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Anthroposophie / trithemius verlag / Jahrbuch 1995 Zeit

Rudolf Steiners Beiträge zum Verständnis der Zeit

Von Lorenzo Ravagli

Auszug aus dem Jahrbuch für anthroposophische Kritik 1994

 

Wer das Wesen der Zeit verstehen will, wird an den interessanten, aber durchaus paradoxen Beiträgen Rudolf Steiners nicht vorbeigehen. Steiner hat im Jahr 1890 im Rahmen seiner Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften ein erstes Mal zum Problem der Zeit Stellung bezogen. Diesen philosophischen Beitrag will ich zuerst behandeln.

Philosophisches Verständnis der Zeit

Die genannten Einleitungen setzen sich mit Goethe als Denker und Forscher auseinander und entwickeln grundlegende Begriffe des Goetheschen Wirklichkeitsverständnisses. So behandelt Steiner das Verhältnis Goethes zur neuzeitlichen Naturwissenschaft, stellt seinen Begriff des Urphänomens dar, fasst sein System der natur­wissen­schaftlichen Erkenntnis zusammen, beschäftigt sich mit dessen Farbenlehre, mit seinem Raumbegriff und seiner Beziehung zu Newton und den Physikern. Im Kapitel über das Urphänomen, das eine kritische Auseinandersetzung mit dem Materiebegriff des ausgehenden letzten Jahrhunderts bietet, geht Steiner auf das Wesen der Zeit ein. Er versucht zu zeigen, dass der Materiebegriff aus einer irrtümlichen Interpretation des Wahrnehmungs­vorgangs entspringt.

Ich referiere kurz den Gedankengang Steiners. Solange man davon ausgeht, dass das Wesen einer Sache wahrgenommen werden kann, wird man sich immer in den Schlingen des Skeptizismus verfangen. Aus diesen glaubt man sich nur retten zu können, indem man eine Materie postuliert, die in den sich metamorphosierenden Wahrnehmungs­inhalten das Gleichbleibende darstellt.

Das Grundproblem des Realismus und Empirismus

Das Problem besteht für den Realismus und Empirismus darin, dass die Wahrnehmungen sich fortwährend verändern, was sowohl durch die Beschaffenheit der Wahrnehmungen als auch durch die Beschaffenheit der mensch­lichen Wahrnehmungsorganisation bedingt ist. Das bedeutet, dass es für das menschliche Wahrnehmen weder etwas Stetiges noch etwas Objektives gibt. Denn die Wahrnehmungen verändern sich unablässig und der Wahrnehmende verändert sich ebenso unablässig. Weder in der »objektiven« Außenwelt, noch in der menschlichen Wahrnehmungsorganisation selbst gibt es etwas Stetiges. Der Empirismus und Realismus setzt nun aber voraus, dass die objektive Wirklichkeit nur dann objektiv und wirklich ist, wenn sie außerhalb und unabhängig vom menschlichen Wahrnehmen existiert. Diese objektive und unabhängige Wirklichkeit kann aber nie wahrgenommen werden, nicht zuletzt deshalb, weil die menschlichen Sinne uns stets nur die Modifikationen ihrer eigenen Zustände zeigen. Die Veränderlichkeit der Wahrnehmungen und des Wahrnehmungssubjekts sowie die Subjektivität unserer Wahrnehmungen führt zum Schluss, dass der objektive Gehalt der Wirklichkeit nicht wahrnehmbar und damit auch nicht erkennbar ist.

Aus diesem Dilemma: dass die objektive Wirklichkeit nur durch Wahrnehmen erfassbar, aber zugleich nicht wahrnehmbar ist, soll nun das Postulat einer gleichbleibenden Materie herausführen. Die gleichbleibende Materie soll das Stetige im Veränderlichen sein. Sie soll prinzipiell wahrnehmungsartig sein, auch wenn wir sie nicht wahrnehmen können. Sie soll das Element sein, aus dem die wechselnden subjektiven Wahrnehmungsinhalte gebildet sind. Diese postulierte Materie existiert aber nur im Bewusstsein des Empiristen. Da er sie nicht wahrnehmen kann (und zwar aus prinzipiellen Gründen nicht), muss er sie denken. Durch das Gedankenpostulat einer unveränderlichen Materie hat der Empirist die Bedeutung des Denkens für die Erkenntnis der Wirklichkeit implizit zugestanden. Doch verneint er die Idealität seiner Materie und konstruiert den Gedanken einer unwahrnehmbaren Wahrnehmung, die für ihn den Inbegriff der Wirklichkeit darstellt.

Da die menschlichen Sinne ungeeignet sind, diese gleichbleibende Materie zu erfassen, wird der Erkenntnisakt vom Menschen losgelöst und in Instrumente verlegt. Die Instrumente sollen objektiv sein und das Objektive vermitteln, das den menschlichen Sinnen entzogen ist. Die Struktur der Materie soll von ihnen erfasst werden. Die Instrumente sind aber nach Analogie der Sinne gebildet und beruhen auf denselben Gesetzmäßigkeiten wie diese: sie nehmen wahr und registrieren ihre Wahrnehmungen. Warum sollen die Sensoren der Instrumente das gleich­bleibende Wesen der Dinge besser erfassen als die menschlichen Sinne, wo doch mensch­liche Sinne erforderlich sind, nicht nur, um Sensoren zu bauen, sondern auch, um ihre Messergebnisse abzulesen und zu deuten? Das Projekt des materialistischen Empirismus hat sich im zwanzigsten Jahrhundert in Luft aufgelöst. Der Materiebegriff des neunzehnten Jahrhunderts hat sich in den Teilchenbeschleunigern und den allgemeinen Feldtheorien ver­flüchtigt.

Doch auch rein philosophisch sind Realismus und Empirismus nicht haltbar. Sie beruhen auf zwei ungeklärten Voraussetzungen. Die Wirklichkeit soll dem Menschen gegeben sein, also ohne ihn stattfinden und sie soll wahrnehmbar sein, also ohne das menschliche Denken zustande kommen. Steiner lehnt beide Voraussetzungen ab: der Mensch hat wesentlich Anteil am Zustandekommen der Wirklichkeit und das Denken des Menschen ist das Instrument, durch das er diese Wirklichkeit zu erfassen vermag. Ohne näher in die philosophische Argumentation Steiners eintreten zu können, sei jetzt auf die für sein Verständnis der Zeit wesentlichen Unterscheidungen übergeleitet.

1890 schreibt Steiner in den Einleitungen: »Nur einer ganz verfehlten Auf­fassung des Zeitbegriffs verdankt der Begriff der Materie seine Entstehung. Man glaubt, die Welt zum wesenlosen Schein zu verflüchtigen, wenn man der veränderlichen Summe der Geschehnisse nicht ein in der Zeit Beharrendes, ein Unveränderliches untergelegt dächte, das bleibt, während seine Bestimmungen wechseln. Aber die Zeit ist ja nicht ein Gefäß, in dem die Veränderungen sich abspielen; sie ist nicht vor den Dingen und außerhalb derselben da. Die Zeit ist der sinnenfällige Ausdruck für den Umstand, dass die Tatsachen ihrem Inhalt nach voneinander in einer Folge abhängig sind. ...

Hier sehen wir, dass die Zeit erst da auftritt, wo das Wesen einer Sache in die Erscheinung tritt. Die Zeit gehört der Erscheinungswelt an. Sie hat mit dem Wesen selbst noch nichts zu tun. Dieses Wesen ist nur ideell zu erfassen. Nur wer diesen Rückgang von der Erscheinung zum Wesen in seinen Gedankengängen nicht vollziehen kann, der hypostasiert die Zeit als ein den Tatsachen Vorhergehendes. Dann braucht er aber ein Dasein, welches die Veränderungen überdauert. Als solches fasst er die unzerstörbare Materie auf. Damit hat er sich ein Ding geschaffen, dem die Zeit nichts anhaben soll, ein in allem Wechsel beharrendes. Eigentlich aber hat er nur sein Unvermögen gezeigt, von der zeitlichen Erscheinung der Tatsachen zu ihrem Wesen vorzudringen, das mit der Zeit nichts zu tun hat. Kann ich denn von dem Wesen einer Tatsache sagen: es entsteht und vergeht? Ich kann nur sagen, dass ihr Inhalt einen anderen bedingt, und dass dann diese Bedingung als Zeitenfolge erscheint. Das Wesen einer Sache kann nicht zerstört werden; denn es ist außer aller Zeit und bedingt selbst die letztere. Damit haben wir zugleich eine Beleuchtung auf zwei Begriffe geworfen, für die noch wenig Verständnis zu finden ist, auf Wesen und Erscheinung. Wer die Sache in unserer Weise richtig auffasst, der kann nach einem Beweis von der Unzerstörbarkeit des Wesens einer Sache nicht suchen, weil die Zerstörung den Zeitbegriff in sich schließt, der mit dem Wesen nichts zu tun hat.

Nach diesen Ausführungen können wir sagen: Das sinnenfällige Weltbild ist die Summe sich metamorphosierender Wahrnehmungsinhalte ohne eine zugrunde liegende Materie.«1

Diese Überlegungen Steiners werfen unterschiedliche philosophische Fragen auf. Offensichtlich vertritt der Verfasser einen Ideenrealismus. Denn er geht von der Auffassung aus, dass das Wesen einer Sache (das nicht wahrgenommen werden kann, sondern gedacht werden muss) unabhängig von seiner Erscheinung besteht und weder dem Entstehen noch dem Vergehen unterworfen ist. Die Zeit tritt erst dort in Erscheinung meint er, wo das Wesen einer Sache erscheint. Während dem Wesen eine ideelle Existenz­weise zugesprochen wird, besitzt die Erscheinung eine entweder sinnlich oder seelisch wahrnehmbare Existenzweise. Ein Wesen besteht in sich, jenseits aller Zeitlichkeit und ist deswegen auch nicht dem Entstehen und Vergehen unterworfen. Den zeitlichen Nexus von Erscheinungen verankert Steiner im logischen Nexus von Sachbegriffen: wenn Tatsachen ihrem Inhalt nach voneinander in einer Folge abhängig sind, dann setzt er den logischen Status der Dinge mit dem ontologischen Status ineins, was für alle Formen des Ideen­realismus typisch ist.

Zur Illustration: Wenn wir denkend den Begriff irgendeiner Sache aus dem Begriff einer anderen Sache ableiten können, dann haben wir die Beziehung zwischen den ideellen Wesen begriffen, die den Begriffen entsprechen, durch die wir sie denken. Die ideelle Beziehung zwischen den Wesenheiten konstituiert ihre Beziehung in der Erscheinungswelt. Wenn wir wissen, dass der Begriff der Blüte die ideelle Entfaltung des Knospenbegriffs ist, dann ist in der logischen Abhängigkeit des Blüten- vom Knospenbegriff die ontische Abhängigkeit ihrer Erscheinung voneinander gegeben. Erst muss die Knospe in der Zeit erscheinen, damit die Blüte in der Zeit nachfolgend erscheinen kann. Als ideelle Wesen koexistieren aber Knospe und Blüte gleichzeitig bzw. jenseits der Zeit im Begriff der Blütenpflanze, der beide in sich enthält. In ihrem ideellen Wesen ist die Knospe ebenso unvergänglich, wie die Blüte. Was vorübergeht, ist nur die Erscheinung des Wesens in der sinnlichen Welt. Damit hätten wir die philosophische Weltsicht Platos wiedergewonnen. (Ich möchte an dieser Stelle hervorheben, dass Steiner in seinem Buch Goethes Weltanschauung... keineswegs gegen die Weltsicht Platos schlechthin, sondern lediglich gegen einen »falsch verstandenen«, einen »einseitigen Platonismus« polemisiert. Er bezeichnet den Platonismus, »die Überzeugung, dass das Ziel alles Erkenntnisstrebens die Aneignung der die Welt tragenden und deren Grund bildenden Ideen sein müsse«, vielmehr als »eines der erhabensten Gedankengebäude, die je aus dem Geiste der Menschheit entsprungen sind«. (Goethes Weltanschauung, Dornach 1979, tb, S. 28).

Das Grundproblem des Ideenrealismus

Das Problem bei jedem Ideenrealismus ist jedoch, plausibel zu zeigen, wie aus der unveränderlichen, jenseits aller Zeitlichkeit existierenden Ideenwelt die Welt der veränderlichen Erscheinungen hervorgeht. Ein weiteres Problem besteht für den Ideenrealismus darin, aufzuzeigen, wie eine Erweiterung der menschlichen Erkenntnis auf rein ideellem Wege (apriorisch) möglich ist. Denn wenn die Ideen der Inbegriff aller Realität sind, dann muss in ihnen auch alle Realität beschlossen sein, das heißt, sie müssen der Inbegriff aller Wahrheit sein.

Diese Fragestellung hat bekanntlich Kant zum Hauptgegenstand seiner Kritik der reinen Vernunft erhoben. — Wenn die Ideen das Wesen aller Erscheinungen sind, muss dann nicht auch die Erscheinungswelt als Ganze, für die doch Veränderlichkeit und Vergänglichkeit kennzeichnend sind, in der Ideenwelt fundiert sein? Muss es nicht eine Idee der Erscheinungswelt geben, die selbst unvergänglich ist? Die aber in der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungswelt erscheint? Wie und wo aber erscheint diese Idee der Erscheinungswelt? Und wie wird das, was seinem Wesen nach unveränderlich und zeitlos ist, zu etwas veränderlichem und zeitgebundenem? Wenn die Idee der Erscheinungswelt Veränderung und damit Entstehen und Vergehen einschließt, dann muss diese Idee auch die Zeit einschließen, die ja mit der Veränderung selbst in Erscheinung tritt. Das heißt, es gibt ein Wesen der Zeit, das wir im Begriff der Zeit erfassen.

Wenn Steiner sagt, die Zeit trete erst da auf, wo das Wesen einer Sache in Erscheinung trete, dann tritt eben das Wesen der Zeit selbst in Erscheinung, wenn ein Wesen in Erscheinung tritt. Das heißt, immer, wenn ein Wesen in Erscheinung tritt, tritt zugleich das Wesen der Zeit in Erscheinung. Das Wesen der Zeit ist aber ebenso ideell und damit unveränderlich wie alle anderen ideellen Wesenheiten. Wie kann aber das unveränderliche Wesen der Zeit Veränderung generieren? Gäbe es aber kein Wesen der Zeit, dann könnte es auch keinen Begriff der Zeit geben, der von uns erfasst wird. Wenn es aber einen Begriff, also ein Gesetz der Zeit gibt, dann auch ein Wesen der Zeit. (Man könnte den Begriff der Zeit, wie Aristoteles, als Zahl der Bewegung definieren oder wie Einstein als die Wurzel des Produktes aus Energie und Masse eines Körpers). Die Zeit gehört folglich nicht nur der Erscheinungswelt an, sondern auch der Wesenswelt. In der Wesenswelt ist sie jedoch unveränderlich. Die Idee der Zeit koexistiert zeitlos mit allen anderen Ideen in der Wesenswelt, der die Ideen ohne Unterschied angehören.

Wenn aber Zeit und Veränderung, Entstehen und Vergehen in der ideellen Wesenswelt unveränderlich und unvergänglich sind, wie kommt dann bei ihrem Erscheinen das Gegenteil ihrer selbst zustande? Wenn die sinnenfällige Welt die Summe sich metamorphosierender Wahrnehmungsinhalte ist, die in ihrer Gänze eine Erscheinung der unveränderlichen Wesenswelt ist, wie kann sie sich dann überhaupt metamorphosieren? Metamorphose setzt ja gerade die Nicht-Koexistenz von Erscheinungen voraus, die Aufeinanderfolge von Erscheinungen, die Erscheinungen desselben Wesens sind.

Das Vorhandensein von Veränderung, von Entstehen und Vergehen in der Welt, kann vom Ideenrealismus nur begründet werden, wenn er die Veränderung, das Nebeneinander und Aussereinander selbst schon in die Ideenwelt verlegt. In ideeller Form gibt es Unterschied, Aussereinander und Nebeneinander bereits in der Ideenwelt. Plato diskutiert dieses Problem im Parmenides. Es wird zu einer zentralen Frage im Neuplatonismus. Die Lösungsvorschläge, die von Plotin, Proklus und anderen erarbeitet wurden, sind durchaus bedenkenswert. Wenn die Idee einzig ist, dann kann Entzweiung in die einige Ideenwelt nur durch ihre Selbstreflexion einkehren. Entzweiung ist aber der Ursprung der Vielheit. Denn wo es das Eine und das Nicht-Eine gibt, gibt es Einheit und Vielheit. Die Vielheit kann aber nur aus der Selbstnegation der Einheit hervorgehen.

Entgegen der Behauptung Steiners in den Einleitungen 1890, dass die Zeit der Erscheinungswelt angehöre, das heißt, dass sie kein Wesen habe, müssen wir annehmen, dass sie selbst der Ideenwelt angehört, dass sie das Prinzip der Negation ist, das die Ideenwelt in sich selbst generiert, indem sie auf sich selbst reflektiert und aus der ursprünglichen Einheit die Vielheit hervorgehen lässt.

Dieses Hervorgehen der Vielheit aus der Einheit ist aber zeitlos, das heißt, es ist immer schon geschehen: Die Ideenwelt ist immer schon in sich reflektierte Einheit, in sich zur Einheit zusammengeschlossene Vielheit. Wir »hypostasieren« die Zeit dadurch nicht, als ein den Tatsachen Vorhergehendes, wir begründen nur das Hervorgehen der Tatsachen auseinander in der Differenz, die die Ideenwelt selbst schon in sich trägt. Anstatt die Zeit also auf ein Epiphänomen zu reduzieren, das im Grunde wesenlos und damit inexistent ist, erklären wir sie als das miterscheinende Ingrediens allen Erscheinens. Jede Erscheinung ist nur durch Negation möglich und alles Entstehende trägt immer schon den Keim des Vergehens in sich. Das Wesen der Zeit ist das Wesen der Erscheinungswelt, nicht ihr wesenloses Epiphänomen. In der Zeitlichkeit alles Existierenden offenbart sich dessen immanente Bezogenheit auf seinen eigenen überzeitlichen Ursprung.

Diese Einsichten haben sich in Steiners späterem Werk auch durchgesetzt. Seine aus okkulter Forschung entsprungenen Beiträge zur Erkenntnis der Zeit machen diese zu einem wesenhaften Bestandteil des geistigen, ideellen Weltprozesses. Wenden wir uns nun den entsprechenden Darstellungen Steiners aus den Jahren 1909/11 zu.

2. Okkulte Forschungen über die Zeit

In seiner 1909 vollendeten Geheimwissenschaft im Umriß2 geht Steiner an einer zentralen Stelle auf die Zeit ein und befasst sich dort mit etwas, was man die Entstehung der Zeit nennen könnte. Im kosmologischen Teil der Geheimwissenschaft..., der eine pneumatologische Weltentstehungslehre beinhaltet, geht Steiner auf das Problem des Anfangs der Welt und des Anfangs der Zeit ein. Seine Darstellungen lassen sich durch Ausführungen aus dem Jahr 1911 ergänzen, die im Vortragsband mit dem Titel Die Evolution vom Gesichtspunkte des Wahrhaftigen3 veröffentlicht sind.

In der Geheimwissenschaft... geht Steiner von einem Zustand der Welt aus, der rein geistig ist. In ihm ist nichts vorhanden, als »rein geistig Wesenhaftes, das in sich selbst vollendet ist und keines äußeren Wesens bedarf, um seiner bewusst zu sein.«4

Dieses rein geistig Wesenhafte, das in sich selbst vollendet ist, entpuppt sich aber als in sich differenziert. Es gibt in dieser geistigen Wesenswelt bereits Unterschiede und zwar könnte man sagen, den Unterschied von göttlicher Weisheit, göttlicher Liebe und göttlichem Willen. Diese göttlichen Kräfte erscheinen in ihrer Betätigung an hierarchische Wesenheiten gebunden: die göttliche Liebe an die Geister der Liebe oder Seraphim, die göttliche Weisheit an die Geister der Harmonie oder Cherubim und der göttliche Wille an die Geister des Willens oder Throne. Die Frage nach dem Verhältnis dieser obersten hierarchischen Dreiheit zur göttlichen Trinität wird nicht aufgeworfen und soll hier auch nicht verfolgt werden. Mit den genannten Wesen sind jene Mächte angesprochen, die schöpferische Wesensoffenbarungen aus sich heraussetzen können, die, wie Steiner an anderer Stelle sagt, zum »kosmischen Opferdienst« aufgestiegen sind. In deren Wirken eingebunden und zum Selbstopfer noch nicht berufen, aber von ihnen sich unterscheidend, gehören zur geistigen Wesenswelt die Herrscher des kosmischen Lebens, die in der Geheimwissenschaft Geister der Weisheit heißen (Kyriotetes) und die kosmischen Mächte der Empfindung und der Seele, die Dynameis.

Daß Steiner nicht auf die Herkunft dieser inneren Differenzierung der geistigen Wesenswelt und ihre Beziehung zur göttlichen Trinität eingeht, könnte man damit begründen, Steiner befasse sich in der Geheimwissenschaft... nicht mit dem innertrinitarischen Leben, sondern mit dessen Offenbarung in der Welt- und Menschenschöpfung. Das sich gleichsam nach Außen, zur geschöpflichen Welt, die entstehen soll, wendende innertrinitarische Leben offenbart sich durch Liebe, Weisheit (Harmonie) und Wille, die zusammenwirken, um die Welt entstehen zu lassen. Sowenig Schöpfung ohne Weisheit denkbar wäre, sowenig ist sie denkbar ohne Liebe und Wille. Wie es zu der inneren Differenzierung in der geistigen Wesenswelt kommt, woher also die Geister der Liebe, der Harmonie (Weisheit) und des Willens ihr je besonderes Wesen empfangen haben oder wie sie dazu gelangt sind, wird ebenso wenig dargestellt, wie ihr Zusammenhang mit der Trinität.

Allerdings findet sich die allgemeine Bemerkung, das mit dem geistig Wesenhaften etwas erreicht ist, das den Grund seines Daseins und Sich-Verhaltens in sich selbst trägt. Diesem in sich selbst gründenden geistigen Leben gegenüber erscheint es - nach Steiner - sinnlos, nach einem äußeren Grund seines Seins und Lebens zu fragen. Einen Ursprung, einen Sinn des Daseins des in sich lebenden Geistes könnte man, da er in sich selbst gründet, nur in diesem selber finden. Das Fragen nach dem Grund müßte also in eine Betrachtung der geistigen Wesenswelt und eine Erforschung ihrer Willensabsichten münden. Soviel geht auf jeden Fall aus den Darstellungen Steiners indirekt hervor, dass die Absicht des Weltschöpfungsprozesses die Hervorbringung des Menschen ist. Der Mensch ist das innere Telos, die Schöpfungsabsicht, die dem Wirken der geistigen Wesenswelt vom ersten Augenblick ihres In-Erscheinung-Tretens innewohnt. Darüber hinaus findet sich in der Geheimwissenschaft ... lediglich die Bemerkung, daß die am Beginn der Entwicklung des Alten Saturn auftretenden erhabenen Wesen ihre Entwicklung in »nur zu erahnenden Stufen bis zu der Höhe gebracht haben«, daß sie mit ihrer Selbstopferung den Schöpfungsprozess in Gang setzen können. Es gibt allerdings andere Orte im Gesamtwerk Steiners, an denen er sich über diese Zusammenhänge etwas genauer ausläßt.5 Mir geht es vor allem um Wesen und Ursprung der Zeit, deswegen soll diese Frage hier nicht weiter verfolgt werden.

Mit dem Leben der Geister der Liebe ist der erste Zustand verbunden, den Steiner beschreibt: die Existenz von geistig Wesenhaftem, das in sich selbst vollendet ist. An dieses rein geistig Wesenhafte schließt sich die geistige Lichtoffenbarung der göttlichen Weisheit, die in den Cherubim lebt und die Offenbarung seelischer Wärme, die mit den Geistern des Willens verbunden ist. Indem die Geister des Willens, also die Träger des Schöpfungswillens, der aus der göttlichen Liebe in die Weisheit strömt und aus deren Zusammenfließen hervorgeht, ihren Willen, der ihr Wesen ist, in sich verdichten, lassen sie in der rein geistigen Welt ihr eigenes Wesen in Erscheinung treten.

Das heißt, die Geister des Willens sind es, die die Sphäre des Wesens in die Sphäre der Erscheinung überführen. Während wir von den ersten drei Zuständen der Weltentwicklung, des sogenannten Alten Saturn, nur sagen können, daß sie rein geistige Zustände sind, können wir von dem Augenblick ab, wo die Geister des Willens ihr eigenes Wesen verdichten, von dem Auftreten einer Erscheinung sprechen. Steiner spricht in diesem Zusammenhang auch von Ausströmen, Ausfließen oder Ausgießung. Es schlägt durch den Willen der Geister des Willens das rein Geistige (die seelische Wärme) in etwas um, was nicht mehr rein geistig ist, sondern physisch: in die sogenannte äußere Wärme. Das Leben des weltschöpferischen Geistes in sich selbst, ohne daß dieser sich seiner selbst entäußert, bezeichnet Steiner als »Region der Dauer«.6

Wenn das Wesen des Geistes, das in sich selbst vollendet ist, aus sich heraustritt und sich als (physische) Wärme offenbart, tritt das rein geistige Leben in eine Region ein, die nicht mehr reine Dauer ist, die also »Region der Veränderung« heißen könnte. Damit ist zugleich realisiert, was Steiner als Kennzeichen für die physische Existenz anführt: das Außereinandersein von Entitäten. Außereinander sind nun der Wille der Throne und die Konzentration ihres Willens in sich selbst, die Steiner als Wärme bezeichnet. Man könnte auch sagen, die Geister des Willens negieren sich selbst, um aus sich etwas hervorgehen zu lassen, was sie nicht mehr selbst sind bzw. was sie in einer anderen Daseinsform sind.

Bemerkenswert ist übrigens, dass Steiner in den Vorträgen von 1911 seine Darstellungen über den Alten Saturn von der Wissenschaft der Logik Hegels ausgehen läßt, deren Begriffsentwicklung bekanntlich vom Begriff des reinen Seins ihren Ausgang nimmt. Der dialektische Umschlag des Seins ins Nichts impliziert das Werden. Mit diesem Beginn der Hegelschen Logik korrespondiert der Beginn der Welt, wie er in der Darstellung des Alten Saturn faßbar wird. Die innere Beziehung der Hegelschen Logik (wie auch der Fichteschen Wissenschaftslehre) zur Geheimwissenschaft im Umriß kann hier aber nicht weiter untersucht werden.7

Nun werden diese Schilderungen dadurch besonders spannend, dass Steiner in sie eine Beschreibung des Entstehens der Zeit hineinverwebt. Genauso wie er in den Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften das Eintreten der Zeit in die Erscheinungswelt mit dem Eintritt eines Wesens in die Erscheinung verband, so tritt jetzt die Zeit selbst als Wesen in dem Augenblick in Erscheinung, in dem das geistige Wesen des Willens sich selbst zur Erscheinung, d.h. zum anderen seiner selbst werden läßt.

Denn mit dem Saturnwärmezustand tritt auch zuerst auf, »was man die Zeit nennt«. »Man muß sich doch auch bewußt sein, daß, obgleich der erste, zweite und dritte Saturnzustand sich gar nicht «nacheinander» im gegenwärtigen Sinn abspielen, man doch nicht umhin kann, sie nacheinander zu schildern. Auch hängen sie ja trotz ihrer «Dauer» oder Gleichzeitigkeit so voneinander ab, daß sich diese Abhängigkeit mit einer zeitlichen Abfolge vergleichen läßt.«8

Verbunden mit dem Entstehen der Zeit ist etwas anderes. Die Zeit ist nämlich ein Wesen und zwar das Wesen der Geister der Persönlichkeit, die aus dem Schoß der geistigen Wesenswelt in die Wärmesubstanz des Alten Saturn hineinwirken. An der Wärmesubstanz spiegeln diese Geister der Persönlichkeit ihr Wesen, sie »erkennen das Bild ihrer eigenen Innerlichkeit, indem es ihnen als Wärme vom Saturn aus zuströmt.«9 Indem die Geister der Persönlichkeit ihr Wesen in die Wärmesubstanz des Alten Saturn hineinwirken lassen und von dieser zurückgespiegelt erhalten, erlangen sie ihr Ichbewußtsein, so wie gegenwärtig der Mensch sein Ichbewußtsein erhält, indem sich die Tätigkeit seines geistigen Wesens an der leiblich-seelischen Organisation zurückspiegelt. »Sie haben nicht nur ein «Ich», sondern wissen auch davon, weil ihnen die Wärme des Saturn dieses «Ich» rückstrahlend zum Bewußtsein bringt. Sie sind eben «Menschen» unter anderen als den Erdenverhältnissen. ... Will man auf diese Tatsache mit unbefangenem Auge blicken, so muß man sich vorstellen, daß ein Wesen «Mensch» sein kann, nicht bloß in der Gestalt, welche der Mensch gegenwärtig hat. Die «Geister der Persönlichkeit» sind «Menschen» auf dem Saturn.«10

1911, in den erwähnten Vorträgen, identifiziert Steiner die Archai (Geister der Persönlichkeit) mit der Zeit: »Durch das Opfer, das die Geister des Willens den Cherubim bringen, wird die Zeit geboren ... sie ist selbständige Wesenheit ... Die Zeit beginnt mit dem, was da zunächst als Zeitwesenheiten geboren wird, die nichts sind als lauter Zeit. Es werden Wesenheiten geboren, die aus lauter Zeit bestehen; das sind die Geister der Persönlichkeit, die wir dann als Archai in der Hierarchie der geistigen Wesenheiten kennenlernen. ... Gleichsam der Opferrauch der Throne, der die Zeit gebiert, ist das, was wir die Wärme des Saturn nennen.«11

Die Zeit ist also, nach diesen Ausführungen, ein Wesen, genauer gesagt eine Gruppe von Wesenheiten. Wir müssen ihr, in der Begriffssprache der Einleitungen... eine ideelle, geistige Seinsform zusprechen: sie gehört nicht der Welt der Erscheinungen, sondern der Welt des Wesens an. Denn die Archai, die Geister der Persönlichkeit, werden im Opferrauch der Throne zwar geboren. Aber was geboren wird, lebt schon vorher im Schoß der Mutter. Ebenso leben die Archai im Schoß der geistigen Wesenswelt: sie sind ungeborene Zeit, Zeit, die noch nicht in Erscheinung getreten ist. Sie haben ein Ich, wie Steiner sich ausdrückt. Und was sie dazu erhalten, ist das Bewußtsein dieses Ich. Wenn die Archai als Zeitwesen geboren werden, dann heißt dies, daß das Ichbewußtsein der Archai entsteht. Die Zeit ist das Ichbewußtsein der Archai. Wo die Zeit erscheint, erscheint das Ichbewußtsein der Archai. Überall, wo ein Wesen erscheint und mit ihm die Zeit, erscheint auch das Ichbewußtsein der Archai, der Zeitgeister oder Geister der Persönlichkeit, die dieses Ichbewußtsein in der Wärme, im Feuer erlangen. Man könnte den Satz auch umkehren und behaupten: Überall, wo unterschiedliche Wärmezustände vorhanden sind, lebt das Ichbewußtsein der Archai und erscheint damit die Zeit.

Nun ergibt sich aus dieser Betrachtung der Zeit noch ein anderer, weitere Fragen aufwerfender Gesichtspunkt. Wenn es sich bei der Zeit letztlich um Wesenheiten handelt, die - insofern sie erscheinen - den erscheinenden Zeitverlauf konstituieren, - insofern sie in sich sind - das in sich ruhende Wesen der Zeit darstellen, können wir davon ausgehen, daß die Zeit in sich differenziert ist. Denn es gibt nicht nur einen einzigen Arche, sondern eine Mehrzahl solcher Archai. Diese Archai stehen auf unterschiedlichsten Stufen der Verwirklichung ihres Wesens, was wohl heißt, daß sie nicht alle über dasselbe Bewußtsein ihres Wesens verfügen. Diese unterschiedlichen Archai müßten nun eigentlich auch zu einer inneren Differenzierung der Zeit bzw. der Erscheinungsformen der Zeit führen.

Nehmen wir einmal an, es gäbe Archai, die sind gegenüber anderen weit fortgeschritten, was die Verwirklichung ihres Wesens anbelangt, andere stehen hinter diesen weit zurück. Wäre es nicht denkbar, daß sich aus dieser inneren Differenzierung zwischen fortgeschrittenen und zurückgebliebenen Archai die zwei Wesensmomente der Zeit: die Zukunft und die Vergangenheit ergeben? Da nun diese beiden Extreme in der Welt der Archai einen Antagonismus bilden, insofern sie die beiden logischen Extreme sind, zu denen die Archai sich ausbilden können, besteht zwischen beiden eine Spannung, die sie gegeneinander wirken läßt. Aus diesem Gegeneinanderwirken der Archai ergibt sich ein mittleres Gebiet, in dem sie sich tendeziell in ihrem Gegeneinanderwirken aufheben: die Gegenwart. Die Gegenwart ist zugleich der Raum, in dem der Mensch sich mit seinem in der Wirklichkeit lebenden Ich betätigt. Vergangenheit und Zukunft wären insofern die beiden extremen Entwicklungszustände des Archaiwesens, das in seinem Gegeneinanderwirken sich wechselseitig aufhebt und damit die Gegenwart gebiert.

Der Doppelstrom der Zeit

Aus diesen Überlegungen ergäbe sich eine mögliche Erklärung für manche merkwürdige Hinweise Steiners, daß man vom Standpunkt des Okkultismus zwei gegeneinanderwirkende Zeitströme unterscheiden könne: einen, der aus der Zukunft in die Vergangenheit fließe und einen, der aus der Vergangenheit in die Zukunft ströme. Dort, wo diese aufeinanderträfen, bilde sich die Gegenwart. Solche Darstellungen finden sich in der Grundlegung der Psychosophie, die Steiner 1910 entwickelte (GA 115, Dornach 1980, S. 101 f.). Die ersten Beobachtungen dieses Doppelstromes der Zeit reichen aber bei Steiner weit vor die im vorliegenden Aufsatz angeführten philosophischen Ausführungen zurück. Steiner soll, nach einer autobiographischen Skizze, die er 1907 für Edouard Schuré anfertigte, bereits um sein achtzehntes Lebensjahr ein Bewußtsein von diesem Wesen der Zeit entwickelt haben.

Im Dokument von Barr aus dem Jahr 1907 heißt es: »In diese Zeit [gemeint ist die Zeit um 1879] fiel - und dies gehört schon zu den äußeren okkulten Einflüssen - die völlige Klarheit über die Vorstellung der Zeit. Diese Erkenntnis stand mit den Studien in keinem Zusammenhang und wurde ganz aus dem okkulten Leben her dirigiert. Es war die Erkenntnis, dass es eine mit der vorwärtsgehenden interferierende rückwärtsgehende Evolution gibt - die okkult-astrale. Diese Erkenntnis ist die Bedingung für das geistige Schauen.« (GA 262, S. 7.)12

Demnach müssten auch zwei Erscheinungsreihen der Zeit unterschieden werden: nicht nur eine aus der Vergangenheit in die Zukunft gerichtete, sondern auch eine aus der Zukunft in die Vergangenheit gewandte. Diese ließe sich möglicherweise dort aufzeigen, wo die Ereignisse nicht aus den Faktoren der Vergangenheit kausal determiniert sind, sondern sich aus dem Vorauswirken der vorgestellten Zukunft  final ergeben. Hier, im menschlichen Handeln wirkt die Zukunft auf die Gegenwart ein und bildet sich aus der vorausgewussten Realität die gegenwärtige Wirklichkeit. Finalität wäre die spezifische Form, in der die vorauseilenden Archai die Erscheinungsreihe der durch die menschlichen Kulturleistungen bestimmten Naturentwicklung bestimmen. Kausalität wäre das Bestimmtsein der Naturtatbestände im Reich der Notwendigkeit durch das Verharren der zurückgebliebenen Archai in ihren jeweiligen Seinszuständen.

Doch kehren wir zum Thema des Weltanfangs zurück! Die Ausführungen Steiners bergen nämlich auch die bedenkenswerte Voraussetzung in sich, dass der Schöpfungsvorgang sich in einen zeitlichen und einen überzeitlichen Teil gliedert. Oder anders ausgedrückt: Die Schöpfung hat einen ewigen Anfang, sie ist ewig. Was ewig ist, hat keinen zeitlichen Anfang und kein zeitliches Ende, es ist unvergänglich. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht trotzdem erschaffen sein kann. Eine ewige Schöpfung ist aber eine ewig gegenwärtige Schöpfung, also eine Schöpfung, die durch alle Zeiten hindurch und über alle Zeiten hinaus fortwirkt.

Darüber hinaus begegnen wir in dieser Darstellung des Weltanfangs beinahe wörtlich der Identifikation von logischer und ontologischer Ordnung der Einleitungen wieder. Wenn es in der Geheimwissenschaft... heißt: »Auch hängen sie ja trotz ihrer ›Dauer‹ oder Gleichzeitigkeit so voneinander ab, dass sich diese Abhängigkeit mit einer zeitlichen Abfolge vergleichen lässt«13, dann klingt dieser Satz unmittelbar an die Formulierung an: »Die Zeit ist der sinnenfällige Ausdruck für den Umstand, dass die Tatsachen ihrem Inhalt nach in einer Folge voneinander abhängig sind.«14 Die logische Ordnung der geistigen Wesensbeziehungen begründet also auch in der Geheim­wissen­schaft im Umriß die ontologische Ordnung, die die zeitlichen Beziehungen der Erschei­nungen einschließt.

So wie die Wärme nun im weiteren Fortgang der Weltschöpfung und Weltentwicklung in alles Seiende einverwoben ist, so ist auch das Ichbewusstsein der Zeitgeister in alles Seiende einverwoben. Es gibt also nichts, was der Erscheinungswelt angehört, das nicht der erscheinenden Zeit unterworfen wäre. In diesem Unterworfensein aller Dinge unter das verzehrende Wesen der Zeit drückt sich aber zugleich das Eingebettetsein aller Wesen in das Ichbewußtsein der Archai aus, die das Erscheinende durch ihr Vernichten aller Erscheinungen wieder in die Wesenswelt zurücktragen. Die Archai wären demnach die wahren Götter des Werdens und Vergehens, der Geburt und des Todes.15 Die Archai verlieren durch ihre weitere Entwicklung nicht etwa ihr Ichbewusstsein, genausowenig wie sie ihr Wesen, Geister der Zeit zu sein, verlieren. Sie steigen von der Menschenstufe über die Engel- und Erzengelstufe auf, um in unserem gegenwärtigen Äon ein geistiges Totalbewusstsein ihres Wesens zu erlangen, durch das sie im wahren Sinne des Wortes zu Zeitgeistern werden.

Steiners Ausführungen in der Geheimwissenschaft bergen viele philosophische Implikationen, durch die sie mit den gedanklichen Ausgestaltungen des Problems in der Geschichte der Philosophie und Theologie verbunden sind. Diese können hier nicht behandelt werden.

Anmerkungen:

1) Rudolf Steiner: Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, Stuttgart 1962, S. 196 f.

2) Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriß, Dornach 1977 (tb).

3) Rudolf Steiner: Die Evolution vom Gesichtspunkte des Wahrhaftigen, Dornach 1987.

4) Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriß, a.a.O., S. 169.

5) Siehe vor allem Rudolf Steiner: Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt, Dornach 1972.

6) Ebenda, S. 170.

7) Es sei hier nur erwähnt, dass Steiner zum Beispiel in seinem Buch Vom Menschenrätsel, das er 1916, während des I. Weltkriegs veröffentlichte, auf eine künftige Fichte-Rezeption hinweist. »Doch ist es für denjenigen, der die Möglichkeit hat, sich in das volle Leben dieser Gedanken zu versetzen, nicht absonderlich, sich vorzustellen, das eine Zeit kommen werde, in der man Fichtes Ideen in eine Form wird gießen können, die jedem verständlich ist, der, aus dem Leben heraus, sich über den Sinn dieses Lebens Vorstellungen machen will. Auch für das einfachste Menschengemüt, das fern steht dem, was man philosophisches Denken nennt, werden diese Ideen dann zugänglich sein können. ... Gewis ist gegenwärtig die Zeit noch nicht gekommen, in der ein solches Umgießen Fichtescher Gedanken aus der Sprache seiner Zeitphilosophie in die allgemein-menschliche Ausdrucksform völlig möglich wäre. Solche Dinge werden nur mit dem allmählichen Fortschreiten gewisser Vorstellungsarten im Geistesleben möglich...« (S. 25.) Man denke einmal als Hypothese, dass Steiner in seiner Geheimwissenschaft im Umriß versucht habe, die Wissenschaftslehre Fichtes in solche allgemein-menschliche Ausdrucksform zu gießen. Ich halte diese Hypothese nicht nur deswegen nicht für abwegig, weil das Thema der Wissenschaftslehre das Generieren des Weltinhalts aus den setzenden Akten des transzendentalen Ich ist (das Nicht-Ich geht aus dem Ich hervor), sondern auch deshalb, weil nach einer Aussage Steiners seine eigene Initiation  an Fichtes Wissenschaftslehre anknüpfte. Das Meer des Mutes in dem das Ich lebt, das sich im reinen Gedanken selbst erfasst, wird von Steiner in den Vorträgen über die Evolution vom Gesichtspunkte des Wahrhaftigen herangezogen, um eine Vorstellung vom Beginn der kosmischen Evolution zu erwecken. Vgl. zu diesem Thema mein Buch Meditationsphilosophie. Untersuchungen zum Verhältnis von Philosophie und Anthroposophie, Schaffhausen 1993, insbes. S. 202f. und die Untersuchungen in Pädagogik und Erkenntnistheorie, Stuttgart 1993, S.164-174.

8) A.a.O. (Anm. 4), S. 170.

9) Ebenda, S. 164.

10) Ebenda, S. 164, Reihenfolge der Sätze vertauscht.

11) Rudolf Steiner: Die Evolution vom Gesichtspunkte des Wahrhaftigen, a.a.O., S. 19.

12) Es ist dies die Zeit, in der sich Steiner intensiv mit Fichtes Wissenschaftslehre beschäftigte. Vgl. Anmerkung 6a.

13) Geheimwissenschaft, a.a.O., S. 170.

14) A.a.O., S. 169.

15) Hier, bei der Integration des Widerspruchs von Sein und Nichtsein im Werden und dessen Aufgehobensein in allen weiteren zeitlichen Bestimmungen, wäre ein begrifflicher Ort, um den Übergang von der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft zur Hegelschen Wissenschaft der Logik zu finden.


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