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Anthroposophie / trithemius verlag / Jahrbuch 1994 Mythologeme

Anthroposophische Mythologeme oder wie man mit dem Hammer denkt

Von Lorenzo Ravagli

Auszug aus dem Jahrbuch für anthroposophische Kritik 1994.

Die polemische Zuspitzung des folgenden Aufsatzes verdankt sich einer Einladung des damaligen Chefredakteurs der Zeitschrift »Das Goetheanum«, sich nicht nur über den Zustand der anthroposophischen Gesellschaft zu beklagen, sondern Ernst mit ihrer Veränderung zu machen. Die Baconsche Insistenz, mit der hier Mythologeme angeprangert werden, darf nicht mit einer Verurteilung des Mythos verwechselt werden. Im Gegenteil kommt dem Mythos in jeder menschlichen Gesellschaft eine konstitutive Bedeutung zu, auch in sogenannten modernen, aufgeklärten Gesellschaften, deren Mythos gerade in ihrem Glauben an ihre Aufgeklärtheit besteht. Zur Bedeutung des Mythos für die Kultur und die Kohärenz einer Gesellschaft sind inzwischen mehrere Publikationen des Verfassers dieses Aufsatzes erschienen (siehe dazu die Hinweise am Ende dieses Aufsatzes).

Die dogmatische Tradition und ihre Rituale

Nicht wenig wird das Leben der anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung bestimmt durch einen Komplex von Vorstellungen und Urteilen, die sich bei näherem kritischen Zusehen als Mythologeme entpuppen. Unter Mythologemen sind Anschauungen oder Theorien zu verstehen, die, mögen sie auch im aufgeklärten Gewande der Wissenschaftlichkeit einhergehen, sich insgeheim aus irrationalen Quellen speisen. Diese Vorstellungen und Theorien haben nichts mit dem grundsätzlich unbezweifelbaren Wissenschaftscharakter der Anthroposophie zu tun, sondern entspringen einer dogmatischen Tradition, als deren Angehörige sich viele jener Menschen sehen, die sich aufgrund innerer Überzeugungserlebnisse mit dem Werk Steiners verbunden fühlen.

Innerhalb dieser dogmatischen Tradition, die vor allem mit wissenssoziologischen Kategorien beschrieben werden müßte, spielen die Paradosis und das Paradigma, die Übermittlung von Wissen von Mensch zu Mensch und das Vorbild verehrter Persönlichkeiten eine nicht zu überschätzende Rolle. Von ebenso wenig zu unterschätzender Bedeutung ist innerhalb dieser dogmatischen Tradition die Rolle von Institutionen und Machtansprüchen, die sich in Amtsinhabern verkörpern. Diese dogmatische Tradition ist trotz ihres scheinbar festen Charakters in stetiger Fortbildung begriffen, auch wenn ihre Angehörigen behaupten, die reine Lehre zu bewahren. In der Fortbildung spiegelt sich die Antwort dieser Tradition auf die geänderten Zeitumstände. Allein, in ihrer Fortbildung dokumentiert sich nur eine Scheinlebendigkeit dieser Tradition, denn sie besteht lediglich in der Hervorbringung neuer Wortformeln, in denen die Tradition sich den Anschein der Zeitbezogenheit verleiht. Die dogmatische Tradition stellt im Wesentlichen die oral history der anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung dar und beinhaltet nicht allein Vorstellungen, die sich auf das anthroposophische Lehrgut beziehen, sondern auch Erzählungen, die die Erwartungen und ausgesprochenen wie unausgesprochenen Gesetze der Corporate Identity dieser Gesellschaft und Bewegung betreffen. Viele Menschengemeinschaften, die sich im Namen Rudolf Steiners zusammenfinden, sind von dieser dogmatischen Tradition geprägt und stellen sich - aus scheinbar unerfindlichen Gründen - unter die Herrschaft dieser Tradition. Doch erweist sich bei näherer Betrachtung dieses Phänomens der Herrschaft einer schriftlich nicht festgelegten Tradition, daß sich in der scheinbar unausweichlichen Unterwerfung soziologische und psychologische Gesetze wiederspiegeln, die aus der Religions- und Geistesgeschichte hinlänglich bekannt sind. Es sind die Gesetzmäßigkeiten der Sektenbildung.

Das Phänomen der Sektenbildung ist nicht in erster Linie ein Erkenntnisphänomen, sondern ein soziales und psychologisches Phänomen. Es läßt sich deswegen auch nicht aus den spezifischen Lehrinhalten einer Sekte erklären, daß sie eine Sekte ist, denn es besteht auf sämtlichen Erkenntnis und Fachgebieten die Möglichkeit der Sektenbildung. Es gibt tiefenpsychologische Sekten, ebenso, wie es atomphysikalische oder soziologische oder religiöse Sekten gibt. Wesentlich für eine Sekte ist, daß sich Menschen um bestimmte Vorstellungen gruppieren, die sie für ihre Gemeinschaft als konstitutiv empfinden, denen gegenüber sie sich verantwortlich fühlen. Es geht also darum, daß eine bestimmte Summe von Vorstellungen die Angehörigen einer Menschengruppe so verbindet, daß die Angehörigen in diesen Vorstellungen das Stiftungspotential ihrer Gemeinschaft vermuten, auch wenn es in Wahrheit in etwas ganz anderem liegt. Aber diese Illusionen über den wahren Charakter der Gemeinschaft gehören notwendig zu ihrem Selbstverständnis oder besser Selbstunverständnis.

Von einer Gemeinschaft freier Geister unterscheidet sich eine Sekte durch Berufung auf Vorstellungen. Freie Geister handeln aufgrund moralischer Intuitionen und sind gezwungen, die Vorstellungen, durch die sie ihre Intuitionen in den situativen Weltzusammenhang einordnen, stets neu hervorzubringen. Sie können sich also nicht auf eine Summe von Vorstellungen berufen, die den gemeinsamen Inhalt ihrer Überzeugungen ausmachen. Ihre Übereinstimmung in theoretischen und praktischen Fragen muß sich stets von neuem im Austausch und der Prüfung ihrer Intuitionen ergeben. Sie sind von einem höchstmöglichen Maß an Toleranz und Vertrauen gegenüber den anderen freien Geistern durchdrungen, mit denen sie sich durch ihren Zusammenhang mit dem Ideenkosmos verbunden wissen. In der intuitiven Erfahrung der Ideenwelt gründet auch das Prinzip der individuellen Verantwortung und der Delegation von Initiativen, die in Sekten undenkbar sind. Denn sektiererische Gemeinschaften können nur dulden, was mit den von ihnen anerkannten normativen Vorstellungen über ihr kollektives Handeln übereinstimmt. Deswegen sind Sekten sozial auch stets konservativ und unproduktiv, können sie doch nur das immer schon Geltende reproduzieren.

Die Frage, warum sich überhaupt sektiererische Gemeinschaften, Gesinnungs und Überzeugungsgemeinschaften, bilden müssen, läßt sich letztlich nur aus der Individualpsychologie beantworten. Sicherlich ist einer der Hauptgründe dafür das Gefühl der Sicherheit, das die Zugehörigkeit zu einer verschworenen Gemeinschaft vermittelt. Man weiß, man ist nicht allein. Man fühlt sich von anderen gestützt und getragen, und vor allem: bestätigt. Dem Gefühl der Sicherheit, das das Bewußtsein der Gemeinschaftszugehörigkeit vermittelt, korrespondiert das Gefühl der Unsicherheit, das die Gruppenmitglieder gegenüber der außergemeinschaftlichen Welt empfinden. Sie blikken furchterfüllt auf sie herunter oder aus ihrer Gemeinschaftshöhle auf sie hinaus und bezeichnen sie mit so verräterischen Vokabeln wie dem Ausdruck »die Außenwelt«. Schon die neolithische Horde konnte ein solches Gefühl der Sicherheit gegenüber der feindlichen Außenwelt empfinden, wenn sie beim heilig-wärmenden Feuer saß und den betörenden Klängen der Trommeln lauschte. Daß die Außenwelt so erschreckend feindlich wirkt, hängt damit zusammen, daß sie nicht mit den Inhalten des eigenen Bewußtseins durchdrungen ist und sich auch nicht in den magischen Bannkreis der eigenen Gemeinschaftsbildung einbeziehen läßt. Das kann unter Umständen vorübergehende Zweifel am Sinn der eigenen Gruppenbildung hervorrufen, die aber gewöhnlich bald in einem Sturm allseitiger Entrüstung untergehen. Schließlich ist es nicht die Schuld der Gemeinschaft, die das heilige Feuer hütet, daß die Außenwelt nicht an den Segnungen dieses Feuers teilhaben will. Es ist vielmehr die Schuld der Außenwelt und vor allem der Menschen, die sich in dieser Außenwelt bewegen, und deren Jagdgründe unsicher machen. In dieser Gedankenfigur offenbart sich die immanente Dialektik jeder sektiererischen Gruppierung. Denn einerseits ist die Gruppierung angetreten, um das Heiligste der Menschheit zu hüten, ja um diese Menschheit selbst vor ihrem Verderben zu retten. Aber die Menschheit ist diesem Heiligsten feindlich gesinnt, ja, sie ist selbst das Feindliche, das es zu fliehen oder zu tilgen gilt. Das heißt, die freundliche Maske der allgemeinen Menschenliebe verwandelt sich im Handumdrehen in die hämisch grinsende Fratze des Menschenhasses. Jene Menschen, die außerhalb stehen, führen im allgemeinen nichts Gutes im Schilde. Sie sind der eigenen Gemeinschaft feindlich gesonnen, wollen ihr das Feuer rauben, von ihrer schützenden Höhle Besitz ergreifen usw.

Das Übermaß an Fremdheit und Feindlichkeit, das in der Außenwelt herrscht, stellt natürlich eine dauernde Prüfung der eigenen Verankerung in den gemeinsam gepflegten Überzeugungen dar. Denn es ist nicht möglich, sich unablässig in der schützenden Höhle aufzuhalten. Man würde dabei verhungern. So ist man etwa gezwungen, die Höhle zum Broterwerb zu verlassen. In Jäger- und Sammlerkulturen können diese Aufenthalte sogar recht lange dauern. So sehen sich diese Gemeinschaften dazu veranlaßt, komplizierte Rituale auszubilden, in denen den Mitgliedern stets von neuem die Legitimation ihrer Existenz in Erinnerung gerufen wird.

Es bilden sich beispielsweise in solchen Gemeinschaften öffentliche oder halböffentliche Bestätigungsrituale aus. Diejenigen, die sich der Gemeinschaft zugehörig fühlen, kommen in regelmäßigen Zeitabständen zusammen und erzählen sich Geschichten, die alle schon kennen, die aber gerade, weil sie allen bekannt sind, einen enormen Bestätigungseffekt erzielen. Sie bestätigen den Einzelnen in seinen »Überzeugungen«, das heißt in dem, was er immer schon gedacht und gewußt hat, sie bestätigen die Gemeinschaft, weil sie die berufene Trägerin dieses kollektiven Wissens ist und sie bestätigen das Wissen selbst, das durch das beifällige Nicken aller Anwesenden seine nachhaltige Bekräftigung erfährt. Sie bestärken alle in ihrer Überzeugung, daß ihnen alles Heil aus ihren geheiligten Überzeugungen strömt und daß ihre höchste Aufgabe darin bestehe, diese Überzeugungen rein zu erhalten und vor Verfälschungen zu bewahren. Eine Variante eines solchen Bestätigungsrituals ist auch unter dem Namen »anthroposophischer Vortrag« bekannt. Redner, die selbst der dogmatischen Tradition angehören, reisen von weit her zu einer an einem bestimmten Ort ansässigen Gruppe von Traditionsteilnehmern und erzählen diesen, was sie alle eigentlich schon wissen, was sie aber stets von neuem gerne wieder hören, weil es höchst befriedigend ist, von fremden, aber bedeutenden Teilnehmern der eigenen Tradition zu hören, daß auch sie von den Erzählungen dieser Tradition durchdrungen und überzeugt sind. Auf diese Weise zeugt sich durch eine soziologische Parthenogenese (Jungfernzeugung) stets von neuem das »Gemeinschaftserlebnis« fort. Das Gemeinschaftserlebnis ist in Wahrheit das numinose Zentralereignis solcher Gemeinschaften. Es hangelt sich an weitgehend vertrauten Vorstellungsinhalten empor und steigert sich bei der Wahrnehmung des begeisterten Glanzes in den Augen der anderen in geradezu ekstatische Dimensionen. Bei den genannten Bestätigungsritualen geht es in Wahrheit nicht um die Erweiterung des eigenen Horizontes, sondern um die Wahrnehmung des Glanzes in den Augen der Anderen, in denen sich der Glanz der eigenen Augen spiegelt. So spiegelt sich das Gespiegelte im Gespiegelten und werfen Bekannte allseits Bekanntes Bekannten zurück, was ihnen Bekannte zugeworfen haben. Solche Rituale sind bedeutende, ja sogar festliche, aus dem Alltag herausgehobene Ereignisse, die den Einzelnen an die Gemeinschaft binden und deutlich erlebbar machen, daß die Gemeinschaft ihren Daseinszweck letztlich in sich selbst trägt. Zur Rechtfertigung dieses Gemeinschaftsrituals werden komplexe Erzählungen ausgebildet, die die Stiftungsoffenbarungen zitieren und in denen von der »Pflege des seelischen Lebens« und der Gemeindebildung als der höchsten Aufgabe die Rede ist.

Eine andere Kategorie von rituellen Handlungen, die in solchen Gemeinschaften eine bedeutende Rolle spielen, sind Sündenbock- oder Ausstoßungsrituale. Von Zeit zu Zeit werden solche Rituale aus internen Gründen inszeniert, um den Zusammenhalt der Gemeinschaften zu prüfen. Bestimmte, nicht selten ausgezeichnete Individuen, die durch ihre Veranlagung, ihr Aussehen oder ihr Verhalten vom Typus der übrigen Mitglieder abweichen, werden zu Trägern eines feindlichen Prinzips erklärt und aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Der Kampf gegen den inneren Feind (Stichwort »innere Gegnerschaft«) ruft einen fast noch größeren Solidarisierungseffekt hervor, als die charakterisierten Bestätigungsrituale. Sündenbockrituale haben zudem den Vorteil, daß sie in das einschläfernde Einerlei der Bestätigungsrituale eine willkommene Abwechslung einbringen. Die gesamte seelische Energie der Gemeinschaft wird darauf konzentriert, das mißliebige Objekt zu dämonisieren und aus dem Kreis der Verschworenen auszustoßen. Bei diesem Verfahren werden alle Mittel gebilligt und kein Mittel ist zu billig, um das anvisierte Ziel zu erreichen. Zuerst muß der innere Feind, die Viper, die man an der Brust genährt hat, aufgebaut werden. Dazu dienen Gerüchte und Verballhornungen, ja sogar vor Verleumdungen und Lügen schreckt man nicht zurück. Angesichts der Gestaltwerdung des inneren Feindes durch die gemeinsame Beschwörung verlieren alle moralischen Kategorien und sonst als verbindlich betrachteten Sittlichkeitsvorstellungen ihre Bedeutung. Die Ausnahmesituation, in der sich die Gemeinschaft befindet, erlaubt selbst offenkundiges Unrecht. Die Gesetze der Rationalität, der Urteilsbildung und der Humanität scheinen außer Kraft gesetzt, wenn die psychischen Energien in den sich steigernden Akten der Verfemung gesammelt auf den inneren Gegner herunterprasseln und sich in gewaltigen Detonationen der Entrüstung entladen. Der innere Gegner, der zum Sündenbock ausersehen ist, weiß oft gar nicht, wie ihm geschieht. Er, der eben noch ein geduldetes Mitglied der Gemeinschaft war, sieht sich plötzlich im Mittelpunkt eines unausgesetzten Interesses, er, dem nichts ferner lag, als sich gegen die ausgesprochenen und unausgesprochenen Überzeugungen der Gemeinschaft zu richten, wird zum Abweichler, zum Dissidenten erklärt. Die Emotionen und Affekte, die sich über dem Betroffenen entladen, lassen einen Einblick in ungeahnte Tiefenschichten der menschlichen Psyche zu. Die emotionale Dimension dieses Vorgangs läßt auch erkennen, daß die ansonsten rezitierten Prinzipien der Toleranz und Initiative höchstens in der Vorstellungswelt derjenigen Realität besitzen, die sie propagieren, nicht aber in ihren Herzen und Handlungen. Statt dessen wird ein unausschöpfliches Maß von Intoleranz, geistiger Indolenz und affektiver Verstümmelung und Verkümmerung (Infantilität) sichtbar, die letztlich nur mit dem berühmten Jungschen abaissement du niveau mental zu erklären ist. Daß in aller Regel mit sektiererischen Gruppenbildungen ein solches abaissement du niveau mental einhergeht, das in emotionalen Höhenphasen seine letzte Steigerung erfährt, braucht nicht besonders betont zu werden. Denn Rituale haben stets auch die Bedeutung, daß ein Verzicht auf das eigene Denken geleistet wird. Dort, wo Rituale zelebriert und Dogmen rezitiert werden, die allen hinlänglich bekannt sind, muß lediglich auf die organisch abgestützte Erinnerungsleistung zurückgegriffen werden, ja das Ritual kann sogar mit dem Bewußtseinsniveau praktiziert werden, das für Reflexhandlungen ausreicht.

Jedenfalls haben diese Sündbockrituale nicht nur eine exorbitante solidarisierende Wirkung, sondern sie reinigen auch die Atmosphäre innerhalb der Gemeinschaft. Das ganze seelische Gift, alle Mißgunst, aller Neid, alle Eifersucht und aller Haß, kann auf den idealen Projektionsträger, eben den Sündenbock, abgeladen werden. Wenn sich zuvor die Luft in den Konventikeln oft zum Schneiden verdichtete, so läßt sich jetzt, wo der Sündenbock vertrieben ist, für einige Zeit aufatmen und durchatmen. Die aus dem Scharmützel siegreich hervorgegangene Gemeinschaft erlebt sich in längst verloren geglaubter Einigkeit, eine vergessene Harmonie und Eintracht breitet sich in den Hallen aus und man kann sich, nach Glättung der Seelenwogen, wieder ungestört dem Eigentlichen, nämlich dem nächsten Bestätigungsritual zuwenden.

Ein letztes Institut sei hier noch erwähnt, bevor wir uns einzelnen anthroposophischen Mythologemen zuwenden: das Institut der magischen Kennzeichen, die im apotropäischen Zauber der sektiererischen Gemeinschaften Verwendung finden.

Vieles, was für den Alltag eines Durchschnittsmenschen offenbar bedeutungslos ist, erhält im apotropäischen Kosmos eine magische Dimension. Die numinose Aufladung von Ausstattungsgegenständen oder Kleidungsstücken, aber auch Produkten der Kleinodienkunst hängt mit der Umlenkung der seelischen Energien von der Selbsterziehung auf äußere Objekte zusammen. Wie mancher ersetzt die Überwindnung der seelischen Trägheit durch den Erwerb eines Bandes der Gesamtausgabe. Manche sammeln Publikationen der Nachlassverwaltung, wie früher Ablässe gesammelt wurden. Das Verdienst, das man sich im Himmel erwirbt, ist das gleiche. Dabei käme es viel mehr auf die Umgestaltung der Erde an, der vor allem der Mensch selbst mit seiner seelischen und leiblichen Organisation angehört. Wer ersetzt nicht gerne die Erweiterung seines geistigen Horizontes durch eine schöne Eurythmieaufführung. (Womit nicht gesagt werden soll, daß eine Eurythmieaufführung den geistigen Horizont nicht erweitern könnte. Sie kann es umso eher, je weniger ihr das Prädikat »schön« erteilt wird). Wer kleidet sich nicht lieber in Wolle und Seide, statt in seiner Seele Wärme und Geschmeidigkeit auszubilden? Wer reist nicht lieber einem Vortragsredner hinterher, als daß er sein Denken beweglich machte?

Numinos aufgeladene Ausstattungsgegenstände oder Kleidungsstücke haben nicht nur den Sinn, die Identität einer sektiererischen Gemeinschaft zu steigern, sie wirken auch, das ist die eigentliche Bedeutung des apotropäischen Zaubers, als Abwehrmittel gegen den schlechten Einfluß der bösen Außenwelt. Die gesunde Kleidung, die gesunde Ernährung, der gesunde Lebenswandel, die richtige Möblierung der Wohnung, die richtigen architektonischen Formen haben, neben ihren herkömmlichen Bedeutungen, auch diese numinosen Implikationen. Der in Arbeitszusammenhängen zu Beginn einer Sitzung verlesene Wochenspruch dient nicht nur der Konzentration des Geistes auf einen Inhalt, das Lesen hat auch die Nebenbedeutung einer magischen Handlung, durch die der gute Geist herabbeschworen und die bösen Geister vertrieben werden. Viele Merkmale ließen sich hier aufzählen.

Vereinzelte anthroposophische Mythologeme

Doch wenden wir uns einer Reihe von anthroposophischen Mythologemen zu und unterziehen sie einer kritischen Würdigung.

1. Die gebetsmühlenhafte Wiederholung Steinerscher Wortformeln verändert die Welt

Sehr verbreitet ist bei Menschen, die sich auf Steiner berufen, die Haltung, es sei möglich, praktische Fragen durch die Berufung auf Steiners Äußerungen zu beantworten. Oft wird sogar der Versuch unternommen, Streitigkeiten in praktischen Handlungsgemeinschaften durch den Rückgriff auf Texte zu schlichten, in denen man die endgültige Klärung anhängiger Fragen zu finden glaubt, Texte, die vor siebzig Jahren nicht geschrieben, sondern gesprochen worden sind. Sofern es sich um Fragen der Struktur der Wirklichkeit oder einzelner, eher statischer Bereiche der Wirklichkeit handelt, mag dies noch angehen, da sich die Strukturen der Wirklichkeit nicht so schnell ändern, wie das menschliche Bewußtsein oder die geschichtliche Welt. Wenn es sich aber um Fragen der praktischen Gestaltung der gesellschaftlichen und geschichtlichen Wirklichkeit handelt, dann erweist sich dieser Rückgriff auf siebzig Jahre alte Texte als äußerst fatal: er kann nur in einer totalen Ideologisierung der Wahrnehmungswelt und in einer Instrumentalisierung der zitierten Texte enden.

In dieser Haltung, die nicht realisiert, daß seit dem Wirken Steiners und unserer Gegenwart sieben Jahrzehnte verstrichen sind, von denen jedes das Gewicht eines Jahrhunderts besaß, spiegelt sich das Ausmaß der Glorifizierung und Dogmatisierung wider, die dem bedauerlichen Schulstifter seit seinem Ableben widerfahren ist. Ein wesentlicher Bestandteil der dogmatischen Tradition der anthroposophischen Bewegung beruht auf dieser Glorifizierung und - natürlich - Dogmatisierung. Dabei ist nicht so entscheidend, was sich in Steiners Schriften finden läßt, denn diese Schriften sind für eine Dogmatisierung wesentlich ungeeigneter, als was im uferlosen Meer seiner Vortragsäußerungen sedimentiert ist. In diesen läßt es sich leicht wildern. Sie enthalten, zu konkreten geschichtlichen Menschen, in konkreten geschichtlichen Situationen gesprochen, eine Überfülle von konkreten Aussagen eines Menschen, den man zum Meister erheben, dessen Worten eine zeit- und situationsunabhängige Bedeutung beigemessen werden kann. Hier wird ein entscheidendes anthroposophisches Mythologem greifbar, das sich auf die Interpretation der Worte Steines bezieht: diese Worte, heißt es, gelten auch noch in tausend Jahren. Dem gegenüber müßte ein erstes Paradoxon des lebendigen Denkens ausgesprochen werden: diese Worte galten, bereits nachdem sie gesprochen waren, schon nicht mehr. Über dieses Paradoxon müßte nachgedacht werden, bevor man es verwirft.

Ein ganz anderer Aspekt dieses Problems eröffnet sich, wenn man bedenkt, daß mit der fraglosen Annahme des Vorhandenseins einer Offenbarungsliteratur, auf die in jeder Lebenslage eine Berufung möglich sein soll, eine radikale geistige Entmündigung einhergeht. In dem Moment, in dem die mündlichen Darstellungen Steiners als Offenbarungen verstanden werden, wird das menschliche Denken auf einen vorneuzeitlichen Standpunkt zurückgeworfen. Man kann zum Beispiel der Auffassung begegnen, daß das denkende Begreifen ein unangemessenes Mittel sei, sich mit diesen Offenbarungen auseinanderzusetzen, ja, daß angesichts der Überfülle der geoffenbarten Wahrheiten ein sacrificium intellectus gebracht werden müsse. Diese Haltung verbindet sich in der Regel mit einem emotional geschwängerten Obskurantismus, für den nicht nur vieles dunkel ist, sondern der auch gerne im Dunkeln seine egoistischen Ziele verfolgt, die aber stets zu Interessen der Sache hochstilisiert werden. Statt die entsagungsvolle, wissenschaftliche Arbeit des Begriffs zu leisten, wird auf unbegreifliche Vorgänge verwiesen, in denen sich das Verstehen einstellen soll. Diffuse Floskeln werden zu Hilfe genommen wie »man muß mit diesen Dingen leben«, »man darf das alles nicht zu eng sehen«, »man muß es lebendig verstehen, nicht abstrakt«, »es kommt auf den Gesichtspunkt an« (ohne daß der Gesichtspunkt erläutert wird). Ja, es wird sogar behauptet, auf das Verstehen käme es gar nicht an, sondern auf die Wirkungen, die die Offenbarungen in der Seele dessen erzielen, der mit ihnen umgehe. Oder es wird die eigene fehlende Arbeit des Verstehens, die fehlende Kenntnis des Zusammenhangs mit der Bemerkung kaschiert, daß es eben Dinge gebe, die man nicht verstehen könne. Man muß sich klarmachen, was diese Behauptungen, die nur aus einer persönlichen Unfähigkeit entspringen und diese verdecken sollen, für eine fatale Wirkung hervorrufen. Es entsteht in der dogmatischen Tradition die Vorstellung, Anthroposophie sei etwas, das man gar nicht verstehen könne, sondern glauben müsse. Mit welcher Hartnäckigkeit sich dieser krude Irrtum bereits in der dogmatischen Tradition festgesetzt hat, zeigt die Tatsache, daß eines der verbreitetsten Vorurteile über die Anthroposophie eben in dieser Ansicht besteht, man könne sie nicht verstehen. Wären aber alle Angehörigen der Tradition von der Überzeugung durchdrungen, daß nichts besser zu verstehen ist, als die Anthroposophie und lebten diese Überzeugung in ihren Denk und Sprechhandlungen auch dar, dann sähe die anthroposophische Bewegung und Gesellschaft heute erheblich anders aus. Wer dagegen auf die eigene Urteilsbildung verzichtet, verzichtet gerade auf den wesentlichen Inhalt seiner Ichexistenz. Denn in der individuellen Urteilstätigkeit offenbart sich das Ich des Menschen. Wer sich von der individuellen Urteilstätigkeit verabschiedet, verabschiedet sich von seinem Ich und damit von seiner Selbständigkeit, seiner Autonomie, seiner Freiheit. Er kann in der Folge nur in die Welt des abstrakten Vorstellens, in die Welt seiner Emotionen und Begierden absinken, aus denen die Gespenster und Dämonen der Entselbstung auftauchen. Wer auf die eigene Urteilsbildung und die Anstrengung des Verstehens verzichtet, verfällt den mächtigen Suggestionen der Tradition und ihrer Rituale. In das geistige Vakuum, das irgendwie ausgefüllt werden muß, treten das Gemeinschaftserlebnis und die numinos überhöhte Manaspersönlichkeit des geistigen Führers ein. Von der Gruppe, ihren Gruppenurteilen (Traditionen) und dem Idealbild des geistigen Führers, das als Phantasievorstellung in der Seele lebt, wird die Leere ausgefüllt, die der Rückzug des Ich aus der Urteilsbildung hinterläßt.

Das Abgleiten in die geistige Entmündigung läßt dem Einzelnen nur zwei Optionen des Handelns offen: die Identifikation mit den normativen Vorstellungen der Gruppe oder die Identifikation mit dem geistigen Führer. Die Identifikation mit den normativen Vorstellungen der Gruppe, also mit der Summe der dogmatischen Traditionen, führt zu den sattsam bekannten Erscheinungen anthroposophischer Macht- und Ämterpolitik. Gremien von Verantwortungsträgern werden generell durch außerdemokratische Verfahren besetzt (die sog. Kooptation, die eine der restaurativsten und konservativsten Formen der Patronage ist). Demokratische Kontrollinstanzen gibt es nicht. Die Mitglieder von Vereinigungen sind der Politik ihrer Vorstände auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Die pseudodemokratischen Abläufe auf Versammlungen werden zur Farce, die Mitgliedschaft zu einem Club von Claqueuren. Die Einzelnen, die sich mit den Zielen der Gruppe identifizieren, sehen den Sinn ihrer Existenz in der Erhaltung des jeweiligen Zustandes, jeder Versuch einer Veränderung, beziehe er sich nun auf die administrative oder auf die innovative Ebene, wird als Angriff auf den status quo empfunden und zunächst einmal abgeblockt. Die Amtsträger werden danach kooptiert, ob sie gelungene, berechenbare Inkorporationen kollektiver Urteile, wandelnde anthroposophische Schablonen und nicht ob sie unbequeme Initiatoren des noch nicht Dagewesenen, des gänzlich Neuen, eben Träger des Geistes sind. So walten die Thyrsusträger, denen der Gott fehlt, ihres Amtes und sorgen dafür, daß der Geist auch nicht da weht, wo er will.

Die andere Option, die von den weniger Angepaßten ergriffen wird, aber genauso zum Untergang der individuellen Initiativfähigkeit führt, besteht in der Identifikation mit dem geistigen Führer und damit der psychischen Inflation. Möglicherweise waltet diese Identifikation sogar bloß kaschiert, unterdrückt in der Schablone eines Amtsträgers und macht sich lediglich in seinem penetranten, hartnäckigen Machtanspruch geltend, für alles und jedes kompetent zu sein, allwissend und allkönnend, so wie der große Stiftungseingeweihte. Oder aber die Identifikation führt zu einem seelischen Durchbruch und zu einer pathologischen Aufblähung der subjektiven Ichpersönlichkeit. Solche Menschen halten sich dann mindestens für Eingeweihte, betreiben ihre okkulten Forschungen, verkünden ihre Erkenntnisse auch denen, die sie gar nicht hören wollen und ziehen Scharen von Anhängern hinter sich her, die genauso wie ihre Gurus Verzicht auf ihre selbständige Urteilsbildung geleistet haben. Während dieser Verzicht bei ihren Gurus aber zu einer Überschwemmung mit numinos aufgeladenen Seeleninhalten führt, die die letzten Reste der bürgerlichen Persönlichkeit hinwegspülen, versetzt er die Anhänger in einen halbsomnambulen Zustand der infantilen Willfährigkeit und urteilslosen Gläubigkeit. Solche der Inflation verfallenen Individuen sind aber, wenn ihre Psychose voll zum Durchbruch kommt, für die herkömmliche dogmatische Tradition meist untragbar und werden aus der bestehenden Gemeinschaft in einem Sündenbockritual ausgestoßen. Der eigentliche Grund für die Ausstoßung besteht dabei weniger im psychotischen Zustand der betreffenden Individuen und in ihrer Behandlungsbedürftigkeit, als in der Gefährdung der Tradition durch die mit dem Anspruch der Neuoffenbarung auftretende Verkündigung. Eine solche Neuoffenbarung könnte nur unter Verzicht auf die Summe der tradierten Vorstellungen bejaht werden, was natürlich undenkbar ist, weil in diesem Moment die ganze, ohnehin labile Konstruktion komplizierter gegenseitiger Bestätigungen in sich zusammenfallen würde.

2. Das Beschwören kollektiver Endzeitpsychosen ersetzt die Selbstkritik

Ein anderes anthroposophisches Mythologem besteht in gewissen Anschauungen, die die dogmatische Tradition aus mündlichen Äußerungen Steiners konstruiert hat. Es bezieht sich auf das herannahende Jahrtausendende und die Rolle der Angehörigen der anthroposophischen Gemeinschaft bei den geschichtlichen Ereignissen dieses Jahrtausendendes. Die bevorstehenden Ereignisse werden dabei in den düstersten Farben ausgemalt, die Rolle der anthroposophischen Gemeinschaft ins Unvorstellbare verklärt. Im wesentlichen läuft das Mythologem darauf hinaus, daß der Untergang der Welt bevorstehe, und daß allein das kleine Häufchen der anthroposophisch Strebenden diesen Untergang werde verhindern können. Diese typische Endzeitpsychose hat, wie alle Pychosen, in den realen Gegebenheiten der Welt nicht den geringsten Rückhalt. Warum sollte heute eher der Weltuntergang bevorstehen, als zur Zeit der Völkerwanderung oder zur Zeit der Pestepidemien in Europa oder zur Zeit der Hunnenstürme oder des Dreissigjährigen Krieges oder der Weltkriege dieses Jahrhunderts? Andererseits: Wo in der gesamten anthroposophischen Bewegung ist gegenwärtig eine Wirksamkeit einzelner Individuen erkennbar, die einen solchen Einfluß auf die Weltverhältnisse nehmen könnte, der geeignet wäre, den Untergang des Abendlandes, wenn nicht gar der Welt, abzuwenden? Wo sind die Menschen tätig, die das Handeln der UNO, des Weltsicherheitsrats, der großen Weltmächte in Politik, Wirtschaft und Kultur unter anthroposophischen Gesichtspunkten beeinflussen? Oder geht es möglicherweise gar nicht um die Abwendung des Untergangs, sondern um das Weiterleben nach dem Untergang? Glaubt man, im Stile Manus oder Noahs die Apokalypse des dritten Jahrtausends überstehen zu können und auserwählt zu sein, als nachsintflutliche Menschheit den Aufgang einer neuen Kultur herbeizuführen?

In dieser Endzeitpsychose, die mit allen möglichen Ingredienzien aus der Geistes- und Philosophiegeschichte der Menschheit angereichert wird (z.B. Aristotelikern und Platonikern, Manichäern und Rosenkreuzern), kompensiert sich in Wahrheit die totale faktische politische Abstinenz der anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft. Abgesehen von einigen wenigen, die man an einer Hand abzählen kann, nimmt die anthroposophische Bewegung eine betont apolitische Haltung ein, darin der weltfeindlichen Haltung der frühen Christen verwandt, ehe das Christentum durch Konstantin in den Rang einer Staatsreligion erhoben wurde. Auch hier tritt wieder die gespaltene Struktur des sektiererischen Bewußtseins zutage. Denn einerseits wird weniges so sehr verteufelt, wie gerade das öffentliche Eintreten für die eigenen Überzeugungen in der Politik, andererseits weiß man aber mit stolzgeschwellter Brust zu erzählen, daß dieser oder jener Politiker »auch ein Anthroposoph sei.« Man kann sich zwischen Bewunderung und Abscheu nicht entscheiden oder besser gesagt, man verabscheut etwas, solange es nicht etabliert ist und bewundert es, sobald es im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht. Diese Erscheinung ist in der neueren Psychologie als »underdog-Syndrom« bekannt.

Mit der kollektiven Endzeitpsychose verbunden ist ein missionarisches Sendungsbewußtsein, das, ebenso wenig wie die übrigen Vorstellungsinhalte der Psychose, in den tatsächlichen historischen Begebenheiten einen Rückhalt hat. Es wurde oben bereits im Zusammenhang mit der Vorstellung der Rettung der Menschheit erwähnt. Man könnte geradezu behaupten, daß - im Sinne einer kompensatorischen Gesetzmäßigkeit - das Geltungsbewußtsein im umgekehrt proportionalen Verhältnis zur tatsächlichen Bedeutung eines Menschen oder einer geistigen Strömung wächst. Das heißt, je geringer die tatsächliche Wirkung dieser Strömung in der konkreten Politik und Geschichte ist, um so größer erscheint den Angehörigen dieser Strömung ebendiese Wirkung, beziehungsweise der Auftrag, den sie von der Weltenlenkung erhalten hat. Diese Kompensation eines notorisch verdrängten Minderwertigkeitskomplexes kommt in der hochstaplerischen Rede von der »Weltgesellschaft« zum Ausdruck. Man ist eine Weltgesellschaft, weil man sogar in Chile und Kanada, in Südafrika und Australien 10 Mitglieder zählt. Man hat eine »Weltmission«, man ist mit der »Rettung der Erde« beauftragt, obwohl es die Bewältigung der privaten Schwierigkeiten in der eigenen Familie oder der beruflichen Aufgaben auch schon täte.

Endzeitpsychose und missionarisches Sendungsbewußtsein sind nur der letztlich zum Scheitern verurteilte Versuch, die Notwendigkeit einer radikalen Selbstkritik zu umgehen. Eine nüchterne Beurteilung der Sachlage müßte sich zugestehen, daß eine Weltgesellschaft mit einem Jahresumsatz von ein paar Millionen eben keine Weltgesellschaft, sondern ein bescheidener Verein ist und daß die Tatsache, daß in Südafrika oder Moskau ein Lehrersseminar steht, noch lange keine »Weltmission« dokumentiert. Es wird aber nichts so sehr verabscheut, wie gerade diese gesellschaftliche Selbsterkenntnis, zu der auch die Aufarbeitung der Geschichte dieser Gesellschaft und des von vielen begangenen gegenseitigen Unrechts gehören würde. Es würde dazu auch eine nüchterne Bestandaufnahme zu der Frage gehören, was die Gesellschaft eigentlich anstrebt und was sie vom Angestrebten erreicht hat. Statt dessen werden »Weltkonferenzen« abgehalten, die lediglich dokumentieren, daß die Teilnehmer unfähig sind, Gedankenkontrolle zu üben und sich in der Plenumsdiskussion auf ein Thema zu konzentrieren. Genauso wenig wie die Gesellschaft als Ganze Selbsterkenntnis übt (die zum Beispiel dadurch dokumentiert werden könnte, daß sie einen Forschungsauftrag zur Geschichte der anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung erteilt), wird sie aber auch von den Einzelnen besonders geschätzt. Es tauchen in den Bewußtseinen der Einzelnen notgedrungen dieselben Phänomene auf, die auch in der Gesellschaft beobachtbar sind, weil diese nur eine Potenzierung der individuellen Probleme zu bieten hat. Hier sei ein zweites Paradoxon des lebendigen Denkens formuliert: solange die Mitglieder der anthroposophischen Gesellschaft nicht erkennen, daß der Ursprung der Welt das menschliche Erkennen ist, wird die anthroposophische Gesellschaft nie eine Bedeutung in der Welt erlangen. (Vgl. zu diesem Mythologem den folgenden Beitrag von Thomas Meyer).

3. Das gutgläubige Beteuern einer Weltmission verhindert das Absinken in die soziale, moralische und geistige Bedeutungslosigkeit

Die anthroposophische Bewegung und Gesellschaft zehrt von einem Erbe, das zur Neige geht: es ist das Lebenswerk eines einzigen Mannes. Je mehr Zeit aber zwischen seinem Wirken auf Erden und der jeweiligen Gegenwart verstreicht, um so fragwürdiger wird die Berufung auf dieses Erbe. Bald werden hundert Jahre seit dem Ableben Steiners verstrichen sein. Will man dann immer noch die von ihm entworfenen Ansätze für eine Neugestaltung des menschlichen Lebens reproduzieren? Oder besinnt man sich auf den Geist, aus dem er gewirkt hat, in dem der unerschöpfliche Quell der Umgestaltung und Neugestaltung zu suchen ist? Der Geist aber ist formlos. Das heißt, die von Steiner entwickelten Formen des Ausdrucks, seien es jetzt die sprachlichen, gedanklichen oder künstlerischen, sind nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist die ideelle Dimension, aus der diese Formen entsprungen sind. Dasselbe gilt für die Anthroposophische Gesellschaft: sie ist auch eine Form, die den ideellen Gestaltungsintentionen Steiners entsprungen ist. Man müßte die bestehende Gesellschaft und die von ihr tradierten Formen wie eine Folie vom Lebenswerk Steiners ablösen, um dahinter die Intentionen zu erkennen. Geprägte Formen verlieren nach spätestens drei Generationen ihre Legitimation. Wer dies nicht erkennt, den bestraft das Leben.

An dem unausweichlichen Absturz in die moralische, geistige und soziale Bedeutungslosigkeit kann die Bewahrer des Gewordenen auch das gutgläubige Beteuern ihrer Weltmission nicht hindern. Über die Bewahrer des Erbes, über die Gralshüter und Beteuerer der eigenen Bedeutung wird der Weltgeist achtlos hinweggehen, denn er ist nur an der wirklichen Bedeutung interessiert. Wer nicht auf der Höhe seiner Zeit steht, kann nicht den Anspruch erheben, über diese Zeit zu urteilen oder sie gar zu leiten. Was für eine Vermessenheit liegt doch darin, daß irgendwelche verstaubten Schriftgelehrten, die die Gesamtausgabe auswendig können, glauben, sie könnten der Welt vorschreiben, wie sie sich zu entwickeln hat, damit die Entwicklung zu ihrem Heil ausschlägt. Nur eine lebendige Anthroposophie kann in der Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft mitreden. Eine solche lebendige Anthroposophie sucht man aber bei den philologischen und antiquarischen Reproduktionsspezialisten vergeblich.

Nicht das atemlose Beteuern der eigenen Bedeutung ist also das Entscheidende, sondern der wirkliche Anschluß an den Zeitgeist. Dieser wirkliche Anschluß dokumentiert sich unter anderem auch darin, wie weit es einem gelingt, zu erkennen, daß der Zeitgeist auch außerhalb der engen Grenzen des eigenen Bewußtseins und der eigenen Institutionen wirkt. Wer sagt uns denn, daß nicht auch in buddhistischen, islamischen oder katholischen Denkern heute jener Zeitgeist wirkt, der etwas zum gedeihlichen Fortschritt der Menschheit beitragen möchte? Wer kann dies entscheiden, bevor er sich mit den betreffenden Denkern intim vertraut gemacht hat? Je geringer aber das Interesse ist, das wir für die Welterscheinungen aufbringen, um so sicherer ist unser Absinken in die soziale, geistige und moralische Bedeutungslosigkeit.

Das Paradoxon des lebendigen Denkens zu diesem Mythologem müßte lauten: allein die rückhaltlose Selbsthingabe an den Weltzusammenhang kann die eigene Bedeutung für die Welt erhöhen.

4. Die mangelnde Präsenz anthroposophischer Positionen in der wissenschaftlichen Diskussion ist ausschließliche Folge einer Ignoranz der Wissenschaften

Sicherlich liegt eine nicht geringe Schuld, was diese mangelnde Präsenz anbelangt, auf seiten des etablierten, akademischen Wissenschaftsbetriebs. Lange Zeit galt es als anrüchig, sich mit der Anthroposophie auch nur in einer Dissertation zu beschäftigen, es sei denn, die Dissertation hatte den Zweck, die Anthroposophie zu verunglimpfen und ins unwissenschaftliche Abseits zu stellen. Seit einigen Jahren scheint dieses Eis gebrochen. Diese Wende ist zum größten Teil ein Reflex der Methodendiskussion innerhalb der etablierten, akademischen Wissenschaften selbst. Seit Heisenberg, Bohr, Kuhn, Lakatos und Feyerabend (Gott hab ihn selig), seit der Entwicklung der Katastrophen- und Chaostheorie, seit der Fuzzylogik und der Theorie der Fraktale beginnt man einzusehen, daß die Welt komplexer ist, als sie sich mechanistische und positivistische Theoretiker dachten. Zudem mag in Deutschland die Ausbreitung der sog. Tochterbewegungen dazukommen, die es ratsam erscheinen läßt, sich mit deren theoretischem Hintergrund zu beschäftigen. Daß diese Untersuchungen meist nicht sehr günstig für den theoretischen Hintergrund ausfallen, liegt allerdings nicht am theoretischen Hintergrund der Tochterbewegungen, der Anthroposophie, sondern an den beschränkten Methoden derjenigen, die sie untersuchen. Doch ist wiederum dieses Faktum, daß es offenbar schwierig ist, auf seiten der etablierten Wissenschaften ein Verständnis der anthroposophischen Wissenschaftlichkeit zu entwickeln, Ausdruck für die Tatsache, daß sich innerhalb der anthroposophischen Gesellschaft so gut wie niemand ernsthaft für diese Frage intereßiert. Dem Verfasser dieses Aufsatzes sind weniger als ein Dutzend Persönlichkeiten namentlich bekannt, die überhaupt ein Bewußtsein von der Bedeutung dieser Fragestellung haben, geschweige, daß sie darüber publizieren. Das war aber in der Vergangenheit noch viel schlimmer. So gut wie nirgends ist feststellbar, daß sich die inner-anthroposophische Diskussion (sofern von einer solchen überhaupt geredet werden kann) auf die wissenschaftsmethodische Diskussion dieses Jahrhunderts bezöge, daß sie gar von dieser wahrgenommen würde. Noch viel weniger existiert so etwas wie eine wissenschaftstheoretische Gesamtdarstellung der anthroposophischen Erkenntnismethoden, die im Zusammenhang mit der allgemeinen erkenntnistheoretischen Diskussion entwickelt würde. Anthroposophisch orientierte Verlage wenden stets ein, daß sich solche Bücher nicht verkaufen ließen, weil sich niemand dafür interessiere. Es kann auch nicht die Aufgabe eines marktwirtschaftlich geführten Unternehmens sein, Grundlagenforschung zu finanzieren. Um so mehr wäre es Aufgabe der Gesellschaft, deren Verpflichtungen ja nicht nur in der Seelsorge bestehen (Pflege des seelischen Lebens), sondern auch in der wissenschaftlichen Forschung, ein solches Vorhaben zu verfolgen und zu ermöglichen. Die Gesellschaft versteht sich hingegen mehr und mehr als anthroposophisch orientierte Bauhütte und betreibt gigantische Bauvorhaben, durch die Hüllen für nicht vorhandene Inhalte geschaffen werden. Diese Entfremdung der Gesellschaft von ihren eigentlichen Zwecken erschwert aber den gegenwärtigen Wissenschaften auch den Zugang zur Anthroposophie erheblich.

Der hier beschriebene Mangel ist in erster Linie ein Ergebnis der innerhalb der dogmatischen Tradition der anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft jahrzehntelang gepflegten, extremen Wissenschaftsfeindlichkeit. Diese Wissenschaftsfeindlichkeit, an deren Entstehung der gefeierte Begründer der Anthroposophie allerdings nicht ganz unschuldig ist, hat verhindert, daß die teilweise beachtlichen Revolutionen und Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung in diesem Jahrhundert überhaupt zur Kenntnis genommen wurden. Die Rezeption von Wissenschaft und Wissenschaftskritik steht in vielerlei Beziehung innerhalb der anthroposophischen Diskussion noch auf dem Stand des Jahrhundertbeginns. Auf dem Stand eben, auf dem Steiner angekommen war, als er starb. Denn viele seiner Schüler nehmen die Existenz von Wissenschaften sowieso nur durch die Lektüre seiner mündlichen Darstellungen zur Kenntnis. Daß dies nicht gerade die ideale Voraussetzung für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Wissenschaften ist, versteht sich von selbst. Interessanterweise verbindet sich aber auch hier mit dem Grade der Unkenntnis der etablierten Wissenschaften ein Eigendünkel und Größenwahn, der um so mehr wächst, je weniger faktische Kenntnisse diejenigen besitzen, die meinen, die modernen Wissenschaften verurteilen zu müssen.

Es ist klar, daß auf diesem Boden keine Arbeit erwachsen konnte, die von den akademischen Wissenschaften hätte ernstgenommen werden müssen. Die sog. wissenschaftliche Arbeit auf anthroposophischem Feld befindet sich zudem häufig, was die praktizierten Methoden anbelangt, auf dem Niveau der frühchristlichen Apologetik und Patristik. Das heißt, unter Wissenschaft wird die Auslegung und verstandesmäßige Verknüpfung heiliger Texte verstanden. Die einzigen wissenschaftlichen Fragen ergeben sich bei diesem Stand der wissenschaftlichen Entwicklung notgedrungen aus unterschiedlichen Interpretationen der Offenbarungstexte. Zwar haben über Interpretationsfragen noch keine Konzilien stattgefunden, aber manche anthroposophische Arbeitszusammenkünfte tragen zumindest schon eine synodale Signatur. Hierzu sei ein weiteres Paradoxon des lebendigen Denkens formuliert: die Überwindung der Ignoranz der etablierten Wissenschaften gegenüber der Anthroposophie ist nur durch Überwindung der eigenen Ignoranz gegenüber diesen Wissenschaften zu erreichen.

5. Die mangelnde Präsenz anthroposophischer Positionen im öffentlichen politisch-kulturellen Leben ist Folge einer Verschwörung dieser Öffentlichkeit gegen die Anthroposophie

Erheblicher Verbreitung innerhalb der anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung erfreuen sich sog. Verschwörungstheorien. Diese Theorien sind ein Ersatz für die Erkenntnis wirklicher Zusammenhänge. Wo die Einsicht in die tatsächlichen Gesetzmäßigkeiten des wirtschaflichen, politischen und geschichtlichen Lebens fehlt, wird der Scheinzusammenhang namens Verschwörung postuliert. Insofern ist die Verschwörungstheorie nur Ausdruck eines Defizits der eigenen Erkenntnisbemühungen. Wo die Einsicht in die wirkliche Gesetzmäßigkeit des Geschehens fehlt, postuliert man einen verborgenen Zusammenhang der Verschwörung. Statt Marktmechanismen, statt Egoismen von Weltkonzernen, statt politische Willensbildungen und soziologische Größen sieht man in der Geschichte das allgegenwärtige Wirken von Verschwörern, die von widersacherischen Geistern besessen sind. Die Verschwörungstheorie ist sozusagen die spiritualistische Ausformung der materialistischen Zufallstheorie. Während in der Zufallstheorie die fehlende Einsicht in die zusammenhangsbildende Gesetzmäßigkeit durch das Postulieren des Zufalls verdeckt wird, verbirgt man dieses Fehlen in der Verschwörungstheorie durch die Annahme verborgener Willensbildungen, deren Erkenntnis aber umso weniger möglich sein soll, je verschworener die Verschwörer sind.

Die Verschwörungstheorie erleichtert auch das Vermeiden der Erkenntnis der eigenen Mängel. Denn statt die Gründe für die mangelnde Präsenz im politischen und kulturellen Alltagsgeschäft im eigenen Unvermögen und der eigenen Untätigkeit zu suchen, findet man eine bequeme Erklärung dieser mangelnden Präsenz im Walten verborgener Mächte, die das Durchdringen der eigenen Intentionen absichtsvoll verhindern. Statt sich zu prüfen, inwiefern man tatsächlich sein Ohr am Puls der Zeit hat, setzt man voraus, das eigene Scheitern sei Folge jener Verschwörung.

Eindringlichere kritische Selbstprüfung würde hingegen zeigen, daß die wahre Ursache dieser mangelnden Präsenz in der extremen Kultur- und Politikfeindlichkeit zu suchen ist, von der die dogmatische Tradition der anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft lange Zeit durchdrungen war und noch vielfach durchdrungen ist. Die modernen Medien und die moderne Politik werden geradezu als Inkorporationen des Bösen aufgefaßt. Dieses anachronistische Maschinenstürmertum führt zu absurden Diskussionen darüber, ob es erlaubt sei, ein Eurythmievideo zu drehen. Anstatt die Entwicklungen der modernen Technik in den Dienst des eigenen Geistes zu stellen, werden sie verteufelt. Doch die puristische Feindschaft gegenüber Technik, Medien und Politik führt dazu, daß man erst Recht Opfer ihrer Segnungen wird. Fehlende Vertrautheit führt zu Dilettantismus. Puristische Ablehnung zur Bildung von weltfremden Provinzen der Seele und des Lebens, in denen eine Vergangenheit bewahrt wird, die ihre Existenzmöglichkeit nur der Entwicklung ebenjener Technik verdankt, die man offiziell verteufelt. Lange bevor die erheblichen ideologischen Widerstände gegen die Einführung der Datenverarbeitung in der Administration des Goetheanum überwunden waren, wurden die Bücher der Gesamtausgabe in der Druckerei bereits mithilfe von Computertechnologie hergestellt. Die Waldorfkindergärtnerin, die guten Gewissens ihr Demetersüppchen braute, verdankte ihre warmen Füße den in Taiwan hergestellten Gesundheitsschuhen, die dank der modernen Technologie so preiswert zu ihr gelangten.

Besonders stark ist die Ablehnung der Medien. Diese Ablehnung ist einerseits begreiflich. Denn nicht nur Neil Postman hat mittlerweile erkannt, daß die sog. Massenkommunikationsmittel vor allem eines sind: Massenverblödungsmittel. Aber andererseits ist es eine unbestreitbare Tatsache, daß diese Massenverblödungsmittel die eigentliche Weltmacht darstellen. Sie heben Präsidenten auf den Sessel und stürzen sie, sie lösen Kriege aus oder verhindern sie. Sie bestimmen das Weltbild und das Weltgeschehen. Wäre es da für eine geistige Bewegung, die sich eine »Weltmission« zuschreibt, nicht angebracht, die eigentliche Weltmacht in ihren Dienst zu stellen? Ist nicht die wahre Aufgabe der wiederauferstandenen Manichäer die, das Böse zu erlösen? Wie aber will man das Böse erlösen, wenn man nicht in seinen Rachen steigt?

Dasselbe gilt für die viel geschmähte Politik. Der Satz in den »Prinzipien« der Anthroposophischen Gesellschaft, daß sie Politik nicht als in ihren Aufgaben liegend betrachte, hat viele Mitglieder der anthroposophischen Gesellschaft zu dem verhängnisvollen Schluß geführt, sich jeglicher politischen Betätigung vollständig enthalten zu müssen. Diese betonte politische Enthaltsamkeit hat nicht nur zu den verwerflichen Verstrickungen mancher Angehörigen der Gesellschaft und Bewegung in die Umtriebe der Nationalsozialisten geführt, sondern auch dazu, daß heute viele aufgrund ihrer Blauäugigkeit politisch besonders manipulierbar sind. Seit dem Scheitern der Dreigliederungsbewegung, so ein verbreitetes Vorurteil, sei allein das kulturelle Leben das rechtmäßige Betätigungsfeld der Anthroposophie. Das hat zur Folge, daß bis heute das öffentliche politische Leben ein Tummelplatz der Geistlosigkeit geblieben ist und daß die kulturerneuernden Potentiale der Anthroposophie über die Schiene des Parlamentarismus fast völlig unfruchtbar geblieben sind. Das Paradoxon des lebendigen Denkens zu diesem anthroposophischen Mythologem müßte demnach lauten: erst wenn sich die anthroposophische Tradition von der puristischen Verschwörung gegen die Öffentlichkeit befreit, wird sie Eingang in diese Öffentlichkeit finden.

6. Die anthroposophische Gesellschaft ist mit der anthroposophischen Bewegung deckungsgleich

Ein weiteres Mythologem betrifft die Beziehung von anthroposophischer Gesellschaft und Bewegung. Die anthroposophische Gesellschaft nimmt für sich in Anspruch, seit der 1994 70jährigen »Weihnachtstagung«, nicht nur die legitime Hüterin der anthroposophischen Bewegung und des anthroposophischen Geistesgutes zu sein, sondern sie hält sich auch für identisch mit der anthroposophischen Bewegung. Diese Ansicht gehört zu den Erzdogmen der anthroposophischen Tradition. Doch was für Steiner selbst galt, gilt nicht für seine Schüler, Anhänger oder Nachfolger. In Steiner war zeit seines Lebens die anthroposophische Bewegung verkörpert. Mit der Übernahme des Vorsitzes der Anthroposophischen Gesellschaft anläßlich der Weihnachtstagung floß die anthroposophische Bewegung selbstverständlich mit der anthroposophischen Gesellschaft zusammen. Diese Verbindung bestand, solange Steiner lebte. Die große Frage ist allerdings, ob sie über Steiners Tod hinaus Bestand hatte. Denn während er selbst natürlich wie kein anderer den Zusammenhalt gerantieren konnte, kann dies von niemandem behauptet werden, der nach seinem Tode in der Anthroposophischen Gesellschaft wirkte. Ja, wer auch nur einigermaßen unbefangen die Geschichte der Gesellschaft nach dem Tode Steiners verfolgt, muß zugestehen, daß die Identität von Gesellschaft und Bewegung nicht mehr als ein frommes Märchen ist. Bereits unmittelbar nach Steiners Tod begann die Sezession, die sich bis in die 80ger Jahre fortsetzte und heute in ihren Folgen längst nicht aufgehoben ist. Wer also angesichts der Zerstreuung der anthroposophischen Bewegung in alle Winde nach dem Tode Steiners von der Einheit dieser Bewegung mit der Gesellschaft spricht, verfolgt offenkundig eine politische Tendenz. Diese Tendenz kann nur darin bestehen, sich selbst für den einzig legitimen Repräsentanten dieser Bewegung zu erklären. Damit ist eigentlich, bevor jemand darüber geredet hat, bereits das anthroposophische Papsttum inauguriert. Wenn heute von der »Goetheanumleitung« der Anspruch erhoben wird, die »Weltgesellschaft« als das Sammelbecken der anthroposophischen »Weltbewegung« zu leiten, dann wird nichts anderes praktiziert, als anthroposophischer Katholizismus.

Im Interesse des lebendigen Denkens sollte über folgende These nachgedacht werden: ob die anthroposophische Gesellschaft nicht eine Gesellschaft zur Verhinderung der anthroposophischen Bewegung geworden ist?

7. Das Goetheanum ist eine Freie Hochschule für Geisteswissenschaft

Von einem »wie« läßt sich kein Iota rauben. Noch niemandem scheint aufgefallen zu sein, daß Steiner 1924 eine äußerst subtile Formulierung in die »Prinzipien« der anthroposophischen Gesellschaft aufnahm. Eine Passage dieser Prinzipien beschäftigt sich mit der Frage, wer Mitglied dieser Gesellschaft werden könne. Sie lautet: »Ihr Mitglied kann jedermann ohne Unterschied der Nation, des Standes, der Religion, der wissenschaftlichen oder künstlerischen Überzeugung werden, der in dem Bestand einer solchen Institution, wie sie das Goetheanum in Dornach als freie Hochschule für Geisteswissenschaft ist, etwas berechtigtes sieht.« Die Subtilität der Steinerschen Formulierung besteht darin, daß er das Goetheanum in Dornach nicht als die Institution des freien Geisteslebens kat' exochen hinstellt, sondern nur als Beispiel für eine solche Institution. Es heißt nämlich nicht:»Wer im Bestand des Goetheanum in Dornach als freie Hochschule für Geisteswissenschaft etwas berechtigtes sieht...«, sondern: »Wer in dem Bestand einer solchen Institution, wie sie das Goetheanum ist...« Dieses wie, von dem sich kein Iota rauben läßt, birgt bedeutende gedankliche Perspektiven in sich. Zum Beispiel diese: Nicht die Existenz des Goetheanum schlechthin ist der Grund für den Eintritt in die Gesellschaft, sondern die Tatsache, daß das Goetheanum eine freie Hochschule für Geisteswissenschaft ist. Das Goetheanum kann nur, insofern es eine freie Hochschule für Geisteswissenschaft ist, Grund für den Eintritt in die anthroposophische Gesellschaft sein. Nicht die Existenz des Goetheanum schlechthin ist dieser Grund. Wer also meint, er könne sagen, daß es das Goetheanum gibt, ist Grund Mitglied zu werden, der täuscht sich. Vielmehr legitimiert diesen Schritt allein die beispielhafte Verwirklichung der freien Hochschule für Geisteswissenschaft durch das Goetheanum. Was aber, wenn diese Idee, zu deren Pflege die Gesellschaft begründet wurde (»daß der heutigen Zivilisation die Pflege einer solchen Wissenschaft fehlt. Die Anthroposophische Gesellschaft soll diese Pflege zu ihrer Aufgabe haben. Sie wird diese Aufgabe so zu lösen versuchen, daß sie die im Goetheanum zu Dornach gepflegte anthroposophische Geisteswissenschaft...zum Mittelpunkte ihrer Bestrebungen macht«, heißt es in den Prinzipien von 1924) vom heutigen Goetheanum gar nicht verwirklicht wird? Wenn das heutige Goetheanum im wesentlichen ein Architekturdenkmal ist? Auf diese Möglichkeit deutet nicht nur die Tatsache, daß Steiner die Hochschule gar nicht zu Ende einrichten konnte, daß diese selbst ein Torso geblieben ist, sondern auch die Tatsache, daß in dieser »Hochschule« bis heute keine produktive geistige Forschungsarbeit im engeren Sinne geleistet wird. Von den vorgesehenen drei Klassen dieser Hochschule wurde von Steiner nur eine eingerichtet und auch diese nur fragmentarisch. Steiner ernannte keinen Nachfolger in der Leitung der Hochschule, obwohl dies in den Statuten von ihm selbst vorgesehen worden war. Steiner unterschied im entsprechenden Passus der Prinzipien deutlich zwischen Mitarbeitern und einem evt. Nachfolger. Man kann also nicht behaupten, mit seinem Tod sei die Leitung der Hochschule automatisch auf die übrigen Vorstandsmitglieder übergegangen (sog. Kollegialprinzip). Außerdem waren sich gerade diese bekanntlich nicht über die Leitung der Hochschule einig. Die Idee der Hochschule verflüchtigte sich bereits nach dem Tode Steiners in den emotionalen Verwirrungen der Mitglieder des Gründungsvorstands. Sie ist bis heute nicht zurückgekehrt und es ist auch zu bezweifeln, ob sie dies jemals tun wird. Ein weiteres Indiz dafür ist die Tatsache, daß jahrzehntelang die ausdrücklich als solche apostrophierte Hochschularbeit in der Vorlesung der sog. Klassentexte bestand, die als geheiligte und geheime Überlieferung gehütet wurden. Für die Vorlesung dieser Klassentexte wurde sogar eigens das Amt der Lektoren geschaffen, ein besonders exklusiver Klub innerhalb der anthroposophischen Gesellschaft, von denen sich nicht wenige durch einen ausgesprochenen Eigendünkel auszeichnen, der merkwürdigerweise mit geistiger Substanzlosigkeit gepaart ist. Eine wirklich produktive Arbeit wurde aber in dieser Hochschule nie geleistet. Wie wäre dies auch möglich gewesen, hätte doch jeder, der auf eine solche Produktivität Anspruch erheben wollte, sofort die ungeteilte Entrüstung aller anderen hervorgerufen.

Bedenkenswert im Sinne der hier gemeinten Symptomatologie scheint auch die Hysterie, die in gewissen Kreisen der anthroposophischen Gesellschaft angesichts der bevorstehenden Veröffentlichung der sog. Klassentexte durch die Nachlaßverwaltung ausgebrochen ist. Diese Veröffentlichung kam für viele Träger des hochschulichen Exklusivitätsanspruchs einem spirituellen Menetekel gleich, waren doch diese Texte bis zu ihrer Veröffentlichung der eifersüchtig gehütete Besitz der »Klassenleser«. So wenig hatte sich ein selbstverständlicher Grundsatz wissenschaftlichen Verkehrs: die allgemeine Zugänglichkeit wissenschaftlicher Arbeitsgrundlagen in der sog. Hochschule verbreitet, daß mit der Veröffentlichung dieser Texte der Untergang der Hochschule zu drohen schien. Durch ihre Hysterie und die intellektuelle Akrobatik, die sie zur Begründung ihrer Ablehnung der Veröffentlichung aufboten, decouvrierten sich die Gralshüter einer verstaubten Tradition nachhaltig und legten ihre geistige Bedürftigkeit bloß. Es ist ein unerträglicher Zustand, daß es selbst heute, 70 Jahre nach dem Tode Steiners noch höchst bedeutsame Texte des Begründers der Anthroposophie gibt, die nicht öffentlich zugänglich sind. Jeder, der diesen Zustand aufrechterhalten möchte, reiht sich in die Schar der Obskuranten ein, die das Geistesgut der Anthroposophie der Menschheit letztlich vorenthalten wollen, um es als ihr esoterisches Sondergut, auf dem ihre Exklusivität beruht, zu sekretieren. Um Steiner in seiner einmaligen Größe sachgemäß in den Strom der Geistesgeschichte einreihen zu können, ist die uneingeschränkte Zugänglichkeit seines Werkes erforderlich. Der Zugang darf an keine Bekenntnisse und sonstigen Bedingungen gebunden sein. Nachdem es der sich auf ihn berufenden Gesellschaft nicht gelungen ist, seine geistigen Intentionen kongenial fortzuführen, ist die aus seinem Werk erwachsende Verpflichtung an die gesamte Menschheit übergegangen. Dem Verlag, der die Veröffentlichung seines Werkes seit bald 70 Jahren betreibt, gebührt uneingeschränkte Hochachtung.

Schließlich ist auch der desolate Zustand der Gesellschaft und das fast vollständige Fehlen eines wissenschaftlichen Erkenntnisanspruchs bei den meisten Klassenmitgliedern ein überdeutliches Indiz dafür, daß nicht einmal die elementaren Anforderungen an eine anthroposophisch orientierte, wissenschaftliche Erkenntnisarbeit erfüllt sind. Stattdessen ist der ganze Hochschulkomplex ein Tummelplatz für das beliebte Esoterikspielen und für das Ausleben persönlicher Eitelkeiten und Machtansprüche. Wird doch mancherorts gewöhnlichen Mitgliedern das Mitspracherecht in grundlegenden Fragen der anthroposophischen Arbeit verweigert, auch wenn sie, unbefangen betrachtet, offenkundig kompetenter als alle anderen sind, nur weil ihnen die Klassenmitgliedschaft fehlt.

So lautet das letzte Paradoxon des lebendigen Denkens: Solange es nur ein Goetheanum gibt, ist das Goetheanum weder Hochschule noch frei.

Hinweis:

Zur Bedeutung des Mythos für die Kultur und die Kohärenz einer Gesellschaft sind vom Verfasser erschienen:

Aufstieg zum Mythos: Ein Weg zur Heilung der Seele in apokalyptischer Zeit

Die geheime Botschaft der Joanne K. Rowling: Ein Schlüssel zu Harry Potter

Zanders Erzählungen: Eine kritische Analyse des Werkes »Anthroposophie in Deutschland«


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