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Anthroposophie / trithemius verlag / Jahrbuch 1998 Anthroposophie

Anthroposophie neu denken

Von Lorenzo Ravagli

Von welchem Gesichtspunkt auch immer wir uns der Anthroposophie nähern mögen, wir haben sie zunächst als originäre Schöpfung Rudolf Steiners zu betrachten. Er hat ihren Begriff und ihre Erscheinung durch sechs Jahrzehnte hindurch geprägt. Sie ist sein Lebenswerk. Alle Filiationen dieses Werkes in den Leistungen seiner Schüler, Anhänger und Gegner führen zuletzt zu ihm zurück. Die Erscheinungen, die wir heute unter dem Begriff der Anthroposophie subsumieren, wären nicht denkbar und wären auch nie Wirklichkeit geworden, wenn Rudolf Steiner nicht die Möglichkeit dafür geschaffen hätte.

So wird jeder Zugang zur Anthroposophie bis heute über die Person Rudolf Steiners vermittelt. Mag man sich von der Anthroposophie abgrenzen, sie verurteilen, sie für revisionsbedürftig halten, man kann nicht umhin, sich zunächst mit der historischen Gestalt, die sie durch das Wirken Rudolf Steiners angenommen hat, auseinanderzusetzen.

Diese Auseinandersetzung könnte dazu dienen, sich ein Bild von dem zu machen, was die Anthroposophie in den Augen ihres Gründers sein sollte. Ein solches Bild darf sich notwendigerweise nicht auf eine partikuläre Erscheinung beziehen, oder sich ausschließlich an einem bestimmten Inhalt, an einer bestimmten Form orientieren, die ihr unermüdlicher Gestalter hervorgebracht hat. Jede Aussage darüber, was Anthroposophie ist, muß zunächst die Ansichten zur Kenntnis nehmen, die ihr Schöpfer über sie geäußert hat. Als Epigone hat man grundsätzlich kein Recht dazu, einen Begriff für sich in Anspruch zu nehmen, der von einem historisch vorangegangenen geistigen Heroen mit Inhalt erfüllt wurde. Wenn jemand nach dem Tode Hegels gekommen wäre und gesagt hätte, er wüßte besser, was die Hegelsche Philosophie sei, als Hegel selbst, ohne sich durch eine gründliche Kenntnis der Hegelschen Philosophie auszuweisen, er wäre wohl kaum von jemandem ernst genommen worden.

Als Spätgeborener, der sich fragt, worin die Bedeutung der Anthroposophie für die Gegenwart und die nähere Zukunft liegen könnte, ist man zunächst an Leben und Werk Rudolf Steiners verwiesen. Allerdings darf man wiederum nicht in das andere Extrem verfallen, und die Anthroposophie, die zunächst mit Recht als Schöpfung Rudolf Steiners bezeichnet werden kann, mit ihrem Schöpfer, der Person, zu identifizieren. Die Schöpfung bleibt zwar auf ihren Schöpfer bezogen, sie ist aber auch von ihm unterscheidbar.

Man verfiele allerdings einer eingeengten Sichtweise wollte man die Anthroposophie als eine Summe von Begriffen bezeichnen, ebenso, wie man sie verkürzen würde, wenn man in ihr lediglich eine Reihe von sozial wirksam gewordenen Handlungen sähe. Sie ist beides. Aber sie ist noch mehr.

Jeder kreative Mensch bleibt in all seinem Handeln und Denken auf ein Etwas bezogen, aus dem er seine Inspiration und die Kraft für sein Wirken schöpft. Dieses Etwas ist der lebendige Ideengrund, aus dem die Werke und Gedanken eines schöpferischen Menschen hervorgegangen sind. Will man sich ein lebendiges Bild dieses Ideengrundes aneignen, reicht es nicht aus, die historischen Formen zur Kenntnis zu nehmen, die der Inspirationsquell eines Menschen in seinem Lebenswerk angenommen hat. Man wird sich darum bemühen müssen, alle schöpferischen Ausdrucksgestaltungen auf ihren Ursprung rückzubeziehen, und sie in ihrem Hervorgehen aus ihrem Ursprung zu verstehen. Sonst verwechselt man die lebendige Idee eines Werkes mit den Ausdrucksformen, die ihr Schöpfer für sie geprägt hat. Die notwendige Folge ist die Erstarrung des eigenen Bezugs auf diese Ausdrucksformen. Anstatt sich mit dem lebendigen Ideengrund eines Werkes zu verbinden, und aus ihm die historischen Ausdrucksformen zu verstehen, wird man sich mit irgendeiner Ausdrucksform identifizieren, die zwar aus jenem Ideengrund hervorgegangen ist, ihre besondere Gestalt aber durch die Person des Schöpfers in ihrer zeitlichen und räumlichen Verwurzelung erhalten hat.

Dies gilt für all diejenigen, die sich auf das Werk Rudolf Steiners beziehen und den Anspruch erheben, es in der Gegenwart fortzuführen. Wie kann es fortgeführt werden? Es kann nicht so fortgeführt werden, daß man seinen Schöpfer nachahmt, indem man die Ausdrucksformen imitiert, in die dieser geprägt hat, was er an seinem eigenen Inspirationsquell erlebte. Es kann nur so – der Gegenwart angemessen – fortgeführt werden, daß es derjenige, der es fortführen will, aus demselben Inspirationsquell neu schöpft, aus dem der ursprüngliche Begründer die historischen Ausdrucksformen hervorgehen ließ.

Wir haben also die Anthroposophie von der historischen Gestalt zu unterscheiden, die sie durch das Lebenswerk ihres Begründers angenommen hat. Wenn wir uns in die von Steiner begründete Tradition einreihen wollen, werden wir demnach unweigerlich auf die Frage geführt: Was ist die Anthroposophie?

Dem Bedürfnis, diese Frage zu beantworten, kommen Antworten entgegen, die ihr Begründer auf sie gegeben hat. Sie sind, dem Charakter der Anthroposophie gemäß, nicht so beschaffen, daß sie das schöpferische Fortwirken der Menschen, die an Rudolf Steiners Lebenswerk anknüpfen wollen, behindern. Im Gegenteil: sie fordern es geradezu heraus.

Die wohl bekannteste Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Anthroposophie stammt aus den anthroposophischen Leitsätzen. Sie beschreibt die Anthroposophie als einen »Erkenntnisweg«. Sehen wir einmal von der näheren Spezifizierung dieses Weges ab, macht schon die Wortwahl deutlich, daß ihr Schöpfer die Anthroposophie nicht als eine Summe von Begriffen oder sozial wirksamen Handlungen verstanden haben wollte. Sonst hätte er von der Anthroposophie als einem Ideengebäude, einer Reihe von Handlungen oder einer Institution gesprochen. Stattdessen hat er sie als einen Erkenntnisweg bezeichnet.

Wenn man die Anthroposophie als einen Erkenntnisweg versteht, dann wird durch dieses Verständnis das eigene Erkennen aufgerufen, dem Begriff der Anthroposophie einen Inhalt zu geben, der diesem Erkennen angemessen ist. Das ist aber, nach der oben dargelegten Auffassung, nicht unter Umgehung der historischen Gestalt möglich, die die Anthroposophie durch das Werk ihres Begründers erhalten hat. Das eigene Erkennen wird also auf das Lebenswerk Rudolf Steiners verwiesen, an dem es sich ein Verständnis ihres lebendigen Inspirationsquells verschaffen kann. Durch das umsichtige Bemühen um Verständnis wird die Fähigkeit geschult, sich zum lebendigen Ideengrund der Anthroposophie zu erheben und dessen ideell-geistige Gestalt denkend anzuschauen. Das Verständnis wird darum ringen, durch die einzelnen historischen Ausdrucksformen hindurchzugreifen, um die ideelle Urgestalt dieser Ausdrucksformen zu erfassen.

Mit den Worten der Philosophie der Freiheit ausgedrückt stehen wir im Lebenswerk Rudolf Steiners einer Fülle von Individualisierungen von Erkenntnisintuitionen und moralischen Intuitionen gegenüber.

Individualisierungen fordern uns dazu auf, über sie hinauszugehen, um den Ideengehalt zu ergründen, aus dem sie entsprungen sind. Nur indem wir die historischen Ausdrucksformen hinter uns lassen, wird es uns gelingen, über das Stadium der Imitation hinauszutreten, und aus dem inneren Erleben der ideell-geistigen Gestalt der Anthroposophie diese mit dem aus unserem eigenen Erkenntnisbemühen erfließenden Inhalt zu erfüllen.

Diesem Bemühen enspricht die Aufforderung, die in Rudolf Steiners Wesensbestimmung der Anthroposophie liegt. Hätte er sie zu Beginn seines Lebens geprägt, könnte man behaupten, darin sei nicht mehr als ein Programm enthalten, das sein späteres Wirken ausgeführt habe. Die Beschreibung der Anthroposophie als eines Erkenntnisweges stammt aber aus einer Zeit, in der Rudolf Steiner bereits auf eine – für uns Nachgeborene – schier unüberschaubare Fülle von veröffentlichten Erkenntnisinhalten und sozial-schöpferischen Handlungen zurückblicken konnte. Indem er die ihm Nachfolgenden gegen Ende seines Lebens auf den eigentlichen Ursprung jeder Form der Anthroposophie verwies, hat er sie in ihre Mündigkeit und ihren Eigenrat entlassen. Er erhob nicht die Forderung, diejenigen, die sich mit der Anthroposophie verbinden wollten, sollten die Gesamtausgabe auswendig lernen, oder sich dienend in eine Einrichtung der Tochterbewegungen einordnen, um die deren Angehörigen erteilten normativen Handlungsanweisungen in die Praxis umzusetzen. Er verwies jeden Einzelnen auf sein eigenes Erkenntnis-Vermögen, indem er die Anthroposophie als Erkenntnisweg bezeichnete.

In diamantener Dichte verweist die angesprochene Wesensbestimmung der Anthroposophie zugleich auf den lebendigen Urquell, dem alle Äußerungen und Handlungen Rudolf Steiners entsprungen sind: auf die Tätigkeit des erkennenden Menschen.

Der Mensch könnte nicht erkennen, wäre er kein geistiges Wesen. Indem er sich des Ideengehaltes der Wirklichkeit bemächtigt, tritt er durch seinen eigenen Geist mit dem das Weltall erfüllenden Geistigen in Kommunion. Die Anthroposophie als Erkenntnisweg führt den einzelnen Menschen zu seiner geistigen Autonomie zurück und entläßt ihn zugleich aus der Verpflichtung, Vergangenes zu beschwören, das in gespensterhafter Gestalt durch die Gegenwart geistert, um mit gebieterischer Gebärde Gehorsam einzufordern.

Die von Rudolf Steiner gewählte Wesensbestimmung auferlegt uns Nachgeborenen aber eine andere Verpflichtung: die Verpflichtung, unsere Erkenntnisfähigkeiten anzuwenden, um den in der Gegenwart verborgenen Geist zu entdecken und uns mit ihm zu vereinigen. In der verstehenden Vereinigung, die der Kern jeder Du-Begegnung ist, ob es sich bei diesem Du um ein Naturwesen, einen anderen Menschen oder ein himmlisches Wesen handelt, tritt uns im Du unser eigenes geistiges Wesen entgegen. Frei von allen historischen Vorformen, vollzieht sich im verstehenden Erleben des Anderen jene Gemeinschaftsbildung, die das wahre Sakrament der immerwährenden Religion ist. Im Geiste vermählt, kümmern uns keine Namen und keine Bekenntnisse, denn der Name ist aus dem Namenlosen entsprungen, in dem wir eins sind und das Bekenntnis wandelt sich zur Erkenntnis, die sich in uns wieder und wieder ereignet.

Wenn die Anthroposophie ein Erkenntnisweg ist, wie verhalten sich dann die Ausdrucksformen für Erkenntnisse, die Rudolf Steiner geschaffen hat, zum Wegcharakter der Anthroposophie?

Lastet nicht eine erdrückende Fülle von inhaltlichem Wissen auf uns, wenn wir uns aufmachen, die Anthroposophie zu verstehen, und ihrem Schöpfer nachzufolgen? Müssen wir alles kennen, um selbst erkennen zu können? »Wer alles verstehen will, wird selbst wenig sein«, könnten wir mit Rudolf Steiner antworten.

Je mehr das Lebenswerk Rudolf Steiners durch die Editionstätigkeit der Nachlaßverwaltung, durch das Anwachsen der biographischen und historischen Sekundärliteratur vor unserem geistigen Blick Gestalt annimmt, um so vernehmlicher wird der Ruf, der uns aus diesem Werk entgegentönt: Werde du selbst! In jeder Zeile, in jedem Wort vernehmen wir diesen Aufruf zur eigenen Tätigkeit, zur Selbständigkeit, zur Freiheit. Müssen wir uns am inhaltlichen Wissen festhalten, das uns überliefert wurde, wenn uns aus all diesen Inhalten der Aufruf zum Selbsterkennen und Selbstkennen entgegenklingt?

Wir verstehen dieses Werk wohl am ehesten dann nicht falsch, wenn wir es als eine Aufforderung betrachten, über es und uns selbst hinauszuwachsen. Man möge dies nicht als Hochmut bezeichnen. Ein viel größerer Hochmut liegt darin, an das Vergangene gefesselt, die Schlüssel zum Himmelreich zu hüten und sie denen nicht anzuvertrauen, die darum bitten. Wer anderen den Zutritt zum Reich des Geistes verweigert, das er glaubt, hüten zu müssen, wird, ohne es zu bemerken, zum Hüter des Reiches des Ungeistes.

Wenn die Anthroposophie ein Erkenntnisweg ist, dann muß auch die historische Anthroposophie, die durch das Wirken und im Wirken Rudolf Steiners Gewordene, ein Erkenntnisweg sein, ein Weg aber, der nicht abgeschlossen ist, auf dem ihr Schöpfer immer weiterschreitet. Wer auf dem Weg, den er selbst abgeschritten hat, stehenbleibt, bleibt unweigerlich hinter ihm zurück. Wie jenen Frauen am Ostersonntag ergeht es uns, wenn wir uns an bestimmten historischen Formen festhalten: wir suchen einen Leichnam und sehen den Auferstandenen nicht. Nicht das Gewordene ist der Geist. Das Gewordene ist ein erstorbener Geist. Das Werdende ist der Geist, das auch heute ein immer Werdendes ist. Wo aber wird die Anthroposophie heute? Wo, wenn nicht in uns und aus uns, nicht indem wir uns der Lebenstätigkeit der Wiederkäuer hingeben, nicht indem wir Auswendiggelerntes memorieren, sondern indem wir noch nicht Gewordenes aus unserem schöpferischen Wesen hervorgehen lassen.

Betrachten wir also das Lebenswerk Rudolf Steiners nicht als abgeschlossene Offenbarung, sondern als Zeugnis eines menschlichen Schöpfertums, das nur dann für uns Wert und Bedeutung besitzt, wenn es in uns fortdauert. Die wahre Offenbarung ist nie abgeschlossen, sie ist kein einmaliges, historisches Ereignis. Wenn der Geist ein wahrhaft lebendiger ist, dann dauert die Offenbarung ins uns und durch uns und über uns hinaus fort. Wo das Wissen, das wir aus der Vergangenheit geschöpft haben, zur Waffe wird, um der Gegenwart den Geist auszutreiben, da wird das Gute erst recht zum Schlechten, weil es sich nicht mehr in Liebe und Weisheit in den Weltzusammenhang einfügt. Aus den selbsternannten Gralsrittern werden Pharisäer. In der Geschichte erblicken wir immer nur uns selbst, aber wehe, wir erblicken uns selbst nicht in ihr.

Ebensowenig, wie wir die Anthroposophie mit ihrem Gründer oder mit den historischen Formen, in die er sie geprägt hat, gleichsetzen können, dürfen wir sie mit der anthroposophischen Bewegung (der Gesamtheit der Individuen und Institutionen, die sich in ihrem Denken und Handeln auf das Werk und die Person Rudolf Steiners berufen) identifizieren. Die anthroposophische Bewegung hat in dem Ausmaß an der lebendigen Anthroposophie und ihrer Fortbildung teil, als es ihr gelingt, sich selbst als eine Verwirklichung des Wegcharakters der Anthroposophie zu bezeugen. Wo die Repräsentation der Anthroposophie in der Berufung auf bestimmte Erkenntnisinhalte oder bestimmte Handlungen besteht, stellt sie sich selbst in Frage.

Es läßt sich nicht bestreiten, daß die lebendige Anthroposophie sich zu vielen Ideen im Gegensatz befindet, die gegenwärtig das Denken und Handeln der Menschheit beherrschen. Dieser Gegensatz ergibt sich seitens der Anthroposophie nicht aus bestimmten Erkenntnisinhalten, sondern aus ihren Fragestellungen. Das kulturelle, wirtschaftliche und politische Leben der Gegenwart ist – nahezu global – dadurch gekennzeichnet, daß es bestimmte Erkenntnisfragen ausklammert. Durch das Ausklammern dieser Fragen wird das Leben in Richtungen gelenkt, die es beeinträchtigen. Angesichts dieser Tatsache sollten sich die gegenwärtigen Repräsentanten der Anthroposophie als Menschen betrachten, die imstande sind, die ausgeklammerten Fragen aufzuwerfen. Das setzt ein kritisches Bewußtsein voraus, das sich auf die gegenwärtigen Kulturformen aktiv und initiativ bezieht.

Aus diesem Verständnis der Anthroposophie ergäbe sich die Möglichkeit, sich in aktiver Fragehaltung in den Strom des kulturellen Lebens einzubringen und an dessen Gestaltung mitzuwirken, ohne sich in dogmatischem Abgrenzungsgestus aus ihm herauszulösen. Der lebendige Bezug auf die Anthroposophie als Erkenntnisweg schützt vor jeder Art von Sektierertum und Verkündungsanspruch, ebenso, wie der imitative Identifikationsgestus konsequent in das dogmatische Sektierertum führt bzw. geführt hat. Wer Anthroposophie als Erkenntnisweg und nicht als Summe von Erkenntnisinhalten versteht, wird in ihr eine Aufgabenstellung sehen und keine Lösung. Insofern wird die Anthroposophie immer mehr vom Forschungsobjekt zum Forschungssubjekt.

Betrachtet man die Erkenntnisinhalte, die Steiner dargestellt hat, als Fragestellungen, die das Feld künftiger Forschungen umschreiben, ergibt sich eine Umkehrung der Blickrichtung von der Vergangenheit in die Zukunft. Hat man zuvor die Anthroposophie als abgeschlossene, in der Vergangenheit liegende Offenbarung mißverstanden, erkennt man in ihr jetzt die Prophezeiung einer künftigen Epiphanie. Diese Epiphanie kann aber nicht zustande kommen, ohne daß diejenigen sie herbeiführen, die sie erwarten. Die kulturerneuernde Kraft der Anthroposophie liegt nicht in den historischen Formen, die sie angenommen hat und in ihrer Übertragung auf die Gegenwart: die kulturerneuernde Kraft liegt in der lebendigen Neuschöpfung von Ausdrucksformen, zu der die Anthroposophie in ihrer historischen Gestalt die ihr Verbundenen befähigen will.

Das wahre Ferment der Erneuerung liegt in der magischen Kraft der Frage. Die Frage ruft die Antworten hervor. Wo auf Fragen verzichtet wird, weil man glaubt, die Antworten schon zu besitzen, geht das Ereignis der Wirklichkeit vorüber, ohne daß es bemerkt wird. Im Ereignischarakter der Wirklichkeit bezeugt sich ihr geistiger Ursprung. Wer die Wirklichkeit als Zustand betrachtet, hat sich von ihrem geistigen Ursprung entfernt. Das gilt auch dann, wenn man sie als geistigen Zustand versteht. Nicht eine Summe von begrifflichen Wahrheiten verbürgt die Wirklichkeit, sondern die Gestaltung, die sie aus dem Wirken unseres Geistes annimmt.

Es kann nicht geleugnet werden, daß wir heute mächtigen Strukturen gegenüberstehen, die die Ereignishaftigkeit der Wirklichkeit zu einem Zustand mit scheinbarer Zeitlosigkeit umzuformen scheinen. Aber diese Strukturen werden allein vom unablässigen Fluß menschlicher Bewußtseinsakte aufrechterhalten. Das scheinbar Unabänderliche ruht auf einem treibsandartigen Grund. In den Tiefen der gesellschaftlichen Mächte fließt ein unablässiger Strom von potentieller Veränderung dahin, der nur darauf wartet, an die Oberfläche zu dringen. Durch die Macht der Frage kann dieser Strom schöpferischen Gestaltungswillens zur Erscheinung gebracht  werden. Wie ein Strom, der über das Ufer tritt, sich ein neues Flußbett formt, wird dieser kulturelle Gestaltungswille in unablässigem Mäandrieren neue Ufer schaffen, wenn er sichtbar wird.

»Es ist an der Zeit«, ruft der Alte in Goethes Märchen. Ja, es ist längst an der Zeit. Aber nicht das Licht ist es, welches das wahre Antlitz der Zeit sichtbar werden läßt, sondern das Gespräch. Denn der wirkliche Dialogos entspringt aus dem Logos. Im Dialog sind zwei im Namen des Einen vereint. Dort ereignet sich das Sakrament der Begegnung.

Das Gespräch wird durch Frage und Antwort begründet. In der Frage bekundet sich das Interesse am anderen Menschen. Der andere Mensch ist aber nicht das Duplikat meiner Eigenschaften. Der andere Mensch ist das ganz Andere, das Fremde, das Unerkannte und Unbegriffene. Solange das Gespräch nur eine Wiederholung des Bekannten ist, liegt ihm nicht die wirkliche Frage zugrunde und ereignet sich in ihm nicht das Sakrament der Begegnung. Das wirkliche Gespräch frägt stets nach dem wirklich Anderen, nach dem Unerkannten und Unbegriffenen, auf daß es sich zeige.

Anthroposophie als Erkenntnisweg ermöglicht ein Gespräch mit dem ganz Anderen, Unerkannten, Unbegriffenen, auf daß es sich zeige. Was sich zeigt, ist das Antlitz, aus dem das Wort ertönt. Diese Begegnungsform ist eine inspirativ-intuitive. Sie gilt für Individuen jeder Art. Durch sie wird auch der Zeitgeist vernehmbar. Aber der Zeitgeist überformt nicht die Individuen wie die mächtige Hand eines Töpfers, der aus seinem Menschenmaterial die ihm erforderlich scheinenden Gebilde formt. Der Zeitgeist spricht aus den Einzelmenschen, die sich fragend aufeinander einlassen.

In Wirklichkeit gibt es nicht viele Kulturen – die sich womöglich gegenseitig ausschließen. Es gibt nur die eine, die durch die Menschen gestaltet wird, die sich auf diese Weise begegnen. Anthroposophen nehmen an der Gestaltung der Kultur teil, nicht indem sie sich auf eine Vergangenheit berufen, in deren Glanz sie erstrahlen, sondern indem sie sich von der Vergangenheit verabschieden, um sich selbst aus der Zukunft eine vorübergehende gegenwärtige Gestalt zu geben, die Ausdruck ihres geistverbundenen Wesens ist. Je mehr das eigene Handeln auf das Unvergängliche bezogen ist, um so ideenreicher und anpassungsfähiger wird es.

Klar ist, daß diejenigen, die behaupten, das Gebundensein des Werkes an den Namen bedeute die Verpflichtung zum dogmatischen Zitat, sich auf dem Holzweg befinden. Der Name ist nicht der irdische Name, der Name ist der himmlische Name. Der Name ist eine Metapher für die unverwechselbare Signatur der geistigen Individualität. Der geistigen Individualität bleibt nicht treu, wer am historischen Namen festhält, den sie angenommen hat. Der Individualität bleibt treu, wer den historischen Namen vergißt, um sich mit dem lebendigen, in Fortentwicklung begriffenen Ideengehalt zu verbinden, durch den sich die Individualität ausgesprochen hat.

Lächerlich erscheint angesichts dieser Zukunftsbezogenheit der Anthroposophie auch der Versuch, sie in einer historischen Form zu restaurieren, die sie – aus welchen Gründen auch immer – nicht angenommen hat. Nicht äußere Einrichtungen können die Lebendigkeit des Geistes garantieren. Der Geist weht bekanntlich, wo er will. Es ist der Irrtum aller Priester, daß sie die Form mit dem Inhalt verwechseln. Wenn der Geist in Erscheinung tritt, gibt es sich selbst seine Form, die ihm angemessen ist. Weder Wort, noch Zeichen oder Griff können seine Anwesenheit verbürgen. Er spricht sich nur im Ich aus, das sich ihm zuwendet. Das Schweigen in den Hallen aller Mausoleen spricht für sich.

Aus dem hier skizzierten Verständnis der Anthroposophie, das uns auf unser Erkenntnisvermögen zurückverweist, ergibt sich eine klare Aufgabenstellung. Es ist die Aufgabenstellung, der geänderten Zeitlage gegenüber unser Intuitionsvermögen tätig werden zu lassen, um die Erkenntnisintuitionen und die moralischen Intuitionen zu erfassen, die die Lebenssituation von uns erwartet. Weder die Erkenntnisintuitionen noch die Handlungsintuitionen können an irgendeinem Ort für alle Zeiten vorgeformt sein und für alle künftigen Situationen passen. Wir können die Erkenntnisaufgaben und die Lebensaufgaben, die wir – jeder an seinem Ort – zu bewältigen haben, nicht dadurch lösen, daß wir in einem Katalog nachschlagen, wo wir die Lösungen finden, wen auch immer wir für den Verfasser eines solchen Kataloges erklären.

Sind wir in unserem Erkennen und Handeln vom Anthropos, das heißt, vom auf seinen geistigen Ursprung bezogenen Menschen, geleitet, dann werden wir von dieser unserer Bezogenheit Zeugnis ablegen. Ebenso wie die Anthroposophie, die aus diesem Anthropos hervorgehende Weisheit, ist natürlich dieser Anthropos selbst ein ständig Werdender, allseitig Offener. Wir können daher nicht erwarten, daß wir die Antworten auf unsere konkreten Lebensfragen in Lösungsvorschlägen finden, die sich auf vollkommen andersartige historische Situationen beziehen. Wir können nicht erwarten, daß wir von der Gegenwart verstanden werden, wenn wir eine Sprache sprechen, die nicht die Sprache dieser Gegenwart ist. Wir können ebenso wenig erwarten, daß wir von der Gegenwart gehört werden, wenn wir Fragen beantworten, die vor langer Zeit gestellt wurden.

Der Anthroposoph, das heißt, der aus seiner lebendigen Beziehung zum Geist lebende Mensch, wird gegenüber anderen keinen Führungsanspruch erheben. Er wird anerkannt werden, wenn er etwas zu sagen hat. Was ihn auszeichnet, wird nicht sein Wissen sein, sondern seine Fähigkeit, Fragen so zu stellen, daß auch andere die Antwort finden können. In der richtigen Fragestellung liegt die bewußtseinsweckende Kraft. Aber die Frage darf selbstverständlich nicht aus dem Bewußtsein entspringen, daß man die Antwort schon besitzt, sie aber aus pädagogischen Gründen seinen Gesprächspartnern vorenthält. Indem man seine Mitmenschen befähigt, ihre eigenen Fragen zu beantworten, wird man durch sie belehrt.

Diese Haltung besitzt nicht nur Gültigkeit für das Gebiet der Wissenschaften, sondern auch für das praktische Leben.

Die Zukunft gehört nicht jenen, die vor Experimenten zurückscheuen, sondern jenen, die erkennen, daß das menschliche Leben ein Experiment ist, dessen Ausgang nicht vorausgesagt werden kann. Der Experimentalcharakter des menschlichen Lebens führt wieder auf die Ereignishaftigkeit der Wirklichkeit zurück. Zwar ist die Wirklichkeit ein Ereignis, das wir mit herbeiführen, aber in dieses Ereignis geht immer etwas ein, das wir nicht vorausplanen und -berechnen können, das wir erwarten müssen. Unser Leben ist eine fortwährende Grenzüberschreitung und die lebendige Idee der Anthroposophie leitet uns dazu an, diese Grenzüberschreitung zuversichtlich zu vollbringen.

Was heißt demnach: Anthroposophie neu denken? Es heißt nicht, Anthroposophie in ihrer historischen Gestalt stets von Neuem denken, sondern es heißt, eine neue historische Gestalt der Anthroposophie hervorzubringen, die eine Individualisierung jener lebendigen Idee darstellt, aus der sie schon zu Beginn des Jahrhunderts hervorgegangen ist. Wer darin wieder jene Hybris sieht, sich auf gleiche Stufe mit Rudolf Steiner stellen zu wollen, sollte nicht vergessen, daß seine Demut aus dem Zurückscheuen vor der Aufgabe hervorgeht, die Rudolf Steiner all seinen Schülern gestellt hat.

Tatsächlich ist in der Intuition des Menschen die ganze Anthroposophie enthalten. Aber sie muß sich in jedem Einzelmenschen, der aus Einsicht handelt, von Neuem verwirklichen. Aus der Einsicht entspringt die Weisheit: die wahre Anthroposophia geht aus dem selbstschöpferischen Erkennen und Handeln der Einzelmenschen hervor, die sich der Intuition des Anthropos verbunden fühlen.

Aber diese Intuition offenbart sich in jedem Menschen.


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