche ist wichtiger als die andere? Die Aufgaben treten in Konkurrenz, sie buhlen um Sympathien, sie bilden Gemeinden, Gemeinden, die sich gegenseitig scheel ansehen und sich aus dem Wege gehen. „Seht, die glauben immer noch an die Dreigliederung; seht, diese weltfremden Erkenntnistheoretiker; seht, diese hirnlosen Praktiker!" Aber hat nicht Rudolf Steiner die Aufgabe der Anthroposophie deutlich genug zum Ausdruck gebracht? Ja, an vielen Orten, in vielen Zusammenhängen auf viele verschiedene Weisen.

Wir müssen uns also fragen, was denn die Anthroposophie eigentlich ist, um zu wissen, was ihre Aufgabe sein könnte. Hier stelle ich wiederum das Vorherrschen zweier Grundhaltungen fest, die ich kurz skizzieren möchte.

Die eine sieht in der Anthroposophie eine Summe von Wahrheiten, die jeder kennen muß. Ja, gerade darauf kommt es an, daß jedermann von den Wahrheiten der Anthroposophie erfährt. Die Anthroposophie ist schon vollendet, Rudolf Steiner hat sie geschaffen und wir tätigen Mitglieder müssen nun bestrebt sein, diese Lehre in der Welt bekannt zu machen. Wehe, man hält das eine oder andere an seinem Werk (vereinzelte Urteile, sprachliche oder künstlerische Ausdrucksformen etc.) möglicherweise für zeitbedingt oder gar veraltet. Wehe, man wagt es, die Situationsabhängigkeit vieler Äußerungen Rudolf Steiners hervorzuheben! Kein Jota darf vom Wort geraubt werden. Nicht zu verändern und den Zeitumständen zu akkomodieren, oder gar weiterzuentwickeln ist die Anthroposophie, sondern so wie sie Steiner geschaffen hat, muß sie gelehrt und gelebt werden.

Die andere Auffassung sieht in der Anthroposophie weniger eine Summe von Wahrheiten, als eine Methode, insbesondere eine Erkenntnismethode. Die Inhalte, die Steiner benutzte, um daran die Anwendung der Methode zu exemplifizieren, sind neben dieser Methode zweitrangig und hätten auch ganz andere sein können. Also all diese Inhalte, all die Bücher und Zyklendarstellungen, sie dienten immer nur dazu, eine bestimmte Methode der Anschauung, des Denkens anzuregen und sind eigentlich nur als Übungsbeispiele aufzufassen, auf ihre inhaltliche Bedeutung kommt es nicht so sehr an. Man kann, wenn man diese Methode anwendet, vielleicht ganz neue Inhalte erschließen, und wird von inhaltlichen Aussagen Rudolf Steiners völlig unabhängig, ja, man muß diese inhaltlichen Aussagen sogar ablehnen, und deren Einbezug in die eigene Praxis zurückweisen, denn sie könnten einen höchstens daran hindern, das Wesentliche zu entdecken.

Gesetzt, man findet zwischen diesen beiden Haltungen hindurch zu einer wie auch immer gearteten gemeinsamen Auffassung vom Wesen der Anthroposophie, wie sieht es dann mit den Vorstellungen von deren Aufgabe aus? Meinen wir nicht meist, wenn wir uns ehrlich befragen, die Anthroposophie sei die Aufgabe? Also die Hinführung der noch nicht mit ihr bekannten Menschheit zur Anthroposophie? Sieht aber Rudolf Steiner nicht eine Aufgabe für die Anthroposophie in der Welt? Diese Haltung setzt aber das Vorhandensein der Anthroposophie schon voraus, sie selbst kann nicht die Aufgabe sein, sondern muß eine andere Aufgabe in der Welt übernehmen. Was ist dies für eine Aufgabe?

3. Der Zusammenhang der tätig sein wollenden Mitglieder

Rudolf Steiner fordert für das Zusammenleben der tätig sein wollenden Mitglieder rückhaltlose Offenheit, Wahrhaftigkeit und gegenseitiges Interesse. Ebenso Kritikfähigkeit im Interesse der Sache. Nun, fragen wir uns, inwieweit wir diese Forderungen erfüllen.

Rückhaltlose Offenheit im Aussprechen dessen, was wir über den Anderen und seine Arbeit für die Sache denken? Wer hat den Mut, zu sagen, was er wirklich denkt? „Man kann doch niemanden beleidigen. Der gute Wille ist doch vielfach bemerkbar, aber der Mensch ist trotzdem unerträglich. Die Auffassungen, die der Andere vorträgt, sind doch völlig irrelevant und gehen an der Sache vorbei. Man muß diplomatisch sein, alles zu seiner Zeit."

Die Minuten streichen dahin und der immer wiederkehrende Sermon, den man nur zu gut kennt, will nicht aufhören. „Man muß Rücksicht auf die Verdienste nehmen, die sich der Betreffende durch seinen jahrelangen Einsatz für die Sache erworben hat, und kann doch nicht auf einmal seine Arbeit nicht mehr gut finden."

Jeder kennt diese Gemeinplätze, jeder kennt auch die Situationen, in denen er zu solchen Gemeinplätzen Zuflucht nimmt, um sich vor der dringend nötigen Tat zu drücken. Und auch wenn es nur darum geht, daß man darüber belehrt wird, wie beschränkt man selber ist: wie schädlich ist es, wenn man seine wahren Ansichten für sich behält. Denn man spricht sie dann woanders aus: in seiner Clique. Hinter dem Rücken des eigentlichen Adressaten. Statt rückhaltloser Offenheit also Verlogenheit.

Kritikfähig muß man sein im doppelten Sinn: im Austeilen und im Empfangen von Kritik. Natürlich ist nicht die müßige oder übelwollende Kritik gemeint, sondern die notwendige und förderliche. Wie sollen wir unser Wirken für die Anthroposophie optimieren, wenn wir uns nicht fortlaufend einer gegenseitigen Beurteilung unterziehen? Aber wie können wir den anderen kritisieren, wenn wir gar keine Wahrnehmungen von ihm haben? Besuchen wir gegenseitig unsere öffentlichen Vorträge und tauschen wir uns über deren rhethorische und inhaltliche Gestaltung aus? Finden gezielte Experimente statt, oder ist alles in unserer Wirksamkeit für die Anthroposophie mehr oder weniger dem Zufall überlassen? Wie weit geht die Zusammenarbeit der tätigen Mitglieder überhaupt? Wie weit geht die Bereitschaft, dem andern Kritikfähigkeit zuzugestehen? Sieht man sich einmal im Monat oder weniger und tauscht unverbindliche Freundlichkeiten aus? Oder schlägt man sich und wird geschlagen aus Liebe für die Sache? Sind wir fähig, uns sagen zu lassen, daß dies oder jenes mißlungen ist? Wird die anthroposophische Arbeit am Ort gemeinsam diskutiert und aufgrund der gegenseitigen Erfahrungen optimiert? Oder trifft man sich nur, um die eigenen Vorzüge zu belobigen?

In welchem Maß findet ein Austausch der tätigen Mitglieder verschiedener Arbeitsfelder, verschiedener Institutionen statt? Wie ist es überhaupt mit den anthroposophisch orientierten Institutionen am Ort bestellt? Arbeiten sie zusammen? Gibt es eine Projektkoordination, einen Austausch der Termine, Intentionen und Erfahrungen? Meiden sie sich aus Eifersucht, Neid, wegen persönlicher Idiosynkrasien? Hält man die eigenen Verhältnisse geheim, um nicht Aufsehen zu erregen, sind die Probleme der Institutionen nur ihre eigenen Angelegenheiten? Weiten die am Ort lebenden und tätigen Mitglieder gegenseitig ihren Horizont, indem sie ihre konkreten Erfahrungen mit der Anthroposophie ins Gespräch einbringen? Wird ein solcher Versuch immer gleich als Egoismus der Institutionen empfunden? Wie sieht es überhaupt mit der Arbeit für die Anthroposophie aus?

4. Interesse für Gegner

Gewiß hatte Rudolf Steiner keine blinde Apologetik im Sinn, als er vom notwendigen Interesse der tätig sein wollenden Mitglieder für die Gegner sprach. Das geht schon daraus hervor, daß er die Bereitschaft zur Verteidigung von Anthroposophie und Gesellschaft auf das an ihnen „Berechtigte" (was an ihnen „in berechtigter Art zu verteidigen ist." 2)) einschränkte. Diese Formulierung setzt voraus, daß es auch Züge an Anthroposophie und Gesellschaft gibt, die es nicht berechtigt wäre zu verteidigen, wenn sie von Gegnern angegriffen würden. Man braucht hierbei nur an jene beiden Fehlhaltungen zu denken, die Steiner im dritten Mitgliederbrief selbst bloßgestellt hat: das „kalte, nüchterne Belehrenwollen" und „das Esoterik-Spielen." 3) Darüberhinaus gelten die Sätze, die im achten Mitgliederbrief stehen, sicherlich auch für den Umgang mit dem, was in irgendeiner Form von den eigenen Auffassungen abweicht und diese Abweichung implizit oder explizit zum Ausdruck bringt.

„Es erscheint mir ganz verfehlt, wenn der Anthroposoph nur abweist, was außer seinem Gebiete von dem geistigen Leben der Gegenwart hervorgebracht wird. Tut er dies sogar in einer solchen Weise, daß der Kundige sogleich bemerkt, er weist ab, was er gar nicht genügend kennt, so wird Anthroposophie niemals etwas ausrichten können  [...] Es ist vom Übel, wenn ein Thema aufgeworfen wird und von vorneherein der Eindruck entsteht, es werde nur die Gelegenheit ergriffen, um Kritik an irgendwelchen Gegenwarts-Vorstellungen zu üben. Es sollte erst überall sorgfältig geprüft werden, inwiefern in einer solchen Vorstellung ein gesunder Ausgangspunkt gegeben ist."

Diese Äußerungen Rudolf Steiners implizieren eine Haltung der Dialogbereitschaft und setzen im Grunde auch bei Kritikern Dialogfähigkeit voraus. Es ist auch gar nicht zu verstehen, was der gesamtgesellschaftliche Diskurs für einen Sinn haben könnte, wenn sich die Gesamtheit der darin vorkommenden sprachlichen Äußerungen auf Indoktrinationsversuche und propagandistische Manöver beschränken würde. Wenn also von seiten der Anthroposophie an „Fremdes" angeknüpft oder auf dieses eingegangen wird, was könnte ein solcher Dialog für einen Sinn haben, wenn er doch nur darauf hinausläuft, am Ende den anthroposophischen Katechismus herunterzubeten?

Die Unterscheidung zwischen dem, was berechtigterweise an Anthroposophie und Gesellschaft kritisiert bzw. verteidigt werden kann, setzt vor allem eines voraus: ein enormes Maß an Selbstkritik. Denn wie soll man wissen, wann Gegner oder Kritiker berechtigte Einwände vorbringen und auf wirklich vorhandene Mißstände hinweisen, wenn man den eigenen Fehlern gegenüber blind ist? Deswegen sollte man auch nicht sofort jeden Kritiker für einen Gegner halten. Da ist oft der kritiklose Anhänger aus den eigenen Reihen der weit schlimmere Gegner, als ein scheinbar gegnerischer Kritiker, der auf tatsächlich vorhandene Mißstände hinweist. Wie will man vor externer Kritik bestehen, wenn man keine Selbstkritik übt? Ja, man kann vor externer Kritik nur bestehen, wenn man intern eine wesentlich schärfere Selbstkritik übt! Denn wenn man Mißverhältnisse schon selbst entdeckt hat und dabei ist, sie zu beseitigen oder in ihrer Dimension zu verringern, dann kann man der externen Kritik mit gutem Gewissen entgegentreten. Wo man aber keine Selbstkritik übt, kann es geschehen, daß einem externe Kritiker zuvorkommen, und durch die Foren, auf denen sie ihre Kritik vortragen, der Sache eine Bedeutung und einen Umfang geben, die sie, hätte man sie selbst bereinigt, nie erhalten haben würde.

Wenn aber „Anthroposophie und ihre Träger [...] in falschem Lichte dargestellt oder sogar verleumdet werden" 5), dann ist allerdings der Zeitpunkt eingetreten, wo ein tätig sein wollendes Mitglied sich aufgerufen fühlen sollte, sich zu Wort zu melden. Sicher hat es keinen Sinn, unfachmännisch erzürnte Leserbriefe zu schreiben oder unqualifizierte Entgegnungen zu fabrizieren. Es hat wohl auch keinen Sinn, den Gegner in jenem überheblichen Stil abzukanzeln, in dem dies häufig der Anthroposophie von unverständigen Gegnern widerfährt. Aber den Gegner oder Andersdenkenden mit seinen eigenen Waffen bekämpfen und ihn auf seinem eigenen Arbeitsfeld, in seiner eigenen Sprache schlagen, das ist ein wirkliches Verdienst für die Sache. Schließlich wird sich die Anthroposophie nicht durch die Arbeit der stillen Mitglieder, so nötig und erfreulich diese auch sind, ihre Anerkennung und Geltung in der Welt erwerben, sondern „durch solche, welche die Geduld besitzen, in eine Gedankentechnik einzudringen, die einen realen Grund für ein wirklich gediegenes Arbeiten schafft. [...] "

Anmerkungen:

1) Rudolf Steiner: Briefe an die Mitglieder, Dornach 1987, S. 29f.

2) Ebenda, S. 30.

3) Ebenda, S. 28.

4) Ebenda, S. 41.

5) Ebenda, S. 31.

6) Rudolf Steiner: Philosophie und Anthroposophie, Dornach 1965, S. 94.


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