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Anthroposophie / trithemius verlag / Jahrbuch 1999 Reinkarnation

Reinkarnationserinnerung, Reinkarnationsforschung - offene Fragen

Von Lorenzo Ravagli

1. Systematischer Teil, mit den Augen Leibnizens zu lesen

Unter den Interpreten der Gesamtausgabe1 herrscht Einigkeit darüber, daß die Reinkarnationsidee in die Fundamente der Anthroposophie eingelassen ist. Schlüge man sie heraus, bräche das ganze Gebäude zusammen. Hinter dieser vordergründigen Einigkeit vernimmt man aber ein schwer differenzierbares Geraune. Tritt man näher, läßt sich ein Gewirr vieler Stimmen erkennen, die die Uneinigkeit in der Interpretation dieser Idee bezeugen. Begnügt man sich mit schlichten Formeln, etwa der, daß es der Geist oder die Individualität sei, die sich reinkarnierten, wird kaum jemand widersprechen. Sobald man aber der Sache etwas nähertritt, wird man ihrer Komplexität, Vielschichtigkeit und der vielen offenen Fragen gewahr, die mit ihr verbunden sind. Doch nicht allein die Entfaltung des Reinkarnationsgedankens im Werk Rudolf Steiners führt uns an gefährliche Abgründe, sondern auch die Anwendung dieses Gedankens auf unsere Erfahrungswelt ist mit erheblichen Problemen verbunden und stürzt in Aporien, über die wir uns allzuleicht vertrauensselig hinwegtäuschen.

(a) Eines ist es, sich aufgrund eines umfassenden Studiums Klarheit über die Ideen von Reinkarnation und Karma zu verschaffen, wie sie Steiner entfaltet hat.

(b) Etwas anderes, sich mit den Reinkarnationsforschungen Steiners zu befassen und der Frage nachzugehen, inwieweit die von ihm beschriebenen empirischen Fälle paradigmatisch oder geeignet sind, aus ihnen allgemeine Regeln abzuleiten.

(c) Etwas drittes ist es, die gegenwärtig zur Diskussion stehenden Erzählungen über angebliche Reinkarnationserinnerungen nach Maßgabe der unter (a) erworbenen Ideen zu beurteilen. Diese Beurteilung schließt die Frage ein, ob die betreffenden Ideen auf diese Erzählungen

(d) anwendbar sind und wenn, ob

(e) die Ideen geeignet sind, die Validität der Erzählungen zu überprüfen. Kommt man in den Fragen (d) und (e) zu einem negativen Ergebnis, dann erhebt sich

(f) die Frage nach einem anderen Kriterium, möglicherweise einer empirischen Überprüfung der Validität jener Erzählungen.

Individualität und Persönlichkeit

Allein schon die sich unter (a) ergebende Aufgabe wird meist nicht hinreichend bewältigt. Um nur einen der vielen damit verbundenen Aspekte aufzugreifen: es herrscht keineswegs immer die nötige Klarheit über den Begriff der menschlichen Individualität im Unterschied zu dem der Persönlichkeit.

Zwar scheint eine Orientierung möglich, wenn man sich auf die Darstellungen der Theosophie oder der Geheimwissenschaft im Umriß stützen will. Diese legen den Gedanken nahe, daß von der irdischen Persönlichkeit nach dem Tode nichts übrig bleibt, als eine Reihe von geistigen Extrakten und daß die Existenzform des Verstorbenen in der geistigen Welt nach dem Durchleben des Kamaloka nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit der Persönlichkeit besitzt, deren Leib wir auf der Erde hinterlassen haben, deren Ätherleib in die kosmische Ätherwelt aufgegangen und deren Astralleib mit der kosmischen Seelenwelt verschmolzen ist.

Lohnend wäre es, der Frage nachzugehen, was eigentlich unter einem »geistigen Extrakt« zu denken ist. Wenn man sich klarmacht, daß der Ätherleib nicht nur Träger der Erinnerungen und Gewohnheiten ist, dieser aber abgelegt werden muß, ergibt sich das Problem, wie denn nach der Ablegung des Ätherleibes noch erinnert werden kann bzw. in welcher Form das vergangene oder die vergangenen Leben als geistige Extrakte fortexistieren.

Denkbar wäre, daß so etwas wie eine begriffliche Summe aus dem verflossenen Leben gezogen wird, daß der geistige Extrakt eine höchst komplexe Komposition von Begriffen und ihren Individualisierungen darstellt, die jene in sich aufgenommen haben. Da Begriffe rein geistig sind, hindert diese nichts, als Teil der geistigen Individualität oder gar ihr wesentlicher Inhalt in dieser fortzuleben. Allerdings dürften die Begriffe eine Form annehmen, die sich erheblich von jener unterscheidet, die sie im leibgebundenen Vorstellen besitzen. Wenn die Welt der kosmischen Intelligenzen, in die der Verstorbene eintritt, eine Welt von geistig-begrifflichen Lebensbeziehungen ist, dann trägt der Verstorbene seinen eigenen, während des Lebens gewobenen – individualisierten – Zusammenhang mit dem Kosmos in diesen ein, soweit dieser in begrifflicher Form fortexistieren kann und der Kosmos nimmt ihn auf. Die Auflösung des Ätherleibes im kosmischen Äther wäre dann der Vorgang, durch den der begrifflich-geistige Gehalt des verflossenen Lebens aus der Verbindung mit den sinnlichen Wahrnehmungen gelöst wird, an denen der Verstorbene den geistigen Weltzusammenhang während seines Lebens auf der Erde individualisierte.

Da der individuelle Mensch mit all seinen Irrtümern, Illusionen, Wahrheitseinsichten, Idealen und moralischen Verfehlungen in die nachtodliche Welt eintritt und der Ätherleib die Gesamtheit des verflossenen Lebens in sich trägt, kann die Summe des vergangenen Lebens aus diesem Teil der menschlichen Organisation »extrahiert« werden. Dieser Extraktionsvorgang entpräche in etwa einer induktiven Abstraktion, durch die allgemeine Begriffe aus ihrem Zusammenhang mit den Wahrnehmungen, an denen sie zuvor vorbewußt individualisiert wurden, abgelöst werden. Allerdings ist der Vorgang eine reale Abstraktion, weil sich durch ihn das seelisch-geistige Wesen des Menschen von der sinnlich-physischen Welt real loslöst, »entfernt«.

Entsprechendes gilt auch für den Astralleib mit seinen Trieben, Begierden, Leidenschaften, Fähigkeiten des Fühlens, Wollens und Denkens. Was dieser abstreifen muß, ist im Grunde der hauptsächliche Inhalt der irdischen Persönlichkeit, insofern diese an der irdischen Welt haftet: was nichts anderes bedeutet, als daß jener Anteil der Individualisierung, der nicht geistiger Art ist, abgelegt werden muß. Eine »Unvollkommenheit« ist eine seelische Eigenschaft, die den Menschen vom Leben im geistigen Weltzusammenhang ausschließt, weil sie ihn in sich selbst festbindet, weil sie z.B. auf dem Irrtum beruht, die individuelle Persönlichkeit könne ohne das Zusammenwirken der Gesamtheit aller Wesen existieren. Für all diese Unvollkommenheiten gilt die buddhistische Formel von »Gier, Haß und Verblendung als den Ursachen allen Leides« – auf Erden und erst recht im nachtodlichen Läute­rungsvorgang. Da das Götterideal des Menschen, dem der Verstorbene entgegenstrebt, die »Totalexistenz« der Individualität im Universum ist, muß diese alles ablegen, was sie daran hindert, sich dem geistigen Weltzusammenhang – dem Chor der Engel, ihrem Wissen und Wollen – selbstlos hinzugeben.

Der Verstorbene wäre taub und blind, wollte er auf seiner Sonderexistenz beharren. Nur was sein Wesen für den sich fortschreitend erschließenden geistigen Weltzusammenhang öffnet, kann ihn auch in diesen hineinführen. Was er sich während des Lebens auf der Erde an Fähigkeiten angeeignet hat, das geistige Weltgewebe selbständig denkend zu erfassen, wird nach dem Tod zum Licht, das die Gestalten und Taten der Engel beleuchtet und dadurch sichtbar macht. So muß er, um in die »rein geistige Welt« einzutreten, alle irdischen Schlacken hinter sich zurücklassen. Diese bleiben aber im Weltganzen erhalten, denn es sind ja seine Schlacken, die er als Summe seiner Unvollkommenheiten in dieses eingebracht hat. Dieser Vorgang der Läuterung, der bekanntlich – zeitlich gesprochen – rückwärts verläuft, könnte auch mit einem unablässigen Gespräch verglichen werden, das der Verstorbene mit den Wesen der geistigen Hierarchie führt: diese lauschen seinen Erzählungen, nehmen den geistigen Gehalt seines verflossenen Lebens in ihr eigenes unvergängliches Sein auf und erzählen dem Verstorbenen dieses Leben wieder, wenn er sich vor der Geburt anschickt, sich einen neuen Ätherleib und physischen Leib aufzubauen. Diese Erzählungen der Engel vom vergangenen Leben bilden einen Bestandteil des Astralleibes und werden von diesem dem Ätherleib des Menschen und auch dem physischen eingeprägt.

Der Karmagedanke besagt bekanntlich, daß die geistige Individualität (die unsterbliche und ungeborene Ichwesenheit) die Früchte und Hindernisse, die Ergebnis der vergangenen Lebensläufe sind, wieder in sich aufnimmt, um sie in den künftigen Inkarnationen in ihr Schicksal zu verweben. Doch erscheinen die Ergebnisse des vergangenen Erdenlebens in einer solchen Metamorphose, daß ihr Zusammenhang mit dem vorangegangenen oder den vorangegangenen irdischen Existenzen im Einzelfall nicht verstandesmäßig zu erschließen ist. So wie sich die Gliedmaßenorganisation einer Inkarnation in die Kopforganisation der folgenden metamorphosiert, gestaltet sich das Geistige ins Seelische um, das Seelische ins Ätherische, das Ätherische ins Physische und dieses wiederum ins Geistige. Irrtum wird zu Seelennot, Haß zu Krankheit, aus Krankheit entspringt geistige Wandlung.

Wenn wir den Metamorphosegedanken in all seiner Einfachheit und Größe erfassen, scheint die Vorstellung absurd, es könnten sich seelische Eigenschaften einer Inkarnation nahezu unverändert in die nächste hinüberretten. Ein solcher Vorgang wäre weniger ein Hinweis auf eine Reinkarnation des Geistes, der Individualität oder Entelechie, als vielmehr ein Hinweis auf eine Seelenwanderung. Von einer solchen könnte gesprochen werden, wenn es der betreffenden Seele gelänge, sich selbst in ihrem Zustand, mit all ihren Fähigkeiten und Mängeln, ihren Qualitäten und Eigenheiten über den Tod hinaus zu erhalten und sich wieder mit einem Leib zu verbinden. Häufig erzählen Absolventen von Rebirthing-Sitzungen, daß sie Dutzende von in kurzen zeitlichen Abständen aufeinanderfolgenden Reinkarnationen durchlebt und immer wieder mit denselben seelischen Problemen zu kämpfen gehabt hätten. Es liegt nahe, in solchen Erlebnissen seelische Projektionen zu sehen, in denen die Kontinuität nicht von der geistigen Individualität, sondern von gleichbleibenden Seeleninhalten gestiftet wird, während die Seele Phantasiebilder oder subjektive Imaginationen ihrer jetzigen Lage produziert und sie verzeitlicht ins innere Gesichtsfeld projiziert.

Eine Seelenwanderung ist aber nicht zwingend mit der Reinkarnation des geistigen Trägers der Identität verbunden. Nicht zufällig hat die buddhistische Philosophie Theorien über einen Reinkarnationsablauf ohne geistig-substantielle Wesenheit, die sich reinkarniert, formuliert.

Von persönlicher Unsterblichkeit, einer Unsterblichkeit der Person kann erst dann gesprochen werden, wenn diese Person eine solche Form annimmt, daß sie auch ohne das Vorhandensein einer Leibesorganisation das Bewußtsein ihrer selbst aufrecht zu erhalten vermag. In der Anthroposophie wird eine solche Form der Persönlichkeit als Geist-Selbst bezeichnet. Was an seelischen Erlebnissen und Inhalten durch den Leib bedingt ist, an dessen inneren Organen sich die Seelentätigkeit spiegelt, das muß mit dem Tode bzw. in der Folgezeit abgelegt werden, denn der Leib selbst ist nicht mehr vorhanden und was sich auf dessen Vorhandensein stützte, kann nicht Teil des unsterblichen Wesens des Menschen sein. Die Frage, was von der irdischen Persönlichkeit übrig bleibt, wenn alles Irdische abgestreift wird, muß also so beantwortet werden, daß nur übrig bleibt, was das geistige Tätigkeitswesen des Menschen schon während des irdischen Lebens an nicht auf den Leib gestützen Erlebnissen und Inhalten zu realisieren vermochte.

Nimmt man die Schilderungen Rudolf Steiners in den oben genannten Büchern ernst, dann ist die Erfahrung des Kamaloka Voraussetzung dafür, daß das geistige Wesen des Menschen in die »höheren Regionen« des nachtodlichen Lebens, in die rein geistigen Bewußtseinszustände eintreten kann. Was nicht durch Ablegung (Läuterung) des Ätherischen und Seelischen rein geistig geworden ist, kann weder ins rein Geistige eintreten, noch sich in diesem bewußt erhalten. Dieses Stadium des rein geistigen Daseins durchläuft aber die menschliche Individualität zwischen den einzelnen Inkarnationen.

So wie Inkarnation das Eintauchen des Geistes in das Fleisch voraussetzt, so die Geburt in die nachtodliche, geistige Daseinsform Entfleischlichung, Geistwerdung. Es hätte gar keinen Sinn von Re-Inkarnation zu sprechen, wenn sich der Geist nicht wirklich ent-fleischt hätte. Imaginativ stellt das die Schilderung vom verzehrenden Feuer dar, in dem die Begierden, die uns an die irdische Welt fesseln, sich selbst verbrennen. Andererseits ist dieses Durchlaufen der geistigen Daseinsstufe Voraussetzung dafür, daß das geistige Urbild des künftigen physischen Leibes aufgebaut werden, sowie die Umschmelzung der vergangenen Existenz in die Schicksalsbedingungen der künftigen erfolgen kann.

Diese Umschmelzung ist mit einer Umstülpung verbunden. Was in der vorhergehenden Inkarnation Innenwelt war, wird im Dasein nach dem Tode zur Außenwelt, was außen war, wandert nach innen. Diese Umstülpung hat zur Folge, daß das, was man in der Welt bewirkt hat, als eigenes Wesen erlebt, und daß das eigene Wesen als Welt erfahren wird. Die geistig-moralischen Erlebnisse, die durch diese Umstülpung der Ich-Welt-Beziehung zustandekommen, bilden die Grundlage für die Gestaltung der seelisch-geistigen und der leiblichen Organisation in der neuen Inkarnation ebenso wie für die Ausformung der Schicksalsbedingungen, in die die geistige Individualität sich hineinbegibt und die ihr auf dem neuen Lebensschauplatz »von außen« entgegenkommen. So wird nach der Darstellung der Geheimwissenschaft das »Fruchtbringende« der vergangenen Inkarnation zu den Anlagen und Fähigkeiten, die man in die neue Inkarnation mitbringt, das im Sinne der kosmischen Moralität »Schlechte«, das man vollbracht hat, wird zum von außen kommenden Hindernis der eigenen Entwicklung in der künftigen Verkörperung. Bereits die Philosophie der Freiheit schärft mit ihrer Unterscheidung zwischen »innerer Bestimmtheit« und »Lebenschauplatz« den beobachtenden Blick für die Schicksalserkenntnis. Was die Philosophie der Freiheit als »Wahrnehmung« bezeichnet, ist nichts anderes als der Inhalt unseres Schicksals, während der »Begriff« unsere Freiheit verbürgt, denn wir können ihn nicht empfangen, sondern müssen ihn tätig hervorbringen.

Wie aber ist es angesichts dieses fundamentalen Umstülpungs- und Verwandlungsvorgangs, den die Reinkarnation beinhaltet, denkbar, daß sich Eigenschaften einer vorhergehenden Verkörperung in einer folgenden nahezu unverändert wiederfinden? Was hätte die Reinkarnation für einen Sinn, wenn sie der Individualität nichts Neues böte, sondern nur die stete Wiederholung desselbigen, die ewige Wiederkehr?

Nicht umsonst wirft Steiner öfter einer individualitätslosen Vorstellung der Wiederverkörperung vor, sie sei sinnlos. Diesem Argument – und wir bewegen uns unter (a) allein auf der argumentativen Ebene der denkenden Auseinandersetzung mit einer Idee – könnte entgegengehalten werden, daß der frühzeitige – möglicherweise gewaltsame – Tod es notwendig mache, daß das Schicksal in einer folgenden, sich kurz darauf anschließenden Inkarnation seine Fortsetzung bzw. Erfüllung finde. Dabei schwebt der Gedanke vor, daß ein Mensch durch den frühzeitigen Tod daran gehindert wurde, das zu tun, was er in diesem gewaltsam beendeten Leben tun wollte. Nun soll das sich daran anschließende Leben die Verwirklichung dieser Absichten ermöglichen. Doch muß gegenüber diesem Argument die Frage aufgeworfen werden, warum der frühzeitige, auch gewaltsame (auch massenhafte) Tod vom Gedanken des Schicksals so gänzlich ausgenommen sein soll. Wer von Menschen zugefügte Gewalt nicht als selbstgewähltes Schicksal denken kann, wird schwerlich ein angemessenes Verständnis für den Reinkarnationsgedanken entwickeln können. Er wird immer mit dem scheinbar Unbegreiflichen hadern. Das Zurückschrecken vor dieser Konsequenz der Reinkarnationsidee führt zu den sonderbarsten geistigen Verrenkungen. Die scheinbare Notwendigkeit dieser Verrenkungen ist durch mangelndes Unterscheidungsvermögen bedingt.

Was mitunter zur Begründung solcher Fortsetzungstheorien an Textstellen aus dem Gesamtwerk Steiners angeführt wird, läßt sich auch angemessener interpretieren. Christoph Rau (siehe dazu ausführlicher den polemischen Teil dieses Essays) zitierte in seinem Goetheanumaufsatz [Nr. 10, 8. März 1992, S. 93-95] einen Vortrag Steiners vom 18.11.1915 – in dem über Menschen gesprochen wird, die vor ihrem 35. Lebensjahr starben – , um den Anspruch Barbro Karléns, eine Reinkarnation Anne Franks zu sein, argumentativ zu rechtfertigen.

Die Textstelle lautet: »Solche Menschen, die in einer Inkarnation vor dem 35. Lebensjahr durch den Tod gehen und dadurch für diese Inkarnation die Kräfte sparen, die sonst aufgebraucht worden wären, wenn sie fünfzig, sechzig, siebzig Jahre alt geworden wären, bei denen summiert sich diese Kraft, die sie da erspart haben, mit den Kräften, mit denen sie sich in die nächste Inkarnation einverleiben, und dadurch werden solche Seelen in Leibern geboren, durch die sie imstande sind – zumeist in ihrer Jugend –, mit starken Eindrücken dem Leben entgegenzutreten. [Man beachte die merkwürdige Formulierung, die etwas passivisches, nämlich einen Eindruck, in etwas aktivisches, nämlich das Entgegentreten, verkehrt.] ... Wenn solche Seelen ... sich wieder inkarnieren, so macht alles auf sie einen starken Eindruck. Es entrüstet sie etwas stark, sie freuen sich stark, sie haben lebhafte Empfindungen, und es drängt sie rasch zu Willensimpulsen. Das sind solche Menschen, die dann stark in das Leben hineingestellt werden, die ihre Mission bekommen.« Dieser Text ist keineswegs geeignet, aus ihm die Anschaung abzuleiten, die »aufgesparten Kräfte« begründeten in einer nächsten Inkarnation gewissermaßen eine Kontinuität zu der vorangegangenen. Es ist darin nicht von einer praktisch nahtlosen »Fortsetzung« des frühzeitig beendeten Lebens die Rede, sondern von einem »Aufsparen von Kräften«, die sich nicht direkt seelisch oder geistig äußern, sondern in der Folgeinkarnation in die Bildung des Leibes investiert werden, der wiederum ein bestimmtes Seelenleben ermöglicht. Auch hier nimmt Steiner deutlich den Gesichtspunkt der Metamorphose ein: was an seelisch-geistigen »Kräften« »aufgespart« wurde, metamorphosiert sich in der Folgeinkarnation in die Leibesbildung, die wiederum Grundlage eines bestimmten Seelenlebens ist.

All diesen Spekulationen ließe sich eine Bemerkung Steiners von hohem systematischem Rang aus dem Jahr 1912 entgegenhalten, die grundsätzlich gemeint war und auch so aufzufassen ist: »Viele Reinkarnationsketten werden leider von unausgebildeten Anthroposophen in der Weise aufgestellt, daß man einfach glaubt, die vorhergehende Inkarnation dadurch zu finden, daß man die Fähigkeiten, die in der gegenwärtigen auftreten, auch in der vorhergehenden oder womöglich in mehreren vorhergehenden Inkarnationen wird finden müssen. Das ist die schlechteste Art zu spekulieren. Man trifft gewöhnlich damit das Falsche. Denn die wirklichen Beobachtungen mit den Mitteln der Geistesforschung zeigen zumeist das genaue Gegenteil.«8

Steiner kehrt im Folgenden die Spekulationsmethode um, und weist darauf hin, daß die Wahrscheinlichkeit, das Richtige zu treffen, erheblich größer sei, wenn man von dem ausgehe, wozu der Betreffende in der gegenwärtigen Inkarnation die geringsten Fähigkeiten besitze und von diesen auf das Gegenteil zurückschließe. Abgesehen davon, daß dieser Exkurs über Reinkarnationsspekulationen allein das »Wahrscheinliche« und nie das »Wahre« betrifft, weil zur Erkenntnis des »Wahren« wirkliche Geistesforschung erforderlich ist, d.h. die Beobachtung der Wandlungen der geistigen Individualität durch die verschiedenen nachtodlichen und vorgeburtlichen Gestaltmetamorphosen hindurch, zeigt sich an diesen Bemerkungen, wie abseitig der Versuch ist, von der Voraussetzung einer Kontinuität der persönlichen Eigenschaften zu einem sachgemäßen Urteil über Reinkarnationsfolgen gelangen zu wollen. Steiner fährt an der zitierten Stelle fort: »Und will man wissen, welche Begabungen man höchstwahrscheinlich in der vorigen Inkarnation hatte – ich mache darauf aufmerksam, daß wir jetzt also auf dem Boden der Wahrscheinlichkeit stehen –, will man wissen, welche Fähigkeiten in dieser Richtung an Intelligenz, künstlerischen Dingen und so weiter man in der vorigen Inkarnation gehabt hat, so tut man gut, wenn man nachdenkt, wozu man in dieser Inkarnation am allerwenigsten Fähigkeiten hat ...«

Daß diese auf Probabilitäten fußende Spekulation zu keinen gesicherten Urteilen führen kann, daß also schlechterdings die stoische εποχη die einzig mögliche methodische Haltung ist, zeigt die Einschränkung, die gleich darauf folgt, wenn Steiner davon spricht, daß die »Tatsachen« diese Probabilitäten vielfach wieder durchkreuzten. Als Beispiel, als Einzelfall, der das Wahrscheinlichkeitsgesetz außer Kraft setze, führt er den Fall des früh verstorbenen Mathematikers Abel an, der »ganz gewiß« in seiner nächsten Inkarnation mit einer mathematischen Begabung wiedergeboren werde, weil er seine mathematische Begabung nicht ausgeschöpft habe. Auffallend ist aber, daß Steiner an dieser Stelle selbst nur eine Wahrscheinlichkeit gegen das Gesetz ins Feld führt (»da kann … der Fall eintreten«) und daß das Gesetz (»man trifft gewöhnlich das Falsche ... die wirklichen Beobachtungen …zeigen zumeist das genaue Gegenteil«) durch einen Einzelfall nicht aufgehoben wird, ist klar. Daß bei Frühverstorbenen die Folgeinkarnation nicht zwingend eine Fortsetzung in der beschriebenen Art sein muß, geht daraus hervor, daß Steiner dieses Gegenbeispiel ausdrücklich als Einzelfall von geringerem systematischem Rang behandelt.

Täter und Opfer

Häufig wird die Dualität des Schicksalgedankens nicht erkannt und nicht zwischen der Subjekt- und der Objektperspektive des Schicksals unterschieden. Was von der einen Seite, der des handelnden Subjekts, als freie oder freiwillige Tat erscheint, kann gleichzeitig – von der Seite des leidenden Objektes betrachtet – als Schicksal verstanden werden. Derjenige, der eine Einwirkung von außen erleidet, erfährt diese Einwirkung schicksalhaft. Doch ist die Kehrseite des Schicksals- der Freiheitsgedanke: Für den, der handelt, ist sein Handeln nicht vorherbestimmtes Schicksal, sondern indeteminiert. Die Handlung wandelt sich erst im Augenblick, da sie vollbracht wird, zum Schicksal für den, der sie erleidet und für den, der sie tätigt: für letzteren allerdings wird sie in Form der karmischen Folgen zum Bestandteil seines künftigen Schicksals. Deswegen kann der frühzeitige Tod durch ein Verbrechen Schicksal sein, ohne daß der Täter durch diese Betrachtungsweise entschuldigt oder entschuldet werden könnte.

Andererseits ist auch die Auffassung keineswegs zwingend, es sei im Schicksal des betreffenden Menschen gelegen, Opfer zu werden, bevor er Opfer geworden ist. Post factum allerdings ist das Opfersein zum Schicksal geworden. Vorher jedoch ist die Situation für eine Vielfalt potentieller Entwicklungen durchaus offen, soweit die Möglichkeit der menschlichen Freiheit beim Eintritt von Ereignissen überhaupt ein zu berücksichtigender Faktor ist. Was natürlich nicht der Fall ist, wenn jemand vom Blitz erschlagen wird (da der Blitz nicht durch menschliches Handeln hervorgerufen wird, – was nicht ausschließt, dass Angeloi oder Archai den zum Opfer gewordenen zum Blitz geleitet haben). Freiheit und Schicksal könnten nicht zusammengedacht werden, wenn das Handeln des Menschen vollständig determiniert wäre. Durch den Eintrag des menschlichen Handelns in das Weltgeschehen wird dieses Geschehen selbst graduell aus dem Zusammenhang der determinierenden Naturgesetze befreit und der Geltung der moralischen Gesetze unterstellt.

Wenn aber der frühzeitige Tod Bestandteil des Schicksals des betreffenden Lebens ist, dann besteht auch nicht die Notwendigkeit, dieses Leben in einer folgenden Inkarnation unter genau denselben Bedingungen fortzusetzen. Angesichts dieser Interpretation erscheint die Vorstellung von »nicht verbrauchten Ätherleibern« und ähnliches als leicht abenteuerlich.

Wer sich auf die Idee der Reinkarnation einläßt und sie nüchtern erwägt, wird für sie viele Plausibilitätsgründe finden. Er wird auch für die Anschauung von der relativen Seltenheit der Inkarnationen im Zeitablauf Plausibilitätsgründe finden. Denn was hätte eine Inkarnation für einen Sinn, die nicht die Möglichkeit böte, etwas radikal anderes zu sein, als man vorher war? Jede Vorstellung, die in dieser Richtung geht, nähert sich der ewigen Wiederkehr des Gleichen und damit dem Nihilismus an. Es haftet der Häufung von Inkarnationen durch die Jahrhunderte, Jahrtausende hindurch, vor allem, wenn sie mit der Vorstellung eines gleichbleibenden Inhalts der Persönlichkeit und dem Mangel an Entwicklung oder Wandlung verbunden ist, etwas Entwürdigendes an, wie dem Erscheinungsbild einer Bulimie. In einem anderen Fall befände sich natürlich ein Mensch, der der Reinkarnation gar nicht mehr bedürfte, weil er ein kontinuierliches Bewußtsein besitzt, für das Geburt und Tod keine vollständige Grenze, sondern nur einen Übergang darstellen. Ein solcher Mensch hätte den Tod bezwungen, er wäre initiiert. Für diesen gewänne die Reinkarnation keinen persönlichen, sondern einen überpersönlichen Sinn: dann nämlich, wenn er sich um der anderen willen reinkarnieren würde.

Grenzen und Erweiterung des Erinnerungshorizontes

Gerade das Problem der Reinkarnations-Erinnerung wirft tiefgehende Verständnisfragen auf. Eine Hauptfrage ist die nach der Validität der sog. Reinkarnationserinnerungen. Die gewöhnliche Erinnerung bezieht sich auf Erlebnisse und Erfahrungen, die den Horizont des durch Geburt und Tod begrenzten Lebens auf der Erde nicht überschreiten. Sie verläuft sich sogar nach zwei Richtungen im Unbestimmten: gegen die Vergangenheit und gegen die Zukunft. Diese beiden Grenzen unserer Erinnerung umschreiben unseren gewöhnlichen Erinnerungshorizont. Je mehr sich der Wille, sich zu erinnern, dem Zeitpunkt der Geburt annähert, um so schwächer wird sein Zugriff auf innere Bilder, um so mehr verschwimmt er im Gegenstandslosen. Dies hängt damit zusammen, daß in der frühen Kindheit die Kräfte, die Erinnerung ermöglichen, mit der Gestaltung der leiblichen Organe beschäftigt sind, die der Erinnerung an die physischen Erfahrungen organisch zugrundeliegen. Das heißt, bis zu einem gewissen Zeitpunkt in der frühen Kindheit ist die organische Grundlage für Erinnerungen an die physischen Erlebnisse gar nicht vorhanden. Was später zur Erinnerungskraft wird, ist früher dem Willen verwandte Bildekraft.

Daraus ergibt sich die Frage, was die katathymen Bilderlebnisse von Geburtsvorgängen oder intrauterinen Erlebnissen für einen Realitätsstatus besitzen, wenn ihnen jegliche organische Grundlage fehlt.

Ebenso wie gegen die Vergangenheit verläuft sich auch gegen die Zukunft der Versuch des Erinnerns ins Ungegenständliche, Ungreifbare. Dies hat nicht allein den trivialen Grund, daß die Zukunft noch gar nicht geschehen ist und sie deswegen nicht erinnert werden kann, sondern hängt auch damit zusammen, daß der Wille, sich zu erinnern, sich selbst gegenständlich werden müßte, um sich erinnern zu können. Könnte der in die Zukunft vorauseilende Wille zur Erinnerung sich selbst in seinem Vorauseilen erfassen, dann könnte er tatsächlich die in ihm liegende Zukunft gegenständlich werden lassen. Dieser Vorgang käme einer geistigen Schicksalserkenntnis gleich. Durch diese würde der Wille wieder zur Erinnerungskraft. Eine geistige Schicksalserkenntnis ist aber im gewöhnlichen Bewußtsein nicht möglich, weil diese nur eintreten kann, wenn der Wille sich völlig von der organischen Grundlage seiner Betätigung befreit, d.h., wenn der betreffende Mensch den Vorgang des Sterbens und Todes durchlebt. Erkenntnis des im Willen verborgenen zukünftigen Schicksals setzt das Durchleben des Todes voraus; eine organische Grundlage für diese Erkenntnis gibt es nicht, weil die physische Organisation den Tod nicht überdauert. Unseren gewöhnlichen Erinnerungshorizont können wir graduell verschieben und erweitern, wir können aber nicht prinzipiell die Grenzen sprengen, die ihm durch die organische Grundlage gesetzt sind, die überhaupt Erinnerung ermöglicht.

Wenn man danach frägt, was die gewöhnlichen Erinnerungsbilder von anderen inneren Bildern – etwa der Phantasie – unterscheidet, dann ist es die Eigentümlichkeit, daß sie in sich selbst über sich hinausweisen. Sie repräsentieren Inhalte, auf die sie verweisen, und vermitteln das Bewußtsein, daß diese Inhalte vergangene Erfahrungen darstellen. Beweist aber der Inhalt der Erinnerung zwingend die Tatsächlichkeit des von ihm Gemeinten? Dagegen spricht die Möglichkeit der Erinnerungstäuschung. Die Erinnerungstäuschung ist ja nicht die Erinnerung an eine Täuschung, sondern sie stellt eine inhaltliche Täuschung der Erinnerung, ein Vermeinen des Vorstellens dar, etwas sei Erinnerung, was in Wahrheit Produkt der Phantasietätigkeit ist. Zwar taucht mit dem Erinnerungsbild auch das Bewußtsein auf, daß das Bild auf eine vergangene Erfahrung verweist, an der man selbst als Erlebender teilhatte, aber der Bezug dieses Bildes auf die Inhalte der Erfahrungswelt selbst und die zeitliche Zuordnung zum Ablauf der eigenen Lebenszeit ist im Erinnerungsbild nicht eindeutig gegeben. Letzteres liegt darin begründet, daß wir, wenn wir mit unserem Alltagsbewußtsein durch das Leben gehen, in der Regel nicht die Erfahrungen mit dem Bewußtsein ihrer zeitlichen Verortung in unserem Gesamtlebensablauf verbinden, weil die Erfahrung selbst im Medium der Zeit dahinströmt und wir uns diesem Strömenden gegenüberstellen müßten, um es ins Bewußtsein zu heben, was uns aber zugleich aus dem Erlebnisstrom reißen würde. Die Behauptung, die Erinnerungen trügen ihre Zeitdaten in sich, trifft nur insofern zu, als sie sich selbst als vergangenes Leben ausweisen, mehr aber auch nicht. Die Einordnung des einzelnen Erinnerungsbildes in den Zeitstrom des Lebens ist dadurch erschwert, daß wir uns selbst als Erlebende nicht von außen sehen, sondern mit der Erfahrung eins sind. Die Beziehung der Erinnerung zur erfahrenen Realität aber, die sie repräsentiert, ist immer eine problematische, weil wir, um den Grad der Authentizität unserer Erinnerung überprüfen zu können, die Erfahrung erneut durchlaufen müßten. Wir können sie jedoch lediglich erinnern.

Was zeichnet die Erinnerungen als Inhalte unserer persönlichen Lebenserfahrung aus und was für Kennzeichen tragen sie an sich, die sie mit der Kontinuität unseres eigenen Lebensstroms verbinden? Was an der Beschaffenheit der Erinnerungen ist es, das uns das Bewußtsein vermittelt, diese Bilder bezögen sich auf unsere eigenen, von uns durchlebten Daseinszustände? Ihr Inhalt kann es nicht sein, denn dann müßten alle Erinnerungen uns selbst zum Inhalt haben. Wenn wir uns aber an anderes erinnern, an andere Menschen, ihre Gesichter, Bewegungen, Äußerungen, an Schauplätze, Gegenden, Naturgestalten, dann tragen die betreffenden Erinnerungsbilder kein Kennzeichen an sich, das sie als Inhalte unserer vergangenen Lebenserfahrung ausweist. Es könnten auch die Erinnerungen eines anderen Menschen sein. Nun, die betreffenden Erinnerungen tragen zwar keine Kennzeichen an sich, aber sie haben etwas gemeinsam: sie tauchen alle am selben Schauplatz auf. Sie sind Entdeckungen, die unser suchender Erinnerungswille zutage gefördert hat und sie erscheinen auf dem Schauplatz unseres gegenwärtigen Bewußtseins. Nicht ihre Beschaffenheit oder ihr Inhalt, sondern daß wir sie zum Inhalt unseres gegenwärtigen, erinnernden Bewußtseins machen können, läßt sie als unsere Erinnerungen, als Erinnerungen an uns selbst und die uns zugehörige Erfahrung des Lebens erscheinen. Auf dem 4. Internationalen Kongress für Philosophie in Bologna 1911 charakterisiert Steiner den durch vertiefte Beobachtung aufgehellten, gewöhnlichen Erinnerungsvorgang folgendermaßen: »Somit fühlt der Geistesforscher beim Erinnerungsvorgang zunächst ein Geschehen, das (subjektiv wahrnehmbar) innerhalb des Ätherleibes verläuft und das zu seiner Erinnerung wird durch die Spiegelung am physischen Leib. Das erste Faktum des Erinnerns würde nun nur zusammenhanglose Erlebnisse des Selbstes geben (Hervorh. L.R:); daß jede Erinnerung sich spiegelt durch das Versenktwerden in das Leben des physischen Leibes: dadurch wird sie zu einem Teile der Ich-Erlebnisse.« (GA, 35, S. 131)

Die eben beschriebene Sachlage trifft auch auf Bilder zu, die sich auf Erfahrungen beziehen, die wir selbst in diesem Leben gar nicht gemacht haben können, weil sie einem anderen Leben angehören, das vor dem Beginn unseres jetzigen bereits abgeschlossen war. Nicht ihr Inhalt weist sie als zu uns selbst gehörig aus, sondern allein die Tatsache, daß sie zu Inhalten unseres gegenwärtigen Bewußtseins werden. Allerdings unterscheiden sich solche Bilder in einigen Punkten auch von unseren gewönlichen Lebenserinnerungen.

1. Sie erscheinen nicht als Ergebnisse unseres suchendes Erinnerungswillens, sondern treten häufig auch entgegen dem bewußten Willen auf, sie zu haben.

2. Sie tauchen aus dem Jenseits unseres gegenwärtigen Erinnerungshorizontes auf, können also gar keine Erinnerungen im gewöhnlichen Sinne sein.

3. Ihr Inhalt hat mit dem Inhalt unserer gegenwärtigen Persönlichkeit entweder nichts zu tun oder zeigt diese in ungewohnter, exotischer Verkleidung.

Ist das erstere der Fall, dann kann das Bewußtsein der Zugehörigkeit dieser Bilder zu unserem identischen Ich nicht aus ihrem Inhalt geschöpft sein. Dieses Bewußtsein stammt einzig und allein aus der Tatsache, daß die betreffenden Bilder in unserem gegenwärtigen vorstellenden Bewußtsein auf die Identität dieses Bewußtseins bezogen werden können, daß sie also unsere Vorstellungen sind. Nur dann könnten wir behaupten, die betreffenden Bilder seien einer anderen Existenzform unseres identischen Ich zugehörig, wenn es uns gelänge, zu beobachten, wie diese Bilder als Abwandlungen dieses Ich aus ihm hervorgehen.

Ja, wir müßten die Metamorphose unserer gegenwärtigen Daseinsform in die frühere und umgekehrt nicht nur lückenlos beobachten, sondern die Reihe der Umwandlungen auch stets von neuem hervorbringen können. Zeigen uns aber die Bilder uns selbst lediglich in exotischer Verkleidung, dann können wir nicht behaupten, wir hätten es mit einer anderen Daseinsform unseres identischen Ich zu tun, weil die Bildinhalte offensichtlich nur den Inhalt unserer jetzigen Persönlichkeit in einer anderen Form spiegeln. Steiner hebt die Diskontinuität zwischen den Bild-Inhalten der einzelnen Inkarnationen auf dem 4. Internationalen Kongress für Philosophie betont hervor: »Denn die Erfahrung über den inneren Kern des Menschenlebens zeigt gewissermaßen die Einschachtelung sich aufeinander beziehender Menschenpersönlichkeiten. Und diese können nur im Verhältnis des Vorher und Nachher empfunden werden. Denn es erweist sich immer eine folgende als das Ergebnis einer anderen. Es ist in dem Verhältnis der einen zur anderen Persönlichkeit auch nichts von Kontinuität (Hervorh. L.R.); es ist vielmehr ein solches Verhältnis, das sich in aufeinanderfolgenden Erdenleben ausdrückt, die durch Zwischenzeiten eines rein geistigen Daseins getrennt sind. (S. 133/34)« Der Bezug zwischen den verschiedenen Inhalten könnte nur hergestellt werden, wenn zugleich der Begriff erfaßt würde, deren Metamorphose diese Bilder sind.

Geisteswissenschaftliche Einzelforschungen und ihre Verallgemeinerbarkeit

Befaßt man sich mit den hauptsächlich im Vortragswerk verstreuten Dokumenten der Reinkarnationsforschung Rudolf Steiners, erfährt die Idee der Reinkarnation eine bedeutende Individualisierung durch Vorstellungsmaterial, das man den Darstellungen Steiners verdankt. Bevor jedoch diese Individualisierungen wiederum verallgemeinert werden können, bevor also aus diesen Einzelfällen allgemeine Regeln abgeleitet werden und die so gewonnenen Induktionen in alle möglichen anderen empirischen Bedingungen eingetragen werden, müßte eine ausreichende Reflexion des Status dieser Schilderungen erfolgen. In welcher Beziehung stehen sie zu den grundlegenden Beschreibungen in den von Steiner selbst veröffentlichten Schriften? Handelt es sich lediglich um fortschreitende Präzisierungen einer Idee, die Steiner aus Zeitmangel mündlich vorgetragen hat? Handelt es sich möglicherweise um bedeutsame Modifikationen der grundlegenden Darstellungen? Solange die Frage nach dem unterschiedlichen Grad der Verbindlichkeit der verschiedenen Darstellungsformen nicht geklärt ist, haftet der unreflektierten Vermischung der dargestellten Inhalte etwas Unhygienisches an.

Ein anderer Aspekt dieses Problems besteht darin, daß verschiedene Begriffe, die Steiner verwendet, um das Wesen von Reinkarnation und Karma zu beschreiben, einer gründlichen philosophischen Befragung und Erhellung bedürften. Dazu gehören die Begriffe von »Ursache und Wirkung«, der Begriff der »Gesetzmäßigkeit«, der Begriff der »geistigen Individualität« und andere. Vielfach wird Steiners Sprachgebrauch naiv übernommen, ohne daß die Zitierenden sich der damit verbundenen Problematik bewußt wären. Wenn Kausalität nach den Auffassungen, die Steiner in den Grundlinien ... entwickelt, eine nur für die anorganische Welt gültige Zusammenhangsform ist, wie kann der Gebrauch dieser Begriffe im Bereich des geistigen Daseins verstanden werden? Unterliegt etwa der Mensch in seinem Schicksal einer anorganischen Form von Zusammenhang oder erhalten die Begriffe von Ursache und Wirkung eine völlig andere Bedeutung, so daß Ursache – z.B. – zu Motiv wird, Wirkung zu Triebfeder? Könnte es sein, daß die Ursächlichkeit der physikalischen Welt sich im Geistigen zur Motivabhängigkeit von Handlungen metamorphosiert, die Wirkung zur Triebfederbestimmtheit? Allerdings müßte wiederum der Begriff des Motivs auf vorgeburtliche Motive ausgedehnt werden. Es wäre auch denkbar, daß sich vorgeburtliche Motive in Triebfedern metamorphosieren. Ebenso wenig kann der Begriff der »Gesetzlichkeit« analog zum Naturgesetz verstanden werden. Denn die Individualität kann nicht allgemeinen Gesetzen unterworfen sein. In diese Richtung gehen auch die weiter unten zitierten Sätze Steiners, daß Karma individuell und so vielfältig sei, als es Menschen auf Erden gebe. Wenn dies so ist, können dann überhaupt allgemeine Gesetze formuliert werden, wie Karma wirkt? Diese Fragen können hier nur angedeutet werden. Wahrscheinlich kommt das Jahrbuch, das im Jahr 2000 erscheint, darauf zurück.

Vor allem in seinen späten Vorträgen zum Karma der Anthroposophischen Gesellschaft (Bewegung) und zum Karma einzelner geschichtlicher Persönlichkeiten finden sich vielfältige Variationen der Grundideen, die Steiner in der Theosophie und in der Geheimwissenschaft im Umriß dargestellt hat, Variationen, an die sich in der Vergangenheit eine weitläufige Mythologie angeschlossen hat. Sie finden sich aber auch an anderen Stellen, z.B. in seinen Ausführungen über das Prinzip der spirituellen Ökonomie (GA 109).

Hier seien nur zwei Fragen gestreift. Unter dem Titel »spirituelle Ökonomie« behandelt Steiner einen »Aspekt der geistigen Führung der Menschheit«, der nicht nur die Reinkarnation von geistigen Individualitäten im Sinn der oben gekennzeichneten Reinkarnationsidee, sondern auch die Reinkarnation von »Ätherleibern« und »Astralleibern« beinhaltet. Ja, geistige Wesensglieder können sogar vervielfältigt und menschlichen Trägern eingeprägt werden. Das betrifft sowohl Ich, Astralleib als auch Ätherleib. Die Geschichte des Christentums wird von diesem Gesichtspunkt aus sehr erhellend beleuchtet. Vor dem Hintergrund dieser Schilderungen (die hier nur angedeutet werden können) wäre – unter Einbezug dessen, was Steiner über die geistigen Tiefenschichten unseres Jahrhunderts ausführte – denkbar, daß die Wiederkehr des Leides in der Erinnerung der Nachgeborenen die Vorbereitung einer Art von karmischen Ausgleichs darstellt, den der ätherische Christus der gesamten Menschheit ermöglicht, indem er die Erinnerung an dieses Leid in den Nachgeborenen aufleben läßt, um der Menschheit als Ganzer die Versöhnung mit den Tätern zu ermöglichen. Diese Interpretation ließe sich durchaus in den Tenor der Geschichten eintragen, die Yonassan Gershom erzählt, die ja keine Geschichten verspäteter Rache sind, sondern Geschichten ermöglichter Versöhnung angesichts unermesslichen Leides. Welche Kraft, könnte man sich fragen, ist erforderlich, um unermessliche Schuld auszugleichen, und aus welcher Kraft kann Versöhnung allein entspringen?

Die zweite Frage betrifft die Häufigkeit von Reinkarnationen. Gegenüber der oben erwähnten Plausibilität der Langmut und Geduld, was die Zeiten der Wiederkehr anbelangt, könnte als Rechtfertigung der zunehmenden Reinkarnationshäufigkeit oder der abgekürzten Zeitdauer des Aufenthalts in nicht-irdischen Daseinssphären vorgebracht werden, »weil die Zeit sich beschleunige, müßten sich auch die Abstände zwischen den einzelnen Inkarnationen verkürzen«. Das Phänomen der beschleunigten Zeit wird auch gegenwärtig in der Kulturphilosophie diskutiert. Die Beschleunigung zeigt sich an der exponentiellen Zunahme technologischer Innovationen, an der verkürzten Umlaufzeit von Gebrauchsgegenständen, an der Schrumpfung der Zeiten, die erforderlich sind, um geographische Distanzen zu überwinden, an der Beschleunigung der Kommunikation und vielem mehr. Die angedeuteten Beobachtungen rechtfertigen die Behauptung, daß die Menschheit in den vergangenen Jahrzehnten Entwicklungen durchlaufen hat, für die sie früher Jahrhunderte, ja Jahrtausende benötigte. Dies wiederum hätte zur Folge, daß die zeitlichen Abstände, in denen sinnvollerweise eine Reinkarnation durchlebt werden kann, immer kleiner werden. Doch ist diese Frage nicht so leicht zu beantworten und hängt von der Einschätzung der Gültigkeit der Ausgangsthese ab. –

Die vielen unterschiedlichen, über das Gesamtwerk verstreuten Äußerungen Rudolf Steiners zum Thema der Reinkarnation machen es dem Leser nicht leicht, sich zurecht zu finden. Zu fast jeder Äußerung läßt sich bald eine Gegeninstanz finden. Möglicherweise sind die von Interpreten der Gesamtausgabe ausgefochtenen Zitatenschlachten nur das Ergebnis eines oberflächlichen Verstehens, möglicherweise aber auch nicht. Die Vielfalt der mit der Reinkarnationsidee verbundenen Vorstellungen macht auch die Anwendung der Idee auf konkrete Einzelfälle nicht leichter.

Stünden wir nur dem schriftlichen Werk Rudolf Steiners gegenüber, fiele es wohl nicht so schwer, zur Klarheit zu kommen, auch wenn diese nur in der Klarheit darüber bestünde, was wir alles nicht wissen. Die Lückenhaftigkeit unseres Wissens ließe die Illusion, wir hätten auf alles eine Antwort, nicht so leicht aufkommen. Doch die immense Fülle der hinterlassenen Vorträge läßt das Gesamtwerk zu einem Ozean anschwellen, in dem schon viele mittelmäßige Schwimmer vergeblich nach einer rettenden Insel gesucht haben. Angesichts dieser Schwierigkeiten, die sich vor dem am Gesamtwerk orientierten Bemühen um ein Verständnis der anthroposophischen Reinkarnationsidee oder gar Reinkarnationslehre auftürmen, ist es nur zu verständlich, wenn sich das Bedürfnis nach klaren, leicht zu verstehenden Antworten schlichten Erzählungen und meist ebenso schlichten Erzählern überantwortet.

2. Kritischer Teil, mit den Augen Lessings zu lesen

Die Auseinandersetzung der anthroposophischen Publizistik mit dem Problem der tatsächlichen oder angeblichen Reinkarnationserinnerung hat eine lange Geschichte. Auf die bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreichenden, spezifisch inner-anthroposophischen Bestandteile dieser Geschichte, die die daran Beteiligten in die Abgründe okkulter Machtkämpfe, höchst kriegerische Auseinandersetzungen um die wahre Paradosis und das Weiterwirken des okkulten Gnadenstroms, die Anthroposophische Gesellschaft selbst schließlich an den Rand der Selbstzerstörung geführt haben, soll hier nicht eingegangen werden. Seit geraumer Zeit ist eine Bemühung im Gang, die im Verlauf dieser Auseinandersetzungen geschlagenen Wunden zu heilen und Versöhnung zu erreichen. Inwieweit diese Bemühungen von Erfolg gekrönt sein werden, ist eine Frage, die allein die Geschichte beantworten kann. Das Ableben der unmittelbar Beteiligten bringt nicht unbedingt eine Lösung, denn durch ihr Wirken und das Wirken ihrer Historiographen sind Mythologeme entstanden, die neue geistige und soziale Konflikte nach sich ziehen und die Situation zusätzlich komplizieren.

Eine ähnliche Problematik taucht seit etwa einem Jahrzehnt im Umfeld der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung wieder auf. Nun erscheinen aber als Träger der Reinkarnationserinnerung nicht bekennende Protagonisten der Anthroposophie, sondern scheinbar Aussenstehende. Innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung entwickelt sich eine Diskussion um die rechtmäßige Beurteilung und Interpretation der mit jenen angeblichen Erinnerungen verbundenen Authentizitäts- und Wahrheitsansprüche. Aufgrund des Erbes, das die Interpreten der Gesamtausgabe verwalten, sehen sie sich selbst als die auserwählten Richter über Wahrheit und Wirklichkeit der Reinkarnation. Doch kommen die verschiedenen Richter bei der Applikation ihres Gesetzeskanons zu unterschiedlichen Urteilen über die zu behandelnden Fälle. In der Auseinandersetzung über die abweichenden Urteilssprüche kommt es zu einer Wiederkehr der nicht bewältigten Gesellschaftsgeschichte. Wieder bilden sich Parteien und Schulen, die sich durch ebenso vorbehaltlose Zustimmung wie auch Ablehnung bestimmter Wahrheitsansprüche und die fanatische Verfemung der jeweils anderen Partei auszeichnen. Es scheint, als hinge das Lebensglück und die Verankerung der an der Diskussion Beteiligten im Dasein an der Gültigkeit ihrer eigenen Urteile und der von ihnen erfaßten Wirklichkeit. Dabei fehlt in der mit Heftigkeit geführten Diskussion zumeist das Methodenbewußtsein, ein Mangel, der der gesamten Debatte etwas Gespenstisches verleiht. Das Erinnern der eigenen Geschichte müßte gerade Angehörige der anthroposophischen Bewegung für die desaströsen Auswirkungen von Reinkarnationserzählungen auf das Bewußtsein und die sozialen Beziehungen der Menschen, die deren Faszination erliegen, sensibilisieren. Man kann doch nicht immer in dieselben Fehler verfallen.

2.1. Ernst Suter-Schaltenbrand

Einer der ersten, die das Thema behandelten, war Ernst Suter-Schaltenbrand, der Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre eine Reihe von Aufsätzen in der Zeitschrift Das Goetheanum veröffentlichte.2 Die Aufsätze geben einen ersten Überblick über die Thematik, sie weisen auch – gestützt auf Thorwald Dethlefsen – das erste Mal auf Barbro Karlén hin. Sie machen einen weitgehend sachlichen Eindruck, entbehren aber nicht dogmatischer Würze, sobald es an die Beurteilung der zuvor von Suter-Schaltenbrand geschilderten Sachverhalte geht. Die Aufsätze sind, trotz der im folgenden geäußerten Vorbehalte, wertvolle Materialsammlungen und im Gegensatz zu manch anderem, was später veröffentlicht wurde, durchaus lesenswert.

In seinem Beitrag Der Reinkarnationsgedanke im geistigen Suchen der Gegenwart3 zitiert Suter-Schaltenbrand eingangs die verbreitete These, die »Wahrheit von Reinkarnation und Karma in das abendländische Geistesleben einfließen zu lassen«, sei »eigentliche Mission der Anthroposophie und Rudolf Steiners« (S. 353). Obwohl das Interesse für Fragen der Reinkarnation seit dem Beginn dieses Jahrhunderts erheblich zugenommen habe, hätten sich doch »nur relativ wenig Suchende« »Steiners Reinkarnations- und Karmaerkenntnis in reiner Gestalt erarbeitet«. Vielmehr befriedigten die meisten ihre Bedürfnisse durch Rückgriff auf die Traditionen asiatischer Religionen, durch Beschäftigung mit der Sterbeforschung, durch Publikationen von Hypnotherapeuten wie Dethlefsen und Helen Stewart Wambach oder Geschichten über Kinder, die sich an vorangegangene Inkarnationen erinnerten. Eine solche »frappierende« Geschichte sei die von Barbro Karlén.

Im folgenden unternimmt Suter-Schaltenbrand den Versuch, »die [in der genannten Literatur] angeführten Beweise für das Bestehen wiederholter Erdenleben objektiv zu werten«. Methodisch sieht diese »objektive Wertung« so aus, daß Suter-Schaltenbrand die verschiedenen Phänomene zu den Darstellungen Rudolf Steiners in Beziehung bringt und sie daraufhin prüft, ob sie mit diesen übereinstimmen oder nicht. Das Problematische eines solchen Vorgehens, das nichts weiter als scholastisch ist, wird vom Autor gar nicht bemerkt, geschweige denn thematisiert. Im einzelnen geht Suter-Schaltenbrand auf Erinnerungen von Kindern und auf Hypnoseexperimente ein. Daß sich Kinder an frühere Inkarnationen erinnerten, sei »nicht unwahrscheinlich«. Nun die gewundene Formel zur Begründung: »Es kann dieses Erlebnis von dem mit der Anthroposophie Vertrauten in die Schilderung Rudolf Steiners eingeordnet werden, die besagt, daß der Mensch in Zukunft die Fähigkeit haben werde, sich an seine früheren Inkarnationen erinnern zu können.« In diesem Fall besteht die »objektive Prüfung eines Beweises« für die Reinkarnation offenbar darin, festzustellen, ob ein solcher Beweis aufgrund des Normenkatalogs der Gesamtausgabe faktisch möglich ist. Daß es bei dieser »Prüfung« darum geht, die Möglichkeit einer Wahrnehmung und einer Urteilsbildung aufgrund bestimmter dogmatisch als gültig vorausgesetzter Begriffe zu beurteilen, wird nicht bemerkt. Auch die folgenden Prüfungen Suter-Schaltenbrands laufen auf ein solches Verfahren hinaus.

Immerhin diskutiert Suter-Schaltenbrand unter den durch Hypnose gewonnenen Befunden auch andere Formen von Prüfungen, nämlich solche mit Hilfe historischer Methoden. Erinnerungen von Hypnotisierten an frühere Inkarnationen lassen sich auf ihren historischen Tatsachengehalt überprüfen. Zwar ist durch die Feststellung, daß eine historische Person unter den vom Hypnotisierten geschilderten Umständen tatsächlich gelebt hat, keineswegs bewiesen, daß es sich bei beiden um dieselbe geistige Individualität handelt. Ein solcher Schluß wäre gemäß unseren Überlegungen im systematischen Teil nichts als ein Kurzschluß.

Mit der Bemerkung: »Alle durch Hypnose gewonnenen Reinkarnationserlebnisse als seelische Projektionen erklären zu wollen, würde als Antwort auf die Frage nach ihrem Wirklichkeitsgehalt wohl kaum befriedigen«, geht Suter-Schaltenbrand dazu über, Erklärungen aus der »Geisteswissenschaft Rudolf Steiners« anzubieten. Eine Antwort auf die Frage, wieso die Erklärung aller unter Hypnose gewonnenen sogenannten Reinkarnationserlebnisse als seelische Projektion nicht befriedigen würde, bleibt Suter-Schaltenbrand an dieser Stelle ebenso schuldig, wie die Erörterung der Frage nach dem Status des durch die Hypnose herbeigeführten Bewußtseinszustandes.

»Aus der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners« (eine reichlich limitative Formulierung), so Suter-Schaltenbrand, sei uns »vertraut«, daß wir jede Nacht unsere Inkarnationen bis zur ersten zurückerlebten (leider versäumt er, die Fundstelle zu erwähnen). Möglicherweise versetze die Hypnose in jenen »Seelenbereich«, in dem sich der Mensch während des Schlafs aufhalte. Diese Hypothese ist mehr als fragwürdig, denn im Schlaf verfallen wir weder in Trance noch ins Koma, sondern in einen ganz anderen Bewußtseinszustand, der nicht das Zusammenwirken von Ich und Astralleib unterbindet, wie dies bei der Trance der Fall ist. Aus eben diesem Grund führt die hypnotische Trance den Hypnotisierten selbst auch nicht zu Erfahrungen, an die er sich nach dem Aufwachen erinnern könnte.

Neben dieser Interpretation der durch Hypnose induzierten Bilder bietet Suter-Schaltenbrand zwei Hypothesen, die das Zustandekommen der Täuschung, bei den durch Hypnose induzierten Bildern handle es sich um Erinnerungen an wirkliche frühere Inkarnationen des Hypnotisierten, erklären sollen. Hier kehrt der grundsätzliche Vorbehalt Suter-Schaltenbrands gegen die Hypnose zurück. Der hypnotische Trancezustand könnte nämlich – so Suter-Schaltenbrand – die Wiederkehr eines »atavistischen« Bewußtseinszustands sein, der in weit zurückliegenden Zeiten vorhanden war, als »ein dämmerhaftes Hellsehen« Erinnerungen an das Leben der Ahnen ermöglichte. Dieser von Steiner unter dem Titel »Generationengedächtnis« abgehandelte Zustand könnte durch die Hypnose künstlich wiedererzeugt werden und die scheinbaren Erinnerungen hervorrufen. Diese Erklärung träfe jedoch nur zu, wenn sich die Hypnotisierten als Wiederverkörperung ihrer eigenen Ahnen erlebten, was allerdings so gut wie nie der Fall ist.

Eine weitere Hypothese Suter-Schaltenbrands beruht auf Ausführungen Steiners über spiritistische Sitzungen. Diese ermöglichten angeblich Rapporte mit Verstorbenen, während die Spiritisten in Wahrheit Verbindungen mit in der niederen Astralwelt herumschwirrenden ätherischen oder astralischen Leichnamen eingingen. Das Trancemedium könnte die Inhalte dieser Leichname in sich aufnehmen und deren Erinnerungen als seine eigenen fehlinterpretieren. Suter-Schaltenbrand wirft seine Vorbehalte gegen die Hypnose aber allzuleicht wieder über Bord, wenn er sich von der exakten Wiederholung derselben Erzählungen, wie sie von Dethlefsen protokolliert wurden, beeindrucken läßt. Die Berufung auf die Autorität von Johannes Hemleben, der auch dazu neige, vereinzelte Hypnoseerlebnisse als Erfahrungen von Wirklichkeiten gelten zu lassen, kann nichts an der Fragwürdigkeit dieser Auffassung ändern.

Suter-Schaltenbrand geht im Folgenden auf Thorwald Dethlefsens Auseinandersetzung mit möglichen Einwänden gegen seine hypnotischen Verfahren und gegen die Interpretation der durch sie gewonnenen angeblichen Beweise für die Reinkarnation ein. Er würdigt auch die statistischen Erhebungen Helen Stewart Wambachs und lenkt schließlich den Blick auf den bemerkenswerten Mangel an Schilderungen über die Zeit zwischen zwei Inkarnationen, die die meisten derartigen Darstellungen kennzeichne. Diese Armut des Wissens kontrastiere frappierend mit den »gewaltigen« Schilderungen Rudolf Steiners über das nachtodliche und vorgeburtliche Leben des Menschen. Offenbar sei diese Zeit »der Hypnoseforschung verborgen«. Warum diese Zeit der Hypnoseforschung verborgen ist, die davor liegende Zeit der letzten Inkarnation, die ja noch viel weiter zurückliegt und durch die interinkarnationelle Phase mit der jetzigen verbunden ist, aber nicht, auf diese Frage kommt Suter-Schaltenbrand jedoch nicht zu sprechen.

Der zweite Teil seines Aufsatzes behandelt die Reinkarnationsvorstellungen außereuropäischer Kulturen und östlicher Religionen, insbesondere des Buddhismus. Hier entwickelt Suter-Schaltenbrand, gestützt auf Darstellungen in Rudolf Steiners Geheimwissenschaft im Umriß, eine Theorie darüber, warum die meisten traditionellen Reinkarnationsauffassungen falsch seien und die wahre Gestalt des Reinkarnationsgeheimnisses erst von Rudolf Steiner enthüllt werden konnte.

Nach den Darstellungen der Geheimwissenschaft im Umriß sei »das wahre Wissen um die Reinkarnation bereits in urferner Vergangenheit verhüllt« worden. (Goetheanum, 47, 1986, S. 362.) Durch das Generationen- oder Ahnengedächtnis habe sich die – bis heute nachwirkende – irrtümliche Vorstellung entwickelt, die Ahnen verkörperten sich in ihren Nachfahren wieder. Doch könnten sich, unter bestimmten Umständen, zeitlich nicht weit auseinanderliegende Inkarnationen im »gleichen Volk« oder in der »gleichen Rasse« ergeben. (Ebenda, S. 363) Steiner erwähne einen solchen Sonderfall, indem er von Seelen spreche, die im alten Europa gezwungen gewesen seien, sich in »zurückgebliebenen europäischen Rassen, die später ausgestorben sind, immer wieder zu inkarnieren, bis sie in der Entwicklung so weit waren, daß sie in eine höhere Rasse aufsteigen konnten.« (Ebenda, S. 363.) Auch Stevenson habe solche Fälle in den verschiedensten Gegenden der Erde untersucht. Dieses »Forschungsergebnis« spreche dafür, daß auch noch heute in verschiedenen Kulturkreisen unterschiedliche Bedingungen der Entwicklung und des Schicksals vorlägen, die »nicht voll in die im normalen Werdegang geltenden Reinkarnationsgesetze eingefügt werden können.« (Ebenda.)

Hier begegnet uns erstmals jene Trivialauffassung der Entwicklungsidee, die Suter-Schaltenbrand in seinem Aufsatz über die Zeitabstände zwischen wiederholten Erdenleben weiter ausbreiten wird. Es klingt aber auch der dogmatische Standpunkt an, den viele Interpreten des Werkes Rudolf Steiners einnehmen: daß durch diesen die normative Gestalt der Wirklichkeit beschrieben worden sei und was sich in den Gesetzen nicht finde, die Steiner für die Wirklichkeit erlassen habe, das könne nicht wirklich sein. Denn die »im normalen Werdegang geltenden Reinkarnationsgesetze« kennen wir nur aus dem Werk Rudolf Steiners. Was wir aufgrund unserer Kenntnis und unseres Verständnisses dieses Werkes aus ihm machen, das gilt uns als absolute Norm, als Gesetz, dem die Gesamtheit unserer Wahrnehmungen unterworfen werden muß, um die anthroposophische Dignitäts-Prüfung zu bestehen.

Der Aufsatz Zu den Zeitabständen zwischen wiederholten Erdenleben trägt eine Fülle von Material aus dem Werk Rudolf Steiners zusammen, um die Vermutung zu erhärten, daß sich die durchschnittlichen Zeitabstände von 1.000 bis 700 Jahren zwischen zwei Inkarnationen auch erheblich verkürzen könnten. Zwei Hauptgründe führt Suter-Schaltenbrand aus dem Werk Steiners an: eine zu starke Bindung an die materielle Welt kann – ebenso wie eine hohe spirituelle Entwicklung – zu einer solchen Verkürzung führen. Hier breitet Suter-Schaltenbrand, wie bereits erwähnt, seine Entwicklungsidee auch auf die gegenwärtige Menschheit aus, wenn er über die »Völker von Drittweltländern« spricht. Diese Völker, die – so Suter-Schaltenbrand – auf einer »früheren Entwicklungsstufe« stünden als jene, die die »Bewußtseinsseele« auszubilden hätten, seien »mit großer Wahrscheinlichkeit« noch jenen Bedingungen unterworfen, die für die »zurück­gebliebenen europäischen Rassen, die später ausgestorben sind« gegolten hätten. Will Suter-Schaltenbrand damit etwa sagen, die »Angehörigen der Völker von Drittweltländern«, gehörten »zurückgebliebenen Rassen« an, die später aussterben müssen, und daß sie sich immer wieder in diesen »zurückgebliebenen Rassen« inkarnieren müssen, bevor sie in ein »Bewußtseinsseelenvolk« aufsteigen dürfen?

In seiner Auseinandersetzung mit der Zunahme der Weltbevölkerung, die immer wieder als Einwand gegen die Reinkarnation angeführt wird, hebt Suter-Schaltenbrand einige Gesichtspunkte hervor, die er, wie alle anderen auch, aus der Gesamtausgabe schöpft. Einige davon werden uns im Essay von Irene Diet über Barbro Karlen und Yonassan Gershom5 wieder begegnen.

Der für ihn offensichtlich gewichtigste ist der des grassierenden Materialismus, der viele Menschenseelen dazu zwinge, sich aufgrund ihrer Fesselung an die physische Welt und ihrer Unfähigkeit, sich nach dem Tode in die Sternenwelt zu erheben, zu schnell wieder mit der physischen Erde zu verbinden. Dabei könnten auch zunehmend »Menschen auftreten, in denen kein durch die Inkarnationen gehendes Ich zu finden ist« (Goetheanum, 46, 1991, S. 437). Diese mit dem Materialismus verbundene Gefahr trägt wahrhaft apokalyptische Dimensionen in sich, denn nach von Suter-Schaltenbrand referierten Ausführungen Steiners ist es möglich, daß die primitive Astralität unentwickelter Materialisten nach deren Tod von ahrimanischen Wesenheiten übernommen und zu schein-selbständigen Ätherwesen umgeformt wird, die wiederum verwandte Seelen anlocken, sich in diesen zu verkörpern. Seelen, die sich in solchen »untermenschlichen Wesenheiten« (Suter-Schaltenbrand) verkörperten, bräuchten sich nicht in die geistige Welt zu erheben und erwürben eine Art von physischer Unsterblichkeit. (Ebenda, S. 438.)

Der Vollständigkeit halber sei auf den Aufsatz Erschließung vorgeburtlicher Erlebnisse durch Hypnose von Suter-Schaltenbrand hingewiesen.2

In diesem Aufsatz setzt sich Suter-Schaltenbrand vor allem mit den bereits erwähnten Forschungen Helene Wambachs auseinander. Suter-Schaltenbrand vertritt hier die Auffassung, daß »jede hypnotische Beeinflussung eine Vergewaltigung des Ichs des Betroffenen bedeutet und deshalb grundsätzlich abzulehnen« sei. (Goetheanum, 47, 1987, S. 373.). Mit seiner bereits bekannten Methode sammelt er eine Reihe von Stellungnahmen zur Hypnose aus dem Vortragswerk Steiners, ohne sich um eine Zusammenschau der verschiedenen Bemerkungen und eine Einschätzung ihrer systematischen Bedeutung, ihres Stellenwerts innerhalb des Gesamtwerks oder innerhalb des Problemfelds zu bemühen, mit dem er sich befaßt. So stört sich Suter-Schaltenbrand überhaupt nicht an einer von ihm zitierten Bemerkung Steiners – nachdem er doch zuvor seine grundsätzliche Verurteilung der Hypnose ausgesprochen hat –, die besagt, daß man sich zur »gedeihlichen Anwendung der Hypnose ... durch eine moralische und geistig-seelische Höherentwicklung erst würdig und fähig« machen müsse (Ebenda, S. 373/74). Auch kann ich Suter-Schaltenbrands Ansicht nicht teilen, daß die Hypnose auf einer »Steigerung des Erinnerungsvermögens« beruhe, wenn er diese Auffassung vorträgt, um die durch hypnotische Verfahren gewonnenen Einblicke in frühere Verkörperungen in die Nähe des gesteigerten Erinnerungsvermögens zu bringen, das nach Steiner dem Wiederbewußtwerden früherer Inkarnationen zugrundeliegt. Denn die Erhöhung des Erinnerungsvermögens, von der Steiner spricht (28.8.1915, GA 163, S. 56) ist eine Fähigkeitssteigerung, die dem individuellen Ich und seiner Bemühung zuzurechnen ist, sich diese Fähigkeit anzueignen, während das Auftreten von »Erinnerungen« in der Hypnose keine Steigerung einer individuellen Fähigkeit darstellt und dem Hypnotisierten ja auch nicht als verfügbares Vermögen zugerechnet werden kann oder verbleibt.

Einmal mehr zeigt sich an dieser Stelle, daß die willkürliche Interpretation irgendeiner Äußerung Steiners zu fatalen Fehleinschätzungen führen kann. Dasselbe gilt für Suter-Schaltenbrands Vergleich zwischen dem Weg des Initianden, der ihn durch das Tor der Geburt in die vorgeburtliche Welt und durch die Regionen des geistigen Daseins in die letzten Verkörperungen führt, mit dem Weg der Rückerinnerung, der in der Hypnose angeblich beschritten wird. Wenn Suter-Schaltenbrand sagt: »Auch können die gefundenen Übereinstimmungen mit Aussagen der Geisteswissenschaft manchem eine Bestätigung sein, daß sich im hypnotischen Bewußtseinszustand, abgesehen von möglichen Irrtümern und Täuschungen, wie sie der Imaginationswelt eigen sind, Rückblicke in wahre vorgeburtliche Erlebnisse eröffnen«, dann erliegt er einer methodisch unzulässigen Verallgemeinerung. Denn das Wahre, das sich aus hypnotischen Bewußtseinszuständen ergibt, ist immer nur das vereinzelte Wahre, das durch eine nicht-hypnotische Überprüfung als solches erkannt und bestätigt werden muß. Da aber die Hypnose keinerlei Kriterium der Unterscheidung von Wahr und Falsch in sich trägt, sind die durch sie zutage geförderten Inhalte prinzipiell zweifelhaft und unzuverlässig, was auch immer für angebliche Beweise für ihre Richtigkeit gefunden werden mögen.

2.2. Christoph Rau

Doch wenden wir uns dem nächsten Versuch zu, durch Applikation einer aus dem Gesamtwerk Steiners abstrahierten Theorie zu einer verbindlichen Beurteilung der Welt zu kommen und das Problem der Reinkarnationserinnerung zu lösen: dem Aufsatz von Christoph Rau über Barbro Karlén und Anne Frank.6

Christoph Raus Aufsatz dient im Grunde nur einem einzigen Zweck: seinen Glauben daran, daß die begabte Schwedin die Reinkarnation Anne Franks sei, zum Ausdruck zu bringen und diesen Glauben mit Rudolf-Steiner-Zitaten zu begründen.

Zu diesem Zweck zitiert Rau Darstellungen Rudolf Steiners, die die überragenden Leistungen eines »Genies« daraus erklären, daß dieses seine Inkarnation als Genie durch eine oder mehrere vorangehende Inkarnationen vorbereitet habe. Steiners Ausführungen dienen ohne Zweifel dazu, dem gewöhnlichen, nicht-hellseherischen Bewußtsein eine Brücke zur Einsicht zu bauen, daß geistige Leistungen nicht durch Vererbung erklärt werden können, sondern allein aus geistigen Antezedenzien. Diese Erläuterung, die z.B. auf Mozart anwendbar ist, wird nun auf Barbro Karlén appliziert. »Darf Ähnliches für Barbro Karlén in Anspruch genommen werden?«, frägt Rau rhetorisch. Wenn das tertium comparationis die Genialität wäre, ließen sich doch Zweifel anmelden. Doch Rau hat »keine Ursache, an den Aussagen der jungen Schwedin zu zweifeln.« (Goetheanum, 10, 1992, S. 93) Ja, noch mehr: Für ihn ergibt sich aus der Berücksichtigung der vorangegangenen Inkarnation Barbro Karléns, in der sie nach ihrer eigenen Aussage Anne Frank gewesen sei, die »deutliche Einsicht«, daß sich Barbro »einer tief wirkenden Übung« zur Vorbereitung auf die jetzige Inkarnation unterzogen habe. »Genaues Beobachten, logisches Durchdringen des Gesehenen und Gehörten und dem so Erkannten verständlichen Ausdruck in Wort oder Sprache geben – so lassen sich die verschiedenen Schichten jener kombinierten Übung beschreiben, welche sich Anne Frank unbewußt unterzog, so daß sie in dem späteren Leben sich des letztvergangenen zu erinnern vermag.« (Ebenda, S. 94/95)

Raus Gedankengang ist ein Beispiel für einen anthroposophischen Zirkelschluß. Denn daß sich Barbro Karlén als Anne Frank auf ihre jetzige Inkarnation vorbereitet habe und deswegen so genial sei und sich an ihre vergangene Inkarnation erinnern könne, das gilt alles nur unter der Voraussetzung, daß die Behauptung Barbro Karléns zutrifft, sie sei die wiedergeborene Anne Frank. Wie aber, wenn man diese praepositio nicht akzeptiert? Darüber hinaus: Was ist mit all den anderen Schriftstellern, die sich gewiss auch jener mehrstufigen Übung unterzogen haben, von der Rau spricht, meistens sogar wesentlich länger als Anne Frank, die aber heute oder auch früher nicht auftraten und erklärten, sie seien jetzt wiedergeboren? Selbst wenn man die Möglichkeit der Vorbereitung einer Reinkarnationserinnerung durch die von Rau beschriebene Übung auf frühverstorbene Dichter einschränkt, wird man in der Geschichte der letzten Jahrhunderte nicht fündig. Aus Raus Ausführungen läßt sich also gewiß kein zwingender Zusammenhang, damit aber auch kein Gesetz ableiten. Außerdem muß schriftstellerische Betätigung in einer Inkarnation nicht zwingende Folge einer solchen in der vorangegangenen sein. So bereitet das lebenlange Schweigen der Kartäuser nach einer Bemerkung Steiners gewaltige Redefähigkeit in einer folgenden Inkarnation vor. Analog wäre also gezieltes Vermeiden jeglichen Umgangs mit Schrift und Sprache eher geeignet, schriftstellerische Fähigkeiten in einer folgenden Inkarnation nach sich zu ziehen, wenn man überhaupt so konstruierend verfahren dürfte.

Ähnliches gilt für Raus Ausführungen über das Wirken Frühverstorbener, die weiter oben zitiert wurden. Es wurde bereits bemerkt, daß Steiners Darstellungen über vor dem 35. Lebensjahr Verstorbene nicht so interpretiert werden müssen, als wenn das sich anschließende Leben in der folgenden Inkarnation zwingenderweise eine unmittelbare Fortsetzung des vorangegangenen wäre. Auch die von Steiner im Hinblick auf vereinzelte Fälle ausgesprochene Möglichkeit einer solchen Fortsetzung, die andere Autoren heranziehen (Suter-Schaltenbrand und R. Wermbter; zu letzterer siehe weiter unten), darf nicht ohne weiteres zu einem allgemeinen Gesetz erhoben werden. 1992, als Rau seinen Aufsatz schrieb, konnte er noch wehmütig nach einem Verleger rufen, der sich der Aufgabe annehmen möge, eine deutsche Ausgabe von Karléns Werken herauszubringen. Inzwischen hat Karlén einen Verleger gefunden, eine ganze Reihe ihrer Bücher sind im Basler Perseus-Verlag erschienen.

2.3. Nothart M. Rohlfs

Gehen wir chronologisch vor, dann fällt die nächste zum behandelten Thema gehörige Publikation ins Jahr 1995. Nothart Rohlfs veröffentlichte damals im Goetheanum eine skeptische Rezension der amerikanischen Ausgabe des Buches Beyond the Ashes – Cases of Reincarnation from the Holocaust von Yonassan Gershom. Rohlfs referiert zunächst ausführlich das Initialerlebnis Gershoms, das ihn dazu bewog, seine Erfahrungen mit angeblichen Reinkarnationserinnerungen von Holocaust-Opfern niederzuschreiben. Neben dieser Begegnung mit einer jungen Frau im Jahr 1981 schildert Rohlfs eine zweite Episode mit einer Frau namens Regina. Daraufhin schüttet er den See seiner Skepsis im restlichen Teil seines Aufsatzes über Gershom aus.

Dabei beruht seine kritische Theorie, die er Gershom entgegenhält, auf nichts als vagen, überaus zweifelhaften Eindrücken. So bemerkt er einleitend: »Vergleicht man spontan die beiden angeführten Darstellungen miteinander, so kann auffallen ...« Ist dies nun Ausdruck der von Rohlfs befolgten geisteswissenschaftlichen Methodik: Schilderungen »spontan« zu vergleichen, um dann zu irgendwelchen, ebenso spontanen Eindrücken zu kommen? Eindrücke der Authentizität und Eindrücke der Stereotypie stehen sich so für Rohlfs Gefühl gegenüber. Stereotypie ist aber immer schon assoziativ mit Ahriman verknotet und so wundern wir uns nicht, wenn Rohlfs gleich auf Ahriman zu sprechen kommt. Es ist sicherlich nichts dagegen einzuwenden, wenn an die Gefahren erinnert wird, die mit der Herabdämpfung des Bewußtseins durch Hypnose verbunden sind, doch ist auch nicht ausgeschlossen, daß Hypnose zu richtigen Resultaten führt, was man an Steiners Wertschätzung für das Werk von Scott-Elliot über Atlantis sehen kann.9

Nachdem Rohlfs eine dritte Episode aus Gershoms Buch referiert hat, geht  er zu einer Kritik der Methodik Gershoms über und konstruiert in einer geradezu peinlichen Weise einen Unterschied, der keiner ist.

Gershom, so Rohlfs, erhebe mit seiner Publikation nicht den Anspruch der Wissenschaftlichkeit. Dennoch zähle er eine Reihe von Kriterien auf. »Je mehr dieser Kriterien im jeweiligen Fall gegeben sind«, fährt Rohlfs fort (er meint natürlich erfüllt sind), »desto größer die Wahrscheinlichkeit, so der Autor [gemeint ist Gershom, L.R.], daß es sich um einen authentischen Fall von Reinkarnation handle.« (Goetheanum, 14/15, 1995, S: 185).

Bei den »Kriterien«, die Gershom aufstellt, handelt es sich – neben dem Auftreten von spontanen Erinnerungen – hauptsächlich um psychische und physische Krankheitssymptome wie Alpträume während der Kindheit, Phobien, Zwangshandlungen, Atembeschwerden oder Eßstörungen usw. Es sind Begleitsymptome, die bei einer großen Zahl der Gershom bekannten Fälle vor bzw. neben der eigentlichen »Reinkarnationserinnerung« auftraten. Zu diesem Katalog von Begleitsymptomen merkt nun Rohlfs an, Gershom tue scheinbar etwas ähnliches wie Steiner, aber eben nur scheinbar. Steiner weise auf »Gesetzmäßigkeiten« hin, denen das »Schicksalsgeschehen« unterliege. Von einer Inkarnation zur andern wandle sich Liebe in Freude, diese wiederum in Verständnis für die Umgebung, Interesselosigkeit dagegen in »kränkelnde Organe« usw. »Wenn also in einem Leben die seelische Tatsache a vorliegt, so wandelt sie sich im Nachtodlichen und tritt als seelische oder physische Tatsache b im folgenden Leben wieder in Erscheinung.« Das Vorgehen Gershoms sei nun insofern ähnlich, als er eine »ganze Reihe von Merkmalen herausfindet und im Umkehrschluß sagt: Wenn diese (b) vorliegen, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß jenes (a) vorangegangen ist.« (Ebenda, S: 186) Aber Gershom betrachte im Gegensatz zu Steiner »nicht einzelne seelische oder körperliche Merkmale und Eigenschaften, deren Metamorphosereihen er beschreibt, sondern er stellt quasi einen Katalog von Eigenschaften zusammen und sagt: Wenn diese vorliegen, dann ist deren Träger mit so und so hoher Wahrscheinlichkeit ein wiedergeborenes Opfer des Holocaust ... Diese Art des Vorgehens verliert im Gegensatz zu den beispielhaften Darstellungen Steiners vollständig ihren individuell untersuchenden Charakter.« Rohlfs läßt seine Gegenüberstellung in das Fazit münden: »[Gershom] ist aber ganz deutlich die Gefahr nicht bewußt, in die er sich mit einer verallgemeinernden Urteilsbildung über individuelles Karma und Reinkarnation begibt, wenn er sich statistischer Mittel und Schlüsse bedient.« (Ebenda, S. 186).

Nun ist die Behauptung, Gershom gehe wie von Rohlfs beschrieben vor, kompletter Unsinn. Gershom geht keineswegs so vor, daß er beispielsweise Menschen mit Bulimie oder Asthma sucht und sie daraufhin prüft, ob sie möglicherweise auch unter Phobien leiden, um sie am Ende dahin zu bringen, sich unter Hypnose an den Holocaust zu erinnern. Vielmehr verlangen die in den »Kriterien« beschriebenen Gegebenheiten physischer oder psychischer Art nach einer Therapie, die psychoanalytisch durch das Erinnern des Verdrängten (Vergessenen) herbeigeführt wird. Die Heilkraft der Erinnerung wird als Beweis für den ursächlichen Zusammenhang zwischen Leidenssymptom und Vergessen gewertet.

Andererseits könnte man ebensogut behaupten, Gershom betrachte die Metamorphose seelischer Eigenschaften oder körperlicher Zustände der einen Inkarnation in solche der folgenden: denn das seelische und körperliche Leiden der Holocaust-Opfer tritt in der folgenden Inkarnation als Erinnerung an diese Leiden, als physische oder seelische Erkrankung wieder auf. Besäßen die Menschen, die Gershom aufsuchen, nicht die Fähigkeit der »Erinnerung«, käme er gar nicht auf die Idee, in ihnen reinkarnierte Holocaust-Opfer zu sehen.

Was an Steiners »Gesetzmäßigkeiten« im Gegensatz zu Gershoms »Kriterien« »individuell untersuchend« sein soll, ist mir ein Rätsel. Ist es doch das Wesen einer Gesetzmäßigkeit, daß sie nicht nur für einen Einzelfall Gültigkeit besitzt, sondern für eine große Zahl von Fällen. So vermuten ja auch Interpreten der Gesamtausgabe, wie z.B. Rohlfs, immer, wenn sie irgendwo etwas scheinbar Stereotypes auftauchen sehen, im Hintergrund das Wirken Ahrimans. Würden sie ihr Interpretationsverhalten auf sich selbst anwenden, müßten sie ihre stereotype Denkweise als einen Ausfluß ahrimanischer Wirksamkeit interpretieren. Was anderem als dem Vorgehen, das Rohlfs Gershom vorwirft, sind wir denn bei Rau begegnet, wenn er vom Vorhandensein von Jugendgenialität auf die Vorbereitung der jetzigen Inkarnation in der vorigen schloß? Und wer hätte sich bei der Lektüre von Steiners Vorträgen, in denen dieser die von Rohlfs als Gesetzmäßigkeiten apostrophierten Metamorphosen beschreibt, noch nie gefragt, ob seine eigenen »kränkelnden Organe« möglicherweise auf Interesselosigkeit in einer vorhergehenden Inkarnation zurückzuführen seien? Wozu hat denn Steiner diese »Gesetzmäßigkeiten« beschrieben, wenn er nicht erwartete, seine Zuhörer würden diese auf ihr eigenes Leben anwenden? Zwar bemerkt Rohlfs zwischendurch, er wolle Gershom nicht unterstellen, dieser sei bei der Beurteilung der 250 von ihm bearbeiteten Fälle so vorgegangen. Diese reservatio mutet allerdings etwas merkwürdig an, nachdem Rohlfs solche Anstrengungen unternommen hat, die Methodik Gershoms so zu charakterisieren, daß dem Leser gar nichts anderes übrigbleibt, als anzunehmen, er unterstelle Gershom eben dies. Wenn Gershom aber diese Methode praktiziert, dann unterliegt er natürlich – im Gegensatz zu Rohlfs – dem Wirken Ahrimans.

Doch Rohlfs bemüht sich – nachdem er den Glauben, es handle sich bei den geschilderten Fällen um tatsächliche Reinkarnationen von Holocaust-Opfern, als »riesigen Irrtum« (S. 186) entlarvt hat – auch um eine Interpretation der von Gershom geschilderten Phänomene. Wir begegnen in diesem Teil seines Aufsatzes Spekulationen, die hinsichtlich ihrer Wildheit nichts zu wünschen übrig lassen, etwa wenn Rohlfs über die Zeit zwischen Tod und neuer Geburt nachdenkt: »Der Mittelteil des angedeuteten nachtodlichen Geschehens findet außerhalb zeitlicher Maßstäbe statt, insofern die Tätigkeit der Hierarchien nicht zeitlicher Art sind [es müßte heißen: ist]. Doch bedarf es wohl einer gewißen ›Mindestzeit‹ zum regulären Abbau alter und Aufbau neuer Leiblichkeit, sofern das Menschenwesen selbst nach dem Tode und vor der neuen Geburt daran beteiligt ist.« Wie soll der um logische Konsistenz seines Denkens bemühte Leser nun dieses Paradoxon verkraften? Soll das Leben, das »außerhalb zeitlicher Maßstäbe« verläuft, nun doch innerhalb solcher Maßstäbe verlaufen? Oder soll zwar das Wirken der Hierarchien außerhalb der Zeit, das Wirken des Menschengeistes aber innerhalb der Zeit verlaufen? Wie hat man sich dann das Zusammenwirken dieser beiden zu denken, wenn die einen außerhalb zeitlicher Maßstäbe wirken, die anderen innerhalb?

Die Erklärungshypothese, die Rohlfs am Ende für das Auftreten spontaner Holocaust-Erinnerungen vorbringt, entbehrt nicht ihres Reizes, wenn wir uns der Tatsache bewußt bleiben, daß es sich um eine reine Hypothese handelt. Es könnte nämlich sein so Rohlfs, daß die Seelen der Menschen, die dem Naziterror zum Opfer fielen, auf ihrem Weg in die Planetensphären anderen begegneten, die sich auf dem Wege zu ihrer neuen Inkarnation befanden. Diese könnten von den ätherischen Abbildern des Leides, das den Verstorbenen auf Erden widerfahren war, so beeindruckt worden sein, daß sie sich »unter besonderen Umständen an das ihnen von unten gleichsam Entgegengebrachte nach der Geburt zu erinnern vermögen.« (Ebenda, S. 187) Dabei erliegen sie dann aber einer – wahrscheinlich durch Ahriman bewirkten – Verwechslung, so müssten wir – im Stile Rohlfs – ergänzen, wenn sie die Erinnerung an die Erinnerung Anderer für ihre eigene halten.

2.4. Amnon Reuveni

1997 fand die deutsche Ausgabe des Buches Und die Wölfe heulten ... von Barbro Karlén einen euphorischen Empfang durch die Zeitschrift Info3, die damals noch eine Zeitschrift für »Anthroposophie heute« war. Einen Lobgesang durfte Amnon Reuveni anstimmen.7 Er bettete das Erscheinen Barbro Karléns im anthroposophischen Publikationshimmel in seine Privatapokalypse ein, in der sie einen herausragenden Platz einnimmt.

Für Reuveni stehen am Ende des 20. Jahrhunderts die »Geister der Abgrundtiefen« auf. Für ihn ist jeder, der an der Tatsache der Reinkarnation zweifelt, dem Wirken des Bösen erlegen. Aber auch, wer Zweifel an der Wahrheit der Behauptungen Karléns anzumelden wagt, wird von Reuveni in eine höchst unappettitliche Ecke gestellt, in die Ecke derer nämlich, die er »Revisionisten« nennt und die schon lange die Echtheit der Tagebücher der Anne Frank bezweifelten. Diese Revisionisten werden, so Reuveni, »sich nicht scheuen, zu behaupten, die Geschichte von Barbro Karlén sei ... frei erfunden, um die »berüchtigten« Zwecke der Amerikaner, der Zionisten und des »Weltjudentums« zu fördern.« (Ebenda, S. 29) Aber auch »überzeugte Materialisten« oder »aus anderen Gründen skeptische Menschen«, die »Probleme mit der Autobiographie von Barbro Karlén« bekommen, werden in die Nähe der »radikalen Opposition« »gegen die europäische Kultur«, die »wieder ihr lügnerisches Haupt hebt« gerückt. Für sie gilt, daß sie der »Wut der Dämonen, die den Geist des allgemeinen Menschentums verfolgen« (Ebd.), nicht standzuhalten vermögen – im Gegensatz zu Reuveni natürlich. (Zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Revisionismus und Negationismus in anthroposophischen Kreisen möge man den Beitrag von Ralf Sonnenberg im vorliegenden Jahrbuch zu Rate ziehen.)

Reuveni schloß sich in seiner Rezension bewundernd der »Welle von Staunen« an, die die Bücher Karléns in Schweden hervorgerufen haben. Für ihn gibt es – wie für manche seiner Vorgänger – keinerlei Zweifel an Karléns Geschichte: denn die konkreten Erinnerungen Karléns »erhellten die Verfolgungen in diesem Leben dadurch, daß sie die Motivation der Gegner Saras in ihrem vorigen, gewaltsam beendeten Leben zeigen.« Was Reuveni besonders beeindruckt, ist der okkulte Kolportageroman. Denn nicht nur die früh verstorbene Anne Frank ist wiedergekehrt: »Auch andere Menschen, die sie damals verfolgt hatten, sind wieder da.« Barbro Karlén ist es, so Reuveni, gelungen, Personen zu identifizieren, »die in ihrer unmittelbaren Nähe wieder aufgetaucht waren. Diese Menschen waren schon in ihrer KZ-Zeit ihre Feinde und hatten in der Folge einer dramatischen Konfrontation einen gewaltsamen Tod erlitten.« Reuveni, als dem ersten Rezensenten, fiel – genau so wenig wie allen anderen, die auf ihn folgten – eine merkwürdige Unstimmigkeit in der Autobiographie Barbro Karléns auf. Während nämlich Anne Frank, nach der Erinnerung Karléns, ein Opfer des Verbrennungsofens wurde ( ... und die Wölfe heulten, S. 174), starb Anne Frank nach übereinstimmender Auffassung ihrer Biographen im KZ an Flecktyphus.

Daß die Abenteuerlichkeit dieser ganzen Geschichte allen Plausibilitäten ins Gesicht schlägt, scheint keinem der Paladine Barbro Karléns aufgefallen zu sein. Möglicherweise halten sie die Geschichte auch gerade deswegen für glaubhaft.

2.5. Nothart M. Rohlfs

Selbst Nothart M. Rohlfs, der doch Yonassan Gershom gegenüber höchst skeptisch war, verlor angesichts des Schreibmediums aus Schweden jegliche Vorbehalte. So schrieb er in seiner Rezension des Buches ... und die Wölfe heulten im Goetheanum (5, 1.2.1998): »Es handelt sich um die Biographie einer ungewöhnlichen Frauenpersönlichkeit im zeitgenössischen Schweden des Mittelmaßes und der gerechten Verteilung ... Die Autorin geht seit früher Kindheit mit seelischen Eindrücken um, die sich ihr zu der gewissen, erfahrungsgetragenen Überzeugung verdichten: Ich war Anne Frank. Entscheidendes, was aus den Zusammenhängen und Verhältnissen des jetzigen Lebens allein rätselhaft und unverständlich bleiben müßte, erfährt für sie die wesentliche Erklärung aus Geschehnissen der damaligen Inkarnation, deren innere Signatur gewißermassen wiederaufgegriffen und fortgeführt wird ... so entsteht in der Tat etwas wie ein größeres, die beiden Leben übergreifendes Bild, das die einzelnen Inkarnationen und deren jeweilige Gestaltung in Zusammenhängen miteinander verschmilzt, die sonst nicht geahnt, geschweige denn erkennend durchdrungen werden.« (S. 67) Rohlfs aufgeblasenes Geschwafel kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß er dem verlockenden Geschmeichel trivialer Sentimentalität erlegen ist, wie viele andere auch. Warum »Zusammenhänge« »erkennend durchdrungen werden« müssen, bleibt mir schleierhaft, sind es doch gerade die Zusammenhänge, die uns die Erkenntnis vermitteln. Immerhin lesen wir am Ende von Rohlfs Rezension, daß dieses »außerordentliche Buch« »reichlich zu denken gibt, nicht zuletzt in bezug auf die dargestellten Zusammenhänge der Persönlichkeiten und Schicksale Barbro Karléns und Anne Franks.« Glücklicherlicherweise vertraute Rohlfs die Gedanken, die ihm bei der Lektüre gekommen sind, nicht dem Goetheanum an.

2.6. Thomas Stöckli

Von einer ganz anderen Seite her kommen Thomas Stöcklis Überlegungen zu Yonassan Gershom, die er ebenfalls im Goetheanum (6, 1998) ausbreitete. Stöckli gewährt mit seiner Rezension – über die Rohlfsche Mitteilung von Rührung und Betroffenheit hinaus – immerhin Einblick in die Motivationslage, die den ganzen hier behandelten Komplex emotional so beängstigend auflädt. Wie schon Reuveni in der Publikation der Bücher von Karlén eine Art von apotropäischem Zauber gegen den inner-anthroposophischen Revisionismus sah, meint auch Stöckli, daß die geistige Atmosphäre der anthroposophischen Bewegung durch die Publikation des Gershom-Buches gereinigt werde. (Tatsächlich wird überhaupt nichts gereinigt. Denn die Publikation eines Buches hat noch nie dezidiert Andersdenkende von ihrer Überzeugung abgebracht, besonders, wenn sich das betreffende Buch gar nicht mit diesen Andersdenkenden auseinandersetzte.)

Stöckli schreibt in seinem nicht weniger apokalypse-geschwängerten Aufsatz Es muß die Menschheit erst fertig werden mit dem Tier aus dem Abgrund: »Es ist sehr wichtig, daß ein solches Buch im Verlag am Goetheanum herauskommt, gerade weil es immer noch einzelne schlimme Auswüchse von pseudo-anthroposophischen Revisionisten gibt, welche dem Holocaust völlig gefühllos gegenüberstehen. Das sind zum Glück nur wenige Ausnahmen, wie sie überall auftreten können. Indem sie aber die Anthroposophie verzerren und mißbrauchen, schaden sie der anthroposophischen Bewegung mehr als außenstehende Gegner.« Auch wenn Stöckli die deutsche Sprache nicht beherrscht und sich in kruder Metaphorik versteigt, sagt er doch wenigstens mit halbwegs klaren Worten, was ihm am Herzen liegt. Zwar dreht es mir den Magen um, wenn ich mir die »schlimmen Auswüchse der Revisionisten« (Pickel, Warzen, Hörner oder was?) vorstelle, die »dem Holocaust völlig gefühllos gegenüberstehen« und bei denen es sich »zum Glück« nur »um wenige Ausnahmen« handelt, die »überall auftreten« können, doch kann ich viele Peinlichkeiten seines Aufsatzes mit Stöcklis Schweizer Herkunft entschuldigen. Wenn aber Stöckli am Ende seine private Interpretation des 20. Jahrhunderts mit den denkbar größten Worten von sich gibt, dann wird mir schon wieder mulmig.

Stöckli schreibt: »Es ist ja leider nicht so, daß nach einem 12jährigen Wüten dieses ›Tier aus dem Abgrund‹ 1945 sein Wirken einstellte oder nur in Mitteleuropa gegen die Juden wirkte. Es sei hier wenigstens an das unvorstellbare Martyrium von etwa 60 Millionen (!) Menschen hingewiesen, die unter dem Stalinismus verfolgt, weggeschafft oder ermordet wurden. Die traurige Liste läßt sich fortsetzen ...« Aber Stöckli will diesem unfasslichen Martyrium, den Hekatomben, die das Böse in diesem Jahrhundert aufgehäuft hat, auch etwas Gutes abgewinnen, denn nach einer Äußerung Rudolf Steiners müsse die Menschheit erst mit dem Tier aus dem Abgrund »fertig werden«, bevor der »ätherische Christus von ihr in der richtigen Weise« erfaßt werden könne. Deswegen klingt sein Beitrag mit dem Satz aus: »Denn aus dem großen Martyrium dieser Millionen kann – in Verbindung mit unseren gegenwärtigen Bemühungen – eine so starke Auferstehungskraft erwachsen, wogegen ein erneuter ›Großangriff dieser dämonischen Anti-Sonnenkräfte‹ nicht ankommen könnte.« (S. 79)

Soll hier das unbeschreibliche und unbegreifliche Elend, das menschliche Idiotie und Brutalität auf Erden anrichteten, zugunsten einer anthroposophischen Privatapokalypse instrumentalisiert werden? Sollen die Abermillionen Toten dem guten Zweck dienen, daß unser Gemüt beruhigt der Zukunft entgegensehen kann, weil wir »das Schlimmste« hinter uns haben? Stöckli scheint nicht begriffen zu haben, daß das Böse nicht vergeht, nie vergeht, daß gerade darin sein Wesen besteht: in der Unfähigkeit zur Wandlung. Und wie Stöckli mit seiner rätselhaften »Auferstehungskraft« das reale Böse dieser Welt bekämpfen und bezwingen will, ist mir schleierhaft. Käme es nicht vielmehr auf konkrete, reale Handlungen an, anstatt darauf, das Erscheinen einer übermenschlichen Auferstehungskraft zu erwarten, die alles wieder heil machen wird? Heißt »den ätherischen Christus in der richtigen Weise erfassen« nicht vielmehr, daß dieser uns durch seine Einwohnung befähigt, unser Denken von den Einschlüssen luziferischer Sentimentalität und ahrimanischer Phrasendrescherei zu reinigen, heißt es nicht, realisieren, daß die Kraft der Verzeihung und der Nächstenliebe in jedem einzelnen Menschenherzen aufzuleuchten vermag und daß aus dieser Liebe konkrete, sozial heilende Taten hervorgehen können?

2.7. Nothart M. Rohlfs

Auch Nothart M. Rohlfs, den wir bereits von der Goetheanum-Rezension aus dem Jahr 1995 her kennen, meldete sich beim Erscheinen der deutschen Übersetzung der Bücher Yonassan Gershoms wieder zu Wort, diesmal im Info3.10 Abgesehen von einigen neuen Stilblüten, brachte er aber außer Bekräftigungen der schon 1995 vorgetragenen Bedenken keine neuen Ideen vor. So finden sich in Rohlfs neuerlicher Rezension solche abenteuerlichen Sätze wie: »Viele der Menschen, besonders der jung verstorbenen, die als Opfer der Shoah ermordet wurden, leben unterdessen wieder unter uns.« Also, nachdem die Menschen jung verstorben waren, wurden sie als Opfer der Shoah ermordet ... Oder: »Der zweite Teil der Arbeit nimmt sich ... der Frage an, wie die karmischen Folgen des Holocaust ... auf kollektiver wie individueller Ebene von uns Heutigen geheilt werden können.« Karmische Folgen können nicht geheilt werden, vielmehr sind die karmischen Folgen selbst Heilungsversuche vorangehenden Handelns, weil sie einen Ausgleich schaffen wollen für das Unheil, deren Folgen sie sind. -

Seine Rezension mündet in die »offene Frage« an den »amerikanischen Rabbiner«: »Was die gewaltsame Verkürzung eines irdischen Menschenlebens bedeuten kann, das wissen wir hinreichend zu würdigen. Sollte der Gang durch das jenseitige Reich ebenfalls ein schrittweiser und gesetzmäßiger sein, was bedeutete dann die Vorstellung einer rigorosen Verkürzung desselben für denjenigen, der diese erleidet?« Wie die Würdigung des nachtodlichen Lebens und seines gesetzmäßigen Verlaufs durch Rohlfs aussieht, haben wir bereits in seiner Rezension der englischen Ausgabe der Gershom-Publikation erfahren. Sie sei hier noch einmal zitiert: »Der Mittelteil des angedeuteten nachtodlichen Geschehens findet außerhalb zeitlicher Maßstäbe statt, insofern die Tätigkeit der Hierarchien nicht zeitlicher Art sind. Doch bedarf es wohl einer gewißen »Mindestzeit« zum regulären Abbau alter und Aufbau neuer Leiblichkeit, sofern das Menschenwesen selbst nach dem Tode und vor der neuen Geburt daran beteiligt ist.«

Im Mai und Juni 1998 stürmte die ganze »Würdigung« der zur Rede stehenden Problematik im anthroposophischen Blätterwald ihrem Höhepunkt zu, um dann – nach der Veröffentlichung eines Beitrages von Irene Diet im Goetheanum und einem Schlagabtausch samt Dietscher Selbstverteidigung – in plötzliches Verstummen zu münden. Kaum hatte die Diskussion begonnen, interessant zu werden, verendete sie durch Verun­glimp­fungs­­kampagnen und Verfemungen, die im Grunde nur die konkrete Ausführung dessen darstellten, was Reuveni bereits im Info3 jedem verkappten »Revisionisten« in Aussicht gestellt hatte. Doch bevor wir uns dieser unterhaltsamen Eskalation eines unseligen Streits zuwenden, der in nichts anderem als im Austausch – auf subjektiven Glaubensüberzeugungen fußender – hochgeschaukelter Emotion bestand, sind einige gehaltvolle Beiträge zu würdigen, deren Veröffentlichung sich die Redaktion des Goetheanum in ihren Ehrenkranz winden darf.

2.8. Stefan Leber

Allen voran ist die Studie Stefan Lebers11 zu nennen, die unter dem Titel Gibt es ein Reinkarnationsgedächtnis? eine subtile anthropologische und anthroposophische Untersuchung über Gedächtnis und Erinnerung, die Herkunft und den Realitätsstatus sowie die Beweiskraft von Bildern verbirgt. Eine ausführliche phänomenologische Charakteristik der möglichen Quellen von Bildern leitet zur Frage nach deren Beurteilung über, die vor allem den »Wirklichkeitsbezug« dieser Bilder betrifft. »Öffnen sich nicht ganze Abgründe von Irrtümern, nimmt man Bildzusammenhang für Wirklichkeit?«, frägt der Autor, eine Frage, die der besonnene Leser nur mit Ja beantworten kann. Lebers Ausführungen über Erinnerung und Gedächtnis suchen den anthropologischen Ort der Erinnerung auf und beschreiben deren Entstehung. Er weist auf den zeichen- oder gebärdenhaften Charakter der Einprägungen im Lebenskräfte-Organismus hin, die dem Wiedererzeugen von Erinnerungen zugrundeliegen.

Leber problematisiert auch die Frage der Auflösung des Trägers der Erinnerung mit dem Tode und frägt in diesem Zusammenhang: »Wie soll es da zu Begegnungen mit den längst vergangenen Einprägungen kommen?« (Goetheanum 19, 1998, S. 272). Um diese Frage zu beantworten, stellt er eine interessante Hypothese auf: »Kann nicht trotz des Verlustes des Lebensbildekräfteleibes (Ätherleib) eine Einprägungsmatrix gleichsam leibunabhängig über den Tod hinaus - und damit für ein kommendes Leben - fortbestehen? Dies wäre unter der Bedingung möglich, daß die ohnehin von der Außenwelt abgekehrten inneren Merkzeichen (Engramme) ihrerseits sich in eine Art von geistiger Substanz - also gleichsam ins Geistige - ebenso hineinprägten, wie sie das ohnehin in den Lebensleib tun.« (Ebenda, S. 273.) Daß dies der Fall ist, verdeutlicht Leber am Beispiel der Fähigkeitsbildung, die er mit dem Lebensgeist in Zusammenhang bringt: »Es ist der Lebensgeist, der in seiner Substanz dem Lebensleib auf geistiger Ebene verbunden ist und der in allem seelischen Erleben, damit auch in den Vorstellungen ebenso wie in den Handlungen mit beteiligt ist und gerade das Wachstum, die Veränderung der geistigen Gestalt des Menschen bewirkt. Er ist es, der als Träger der Lebenserfahrung die Erträgnisse des Gedächtnisses bewahrt ... Er ist der geistige Erinnerungsträger, der von Leben zu Leben die Grundlage eines geistigen Gedächtnisses schafft.« (Ebenda, S. 273.)

Um seine Hypothese zu bekräftigen, zitiert Leber einen Vortrag von Steiner. Steiner spricht über die auch von mir im ersten Teil dieser Studie behandelten geistigen Extrakte der leiblichen Wesensglieder (phys. Leib, Atherleib, Astralleib), ohne jedoch die Bildung dieser Extrakte und deren Beschaffenheit näher zu erläutern, und Leber schließt folgenden Kommentar an: »Es ist der Geist Träger der jeweils gewonnenen Früchte, das heißt der Anlagen zu Fähigkeiten. Diese Anlagen sind im Handlungsgefüge verankert, haben aber keineswegs primär ein erinnerungsbildliches Korrelat. Dennoch bleiben auch dort Spuren des Erlebten erhalten, die zwar primär zu Fähigkeiten sich wandeln (Lebensgeist), aber im Untergrund auch die Anlage zur Bildgestaltung von Erinnerungen mittragen, wobei ein Zugang über die Aktivierung des Gefühlsbereiches geschieht. Darauf zilen die von Rudolf Steiner empfohlenen Karma-Übungen.“ (Ebenda, S. 273.) In diesem Text ist mir unklar, was mit dem Satz: »Dennoch bleiben auch dort Spuren des Erlebten erhalten ...« gemeint ist: Wo dort? Im Leben nach dem Tode? Möglicherweise. Demnach will Leber sagen, daß sich die Spuren des Erlebten im Leben nach dem Tode in Fähigkeiten verwandeln. Warum aber den aus den Erlebnissen gewonnenen Fähigkeiten über den Tod hinaus Erinnerungsspuren an die Erlebnisse, deren Metamorphose sie sind, anhaften sollen, scheint mir nicht hinreichend begründet. Leber selbst scheint dies auch so zu empfinden, denn er fährt fort: »... die zwar primär zu Fähigkeiten sich wandeln (Lebensgeist), aber im Untergrund auch die Anlage zur Bildgestaltung von Erinnerungen mittragen ...«. Was nun mit diesem »Untergrund« gemeint ist, bleibt mir völlig rätselhaft. Hat der Lebensgeist einen Untergrund, und wenn, was für einen? Einen nicht-lebensgeistigen? Warum nicht annehmen, daß dem Astralleib und Ätherleib des vorgeburtlichen Menschen von den Engeln die Erinnerungen an die vergangenen Leben durch ihr Wort einverwoben werden? An dieser Stelle besteht ohne Zweifel weiterer Erklärungsbedarf.

Lebers Ausführungen über das Erwecken der karmischen Erinnerung durch gezielte Übungen sind vor allem deswegen wertvoll, weil sie erneut die spekulativ nicht erreichbare, unvorstellbare Verschiedenheit vergangener Inkarnationen von der gegenwärtigen, in der sich ein Mensch um Erinnerung bemüht, verdeutlichen. Auch seine beredte Skepsis wirkt in der meist gefühlsumdunkelten Debatte klärend. So schreibt er gegen Ende: »Wenn die Inhalte auftauchen, der Erinnernde sich aber keineswegs der Herkunft der Bilder bewußt ist, heißt dies nicht, daß dies schon gleichsam Eingebungen einer anderen Welt wären - im Gegenteil. Die Bilder, die sich aus der geistigen Welt ankündigen, sind nicht so zu lesen, daß sie sich im Bildinhalt offenbaren, sondern dieser Inhalt ist vielmehr Zeichen, das wie ein Buchstabe gelesen werden muß und erst im Zusammenhang seinen über dem Zeichen hinaus liegenden Sinn offenbart.« (Ebenda, S. 275-276.) Hier formuliert Leber mit eigenen Worten den Unterschied zwischen Imagination und Inspiration, welch letztere erst imstande ist, die imaginativen Impressionen zu deuten.

Allerdings versäumt er an dieser Stelle die Gelegenheit, auf die notwendige Entwicklung der Intuition hinzuweisen, von der es in der Geheimwissenschaft im Umriß heißt: »Es gibt eine Zeit der menschlichen Entwickelung nach dem Tode und einer neuen Geburt, wo das menschliche Wesen nur der Intuition zugänglich ist. – Dieser Teil der menschlichen Wesenheit ist aber immer in dem Menschen; und will man ihn, seiner wahren Innerlichkeit nach, verstehen, so muß man ihn auch in der Zeit zwischen der Geburt und dem Tode durch die Intuition aufsuchen. Wer den Menschen nur mit den Mitteln der Imagination und Inspiration erkennen wollte, dem entzögen sich gerade die Vorgänge des innersten Wesens desselben, die von Verkörperung zu Verkörperung sich abspielen. Nur die intuitive Erkenntnis macht daher eine sachgemäße Erforschung von den wiederholten Erdenleben und vom Karma möglich (Hervorhebung L.R.] ... Will der Mensch sich selbst seiner inneren Wesenheit nach erkennen, so kann er dies nur durch Intuition. Durch sie nimmt er wahr, was sich in ihm von Erdenleben zu Erdenleben fortbewegt.« (Vgl. Geheimwissenschaft im Umriß, S. 358 f, Taschenbuchausgabe 1987).

Vor der Erlangung dieser Bewußtseinsstufen steht aber die Begegnung mit dem luziferischen und dem ahrimanischen Doppelgänger. Wer nicht diese Begegnung mit dem ihm innewohnenden Bösen in all ihrer Abgründigkeit und Dramatik durchlebt, kann nicht von sich behaupten, das Erkenntniskriterium entwickelt zu haben, um zwischen Wahrheit und Irrtum in der Geist-Erfahrung zu unterscheiden. Leber dagegen schlägt ein eigenes Erkenntniskriterium vor, das ich – gelinde gesagt – eher für ein Irrtumskriterium halte. Er schreibt: »Entscheidendes und unterscheidendes Kriterium, woher die Bilder in ihren Inhalten rühren, dürfte vor allem die Art sein, wie sie auftreten und wie sie vom Erinnernden erlebt werden: Überkommen sie ihn, so daß er meint, ein Deutungsmuster für Schwierigkeiten im jetzigen Leben zu haben? Oder treten sie so auf, daß die innere Sicherheit und das Identitätsgefühl gestärkt werden? Im letzten Fall liegt ohne Zweifel etwas vor, was mit dem Reinkarnationsgedächtnis, das stark mit dem Gefühlsleben zusammenhängt, verbunden ist.« (Ebenda, S. 276.) Nein!, möchte ich ausrufen: Wenn ich einer luziferischen Inflation erliege, kann ich wohl eindrucksvolle Bilder erleben, die meine innere Sicherheit und mein Identitätsgefühl gewaltig stärken, mich aber in reinen Irrtümern und Illusionen bewegen. Nicht, ob meine Selbstsicherheit durch Bilder gestärkt und mein Identitätsgefühl gesteigert wird, kann ein Wahrheitskriterium sein. Wahrheitskriterium kann allein sein, ob ich an der Beschaffenheit der erlebten Inhalte selbst zu unterscheiden weiß, ob sie durch luziferische oder ahrimanische Wirksamkeit erzeugt oder verfälscht sind. Denn ohne die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle könnten wir »Täuschung über Täuschung« verfallen (Vgl. Geheimwissenschaft im Umriß, S. 381 f, Taschenbuchausgabe 1987). Wir könnten »nie unterscheiden«, was wir in die geistige Erfahrung hineintragen und was ihr selbst angehört. Der Geistesforscher, der sich um eine sachgemäße Erkenntnis der Tatsachen von Reinkarnation und Karma bemüht, muß die beiden Quellen von Täuschungen – die luziferische und die ahrimanische – verstopfen, was ihm nur gelingt, wenn er »erst das Bild des eigenen Doppelgängers erkannt hat; und er wird ausschalten können, was ... eine zweite Täuschungsquelle ist, wenn er sich die Fähigkeit erwirbt, an der Beschaffenheit einer Tatsache der übersinnlichen Welt zu erkennen, ob sie Wirklichkeit oder Täuschung ist.« (Vgl. Geheimwissenschaft im Umriß, S. 381 f.) Wie aber soll ein sachgemäßes Urteil über Tatsachen von Reinkarnation und Karma ohne wirkliche Geisterkenntnis – was die Erkenntnis des geistigen Wesens des Menschen durch Intuition einschließt – möglich sein?

Den Lebers Studie abschließenden Bemerkungen habe ich nichts hinzuzufügen: »Ein Leben, das nach gleichem oder ähnlichem Muster abliefe, würde wenig Entwicklungssinn machen ... Wo in der Bildabfolge allzu deutlich auf Ähnlichkeiten abgestellt ist, liegt der Verdacht nahe, daß es sich bei induzierten Erinnerungen vornehmlich um Dramatisierungen von Welt- und Organgeschehnissen handelt.« (Goetheanum, loc.cit,. S. 276)

2.9. Rosemarie Wermbter

Im selben Heft, in dem der zweite Teil von Lebers Studie erschien, ist auch eine Arbeit von Rosemarie Wermbter abgedruckt, die eine Fülle von Gesichtspunkten aus dem Gesamtwerk Steiners zusammenträgt, um die diskutierten angeblichen Reinkarnationserinnerungen zu beurteilen (Goetheanum, 19, 1998, S. 269-272). Zwar leitet sie ihre Sammlung damit ein, zu betonen, »aus welchem leiblichen, seelischen oder geistigen Quellengrund [Reinkarnationsimpressionen] stammen, was und worüber sie etwas aussagen und wie sie zu interpretieren sind, das kann im einzelnen konkreten Fall nur der geschulte Geistesforscher beurteilen.« (Goetheanum, 19, 1998, S. 269) Doch vergißt sie diese methodische Grundüberzeugung, wenn sie selbst über konkrete Einzelfälle nachdenkt. Wermbters Aufsatz ist - dank der vielen aus dem Gesamtwerk ausgezogenen Gesichtspunkte - ähnlich wertvoll, wie der weiter oben besprochene von Suter-Schaltenbrand. Im Grunde liegt hier das ganze Material bereit, das Irene Diet in ihrem Aufsatz aufgegriffen hat. Um differenzierte Auseinandersetzung Bemühten ist die Lektüre zu empfehlen.

Allerdings geht Wermbter nach der auf Steiner gestützten grundsätzlichen Skepsis etwas zu bereitwillig auf die Ansprüche Karléns und der von Gershom behandelten Holocaust-Opfer ein und alle Nüchternheit scheint vergessen, wenn sie schreibt: »Anläßlich des frühen Todes eines Kindes sprach Rudolf Steiner davon, daß die eine, kurze Inkarnation wie eine Anstückelung, eine Art Fortsetzung einer anderen sei ... Das scheint bei den Leben von Anne Frank und Barbro Karlén der Fall zu sein.« (Goetheanum, 19, 1998, S. 271). Die Beobachtung, daß die früheren Peiniger Anne Franks jetzt nicht zur Wiedergutmachung antreten, sondern ihr Treiben fortsetzen, dient ihr nicht dazu, der Geschichte gegenüber Verdacht zu schöpfen, sie liest diese »Tatsache« vielmehr als Bekräftigung ihres Geltungsanspruchs. »Es ist deutlich, daß in der kurzen Zwischenzeit zwischen den Inkarnationen keine vollständige Metamorphose stattgefunden hat, sondern ein außergewöhnliches Schicksal mit ähnlichen Komponenten fortgesetzt wird, außergewöhnliche Kräfte aufrufend und heranbildend.« (Ebenda, S. 271.)

Auch ihre positive Stellungnahme zu den von Gershom berichteten Fällen läßt die mindestens neun Gründe für einen skeptischen Umgang mit solchen »Erinnerungen«, die sie zuvor ausführlich referiert hat, vermissen. Frau Wermbter schreibt: »Es ist aber denkbar, daß gerade jugendliche Holocaust-Opfer, die nach dem gewaltsamen, unter furchtbaren Umständen erfolgten Tod ohnehin in der Erdsphäre verbleiben mußten, sich nach einem Ersatz, einer Fortführung des verkürzten Lebens sehnten. Durch die kurze Zwischenzeit bedingt, schoben sie die alten, unverarbeiteten Erinnerungen mit hinein in das neue Leben. Diese »Reste« wurden immer als rätselhaftes, quälendes Hemmnis empfunden, das man auflösen, loswerden möchte, um endlich zu einem normalen »Ein-Inkarnationsgedächtnis« zu kommen.« Es ist fast alles »denkbar«, auch die abenteuerliche Hypothese von Frau Wermbter, die Frage ist nur, wie gelangt man zur Gewißheit und worüber darf man urteilen, ohne den Urteilsboden unter den Füßen zu verlieren? Wenn nämlich die Annahme, daß die jugendlichen Opfer des Holocaust »ohnehin in der Erdsphäre verbleiben mußten« und sich nach »einem Ersatz« ihres »verkürzten Lebens sehnten« nicht zutrifft, dann fällt auch der weitere Teil dieses Gedankengebäudes in sich zusammen.

2.10. Irene Diet

Nun ist es an der Zeit, sich mit dem Aufsatz von Irene Diet zu befassen, der im Mai 1998 im Goetheanum erschien (20, 1998, S. 288-292) und so große – veröffentlichte und wahrscheinlich noch mehr nicht-veröffentlichte – Aufregung verursachte. Irene Diet versucht – aufgrund bestimmter Darstellungen Steiners – eine Interpretation der diskutierten Erinnerungsphänomene, die natürlich genauso hypothetisch wie alle anderen ist. Dies allein wäre also kein Grund, sich aufzuregen. Die Aufregung entstand dadurch, daß sie es wagte, die angeblichen Erinnerungen von Holocaust-Opfern, zu denen ja auch Anne Frank gehört, nicht so vorbehaltlos positiv wie die meisten Rezensenten oder vornehm zurückhaltend zu deuten, sondern eine andere Erklärungsmöglichkeit anzusprechen. Diese läuft weder auf eine Leugnung des Holocaust noch auf eine Diffamierung seiner Opfer hinaus, sondern geht der Frage nach, was die Bedeutung und Wirkung dieser angeblichen Erinnerungen sein könnten, wenn es sich um keine wirklichen Erinnerungen handelte.

Diet geht sowohl auf Gershom als auch auf Barbro Karlén ein. An Karlén fällt ihr der enge, bescheidene geistige Horizont der Schwedin auf, denn »nirgendwo in ihrer Autobiographie finden sich Hinweise darauf, daß sie sich mit größeren, menschheitlichen Fragen oder auch nur mit den Problemen eines ihrer Freunde und Bekannten beschäftigt hätte.« (Goetheanum, 20, 1998, S. 288). »Ihre Sicht auf die Ereignisse, auf andere Menschen, auf das, was ihr zustößt, ja, sogar ihr Schreibstil hat den ehemaligen, naiven, kindhaften Charakter behalten ... Nirgendwo stellt sich Karlén die Frage: ... »Was habe ich gesät, um solches zu ernten?« ... Für sie ... ist die »heutige Verfolgung« nicht eine Folge vergangener Taten, sondern eine Fortsetzung.« (Ebenda, S. 289). An den von Gershom referierten Fällen bemerkt sie die »ungewöhnliche Kürze der Zeitspanne ..., die das vergangene Leben der beschriebenen Personen von ihrem jetzigen trennt.« Ebenso überrascht sie die »außerordentliche Detail­treue« ihrer Erinnerungen, die »sich oft auf komplexe Lebenssituationen« erstrecke, und den Betroffenen eine Kenntnis ihrer früheren Namen, Geburtsorte, Kindheitsverläufe usw. gewähre. Darüberhinaus unterschieden sich die Erzählungen über das nachtodliche Leben oder andere berichtete extrakorporale Erfahrungen »in keiner Weise von Erfahrungen, die mit Hilfe der Wahrnehmungsorgane des physischen Leibes gemacht werden können.« (Ebenda, S. 289).

Diese Beobachtungen veranlassen Diet zur Frage, ob »die Berichte Karléns und der von Gershom befragten Menschen von einem vergangenen Leben nicht viel eher mit Erinnerungen zusammenhängen, die an unaufgelöstes Ätherisches gebunden« seien. Man könne, so fährt Diet fort, angesichts der untersuchten Schicksale den Eindruck gewinnen, »als ob sich nicht die Individualität, das heißt der ewige Wesenskern des Menschen, wiederverkörpert hätte .... sondern die Persönlichkeit selbst zu einer neuen Inkarnation weitergeschritten wäre.« Das die Persönlichkeit überragende geistige Wesen scheine ebenso zu fehlen, wie das Leben zwischen Tod und Geburt zu einem »unwesentlichen Faktor« degradiert sei.

Im folgenden setzt sich Diet mit dem von Gershom akzentuierten »jüdischen Verständnis von Karma« auseinander und hebt hervor, daß nach Gershom »nicht nur die Generationsfolge, sondern auch die Reinkarnationsfolge ... vom mystischen Bund auf dem Sinai erfaßt worden« sei. Um diese Auffassung zu belegen, zitiert sie eine Stelle aus Gershoms Buch, der die Inkarnation einer durch den Sinaibund jüdisch gewordenen Seele in einem nicht-jüdischen Leib als eine »schwerwiegende Form des Exils« bezeichnet. Sie wirft Gershom eine spezifisch jüdische, auf die Kabbala gestützte Form von Kollektivismus vor, weil dieser die von der Kabbala »chaja« genannte höhere Seelenform als »kollektives Unbewußtes einer Gruppe« interpretiere, das über dem »persönlichen höheren Bewußtsein (neschama)« stehe, was bedeute, daß die »Gruppenseele« das »individuelle »höhere« Ich« determiniere. (Ebenda, S. 291.).

Im Anschluß daran äußert Diet ihr Befremden darüber, daß der Herausgeber der Werke von Barbro Karlén (Thomas Mayer) angesichts dieser Auffassungen Gershoms behaupten könne, mit Gershom trete »aus dem Judentum heraus eine Geschichtsbetrachtung« auf, »die ihrem inneren Wesen nach den Nationalismus gerade überwinden kann«. Vielmehr, so Diet, begründe Gershoms Sicht eine besonders »reaktionäre Form von Nationalismus«, die darin bestehe, daß eine Seele sich immer wieder »in ein und demselben Volk inkarnieren« müsse. Nach Steiner sei das »althebräische Volk« das Volk gewesen, durch das sich »par excellence« das »Gruppenseelenhafte innerhalb der Menschheit offenbart« habe. Dieses Prinzip der Gruppenseelenhaftigkeit habe aber durch das Opfer des Christus seine Bedeutung verloren, um »dem Prinzip der Individualität, der ›durchchristeten Ichheit‹ Platz zu machen.« (Ebenda, S. 291). In diesem Zusammenhang erkläre Steiner, daß sich allein die Menschen, die sich »aus der Gruppenseele herausgelöst und ein individuelles Ich entwickelt« hätten, »in einer zukünftigen Inkarnation in richtiger Weise an ihre vergangene Verkörperung zu erinnern« vermöchten.

Da bei Gershom die Seelen – nach Diets Interpretation – gerade an das Kollektivprinzip gebunden erscheinen, können wir uns vorstellen, zu welchen Schlüssen sie sich nun gedrängt fühlt. Bei den von Gershom behandelten Fällen erscheine »nicht das Ich« als unsterblich und ewig, sondern »die an die jüdische Gruppenseele gebundene Persönlichkeit. Persönlichkeiten aber ebenso wie Völkerseelen kennen eine Kindheit, eine Jugend, ein reifes Alter und natürlich auch einen Tod. Dieser Tod aber scheint nicht stattzufinden. Und so entsteht der Eindruck, daß die von uns beobachteten Phänomene mit der Unmöglichkeit, den Tod zu finden zusammenhängen.« Die Unmöglichkeit, den Tod zu finden leitet nun auf die Legende von Ahasver über. Denn dieser »ewige Jude« habe den mit dem Kreuz beladenen Christus fortgewiesen und deswegen bis heute nicht zu sterben vermocht. Diet sieht also in den zur Rede stehenden Fällen Menschen, die aufgrund ihrer Gebundenheit an die – jüdische – Gruppenseele nicht zu sterben vermögen und insofern etwas von der Ahasvernatur in sich tragen. Schließlich kommt Diet auch auf den Versuch Gershoms zu sprechen, dem Holocaust eine religiöse Bedeutung unterzulegen. Gershom sieht im Zweiten Weltkrieg die Erfüllung vieler Endzeit-Prophezeiungen und im Holocaust die Geburtswehen des messianischen Zeitalters. In diesem messianischen Zeitalter sei der früher als einzelne Person erwartete Messias zur kollektiven Seele des jüdischen Volkes geworden. Diet interpretiert: »Gershom glaubt, daß der ›Messias‹ ... seit dem Holocaust das jüdische Volk geworden sei. Kurz vor dem Ende des zweiten Jahrtausends nach dem Ereignis auf Golgatha, das den Mittelpunkt der Erdenentwicklung ausmacht, wird damit eine Stimme laut, die dieses Ereignis verlagern will: statt des Christus, der als Gott durch den Kreuzestod ging, womit die Ich-Entwicklung eines jeden Menschen überhaupt erst möglich geworden ist, entsteht die Vorstellung eines kollektiven jüdischen Messias. Dieser ›Messias‹ aber gleicht dem Urbild einer Wesenheit, die den Weg der Individualisierung des Menschen offen von sich stößt«, d.h. sie gleicht dem Urbild des Ahasver.

Die von Diet vorgetragene Lesart der diesbezüglichen Überlegungen Gershoms ist nicht die einzige, sie ist vielmehr einseitig entstellend. Man braucht Gershoms Begriff des kollektiven Unbewußten einer Gruppe nicht zwingend als Gruppenseele im Sinne der Ausführungen Steiners zu verstehen. Dieses Unbewußte ließe sich auch mit einem überbewußten Geistigen gleichsetzen, jener geistigen Wesenheit, die schon im Hintergrund der Offenbarung des Gesetzes auf dem Sinai stand, sich in Jesus von Nazareth inkarnierte und seither die Erde und die Menschheit mit der Ausstrahlung ihres Wirkens durchdringt, um sich mit der gesamten Menschheit als ihr höheres Ich zu vereinen. Wenn der erwartete Messias im mystischen Sinn zur kollektiven Seele des jüdischen Volks geworden ist, dann – so könnte man interpretieren – drückt Gershom damit nichts anderes als den paulinischen Gedanken von der Gemeinde als des mystischen Leibes Christi aus. Das jüdische Volk, die durch den Sinaibund jüdisch gewordenen Seelen können seit dem Holocaust Anteil an der Christuswesenheit gewinnen und sich in das allgemeine Erlösungswerk, das von der Menschheit vollbracht werden muß, einreihen.

Für Irene Diet hingegen ist klar, daß sich hinter den Vorgängen um Gershom und Karlén zwei »Methoden des Ablenkens von der Christuswesenheit« (gemeint ist der in diesem Jahrhundert sich offenbarende »ätherische Christus«) verbergen. »Die westlichen [okkulten] Brüderschaften versuchen eine andere ätherische Wesenheit, allerdings streng »ahrimanischer Natur«, an die Stelle des Christus zu setzen. Diese Wesenheit könnte mit dem sich im Geistbereich aufhaltenden Ahasverus in einer gewissen Beziehung stehen.« (Ebenda, S. 292) Die östlichen [okkulten] Brüderschaften hingegen wollen, so Diet, die Menschen durch von dämonischen Wesenheiten besetzte unaufgelöste Ätherleiber Verstorbener vom Wiedererscheinen Christi ablenken. »Angesichts der außergewöhnlichen Qualität der Erinnerungen der Menschen, die meinen, wiederverkörperte Holocaust-Opfer zu sein, ist schon weiter vorn auf die Möglichkeit verwiesen worden, daß dieses Phänomen mit nichtaufgelöstem Ätherischem zusammenhängen könnte. Und besonders der Verweis Steiners, der sich an die Beschreibung der mit einem menschlichen Ätherleib »bekleideten« Wesenheiten, die Mitglieder der östlichen Bruderschaften weden, anschließt, könnte uns auf die Spur der Hintergründe des von uns beobachteten Phänomens bringen.« (Ebenda, S. 292). Diets Aufsatz endet mit dem Ausdruck des Bedauerns um die Anthroposophenseelen, die den von ihr diagnostizierten Ablenkungen bereitwillig erlegen seien, obwohl doch gerade sie das nötige Werkzeug besitzen müßten, das Gaukelspiel böser Mächte zu durchschauen.

2.11. Info3-Kollektiv

Der Aufsatz Diets ist begreiflicherweise geeignet, eine Vielzahl von entrüsteten Reaktionen hervorzurufen. Es ist nicht verwunderlich, wenn sich neben anderen auch Amnon Reuveni und seine Freunde unter dem vielsagenden Titel Reinkarnationsgedächtnis und Diskriminierung zu Wort meldeten. Nachdem er – zusammen mit anderen – einen vergeblichen Kampf mit dem Herausgeber des Goetheanum für das Recht auf Verunglimpfung lebender Personen und gegen jegliche Zensur ausgefochten und seine Widerauferstehung als Autor bei der Zeitschrift Info3 gefeiert hat, sah er sich im Heft 6/1998 zusammen mit Jens Heisterkamp und Judith Krischik veranlaßt, die Herausgeber der Zeitschrift Das Goetheanum mit der Androhung des Vorwurfs des Antisemitismus beziehungsweise der Unterstellung eines unterbewußten Antisemitismus zur Ordnung zu rufen.

Diese Passage eines in einer »Zeitschrift für Anthroposophie heute« erschienenen Artikels ist ein glänzendes Beispiel für den vatikanischen Stil, der in die anthroposophische Publizistik Einzug gehalten hat. Ich will den Nicht-Lesern des Info3 den Genuß des Originaltons nicht vorenthalten. Das Autorenkollektiv Jens Heisterkamp, Judith Krischik und Amnon Reuveni geruhte im Juni 1998 in der Sache political correctness contra Irene Diet zu verlautbaren: »Wir wollen hier der Autorin keineswegs bewußte antisemitische Absichten unterstellen. Auch den Herausgebern, die sich bekanntlich alle Artikel – und besonders von bestimmten Autoren [nun würde der unbedarfte Leser natürlich zu gerne erfahren, von welchen Autoren denn] im voraus vorlegen lassen, wollen wir keinesfalls ein bewußtes Vorhaben unterstellen. Mit der Veröffentlichung solcher diffamierender Phantasien, die dem Judentum die Schuld an spirituellen Manipulationen schlimmster Art zuschieben, richten sie dennoch großen Schaden an. [...] Was wird nun mit der Veröffentlichung eines solchen Artikels voller antijüdischer Klischees in der Zeitschrift Das Goetheanum bezweckt? Eine öffentliche Klarstellung der verantwortlichen Herausgeber wäre hier mehr als nötig.« (S. 28)

Man kann davon ausgehen, daß lautstarke Dementis in der Regel bekräftigen, was sie zu dementieren vorgeben. So auch hier. Sehen wir uns an, was, nach den Gesetzen der Logik, die wir nicht ungestraft vernachlässigen, das Autorenkollektiv sagt, indem es uns mitteilt, was es nicht sagt. Es will der Autorin Irene Diet »keineswegs bewußte antisemitische Absichten unterstellen.« In diesem Satz kann die Negation sowohl auf das Prädikat der Bewußtheit (a), wie auf den Begriff der Absicht (b) oder auf den Vorgang der Unterstellung (c) bezogen werden.

(a) Wenn die Unterstellung bewußter antisemitischer Absichten dementiert wird, dann ist die Unterstellung unbewußter antisemitischer Absichten nicht in das Dementi eingeschlossen. In eine bejahende Aussage übersetzt, können wir also schreiben: »Wir wollen der Autorin unbewußte antisemitische Absichten unterstellen.«

(b) Es wäre aber auch denkbar, daß sich die durch das Wörtchen »keineswegs« ausgedrückte Negation gar nicht auf den Vorgang der Unterstellung bezieht, sondern auf die ebenfalls im Satz erwähnten »Absichten«. Wenn der Autorin keine antisemitischen Absichten unterstellt werden sollen, dann vielleicht antisemitische »Ansichten«?

(c) Schließlich könnte der Satz aber auch bedeuten, daß hier nicht antisemitische Absichten unterstellt werden sollen, weil Unterstellungen natürlich politisch unkorrekt sind, sondern daß diese Absichten schlicht konstatiert werden sollen.

Dasselbe Sprachmuster kehrt im folgenden Satz über die Herausgeber des Goetheanum wieder, nur daß der Ausdruck »keineswegs« durch »keinesfalls« ersetzt ist. »Keineswegs und keinesfalls« können aber die verantwortlichen Herausgeber aus ihrer Verpflichtung zu einer öffentlichen Klarstellung darüber entlassen werden, was sie mit der Veröffentlichung eines Artikels »voller antijüdischer Klischees« und »diffamierender Phantasien« in Wahrheit bezwecken. Diese Verantwortung der Herausgeber (dem Autorenkollektiv steht auf Seiten des Goetheanum offenbar ein Herausgeberkollektiv gegenüber, was den Gedanken nahelegt, daß das Zeitalter des anthroposophischen Kollektivismus endgültig angebrochen ist) ist keineswegs und keinesfalls zu eximieren, denn eine Klarstellung ist »mehr als nötig«. Was aber ist nötiger als nötig? Kann die Nötigkeit gesteigert werden? Kann es einen Einzigeren als den Einzigen geben?

Was den unterschwelligen Vorwurf des Antisemitismus angeht, so ist dieser durch den Aufsatz Diets keineswegs gerechtfertigt. Wenn das Info3-Kollektiv den Aufsatz Diets als »schweren Rückschlag« für den gerade erst begonnenen Dialog zwischen der »anthroposophischen Bewegung« und Vertretern anderer Weltanschauungen interpretiert, dann erscheint diese Wertung als Überreaktion. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der von Diet vorgetragenen Argumentation wäre der Info3-Redaktion besser zu Gesicht gestanden, abgesehen davon, daß der von ihr erhobene Diskriminierungsvorwurf voll auf sie selbst zurückfällt. Um diese inhaltliche Auseinandersetzung bemühte sich hingegen die Redaktion des Goetheanum. Sie veröffentlichte eine Reihe von Leserzuschriften, die nahezu ausnahmslos das Unternehmen Irene Diets verwarfen. An Zuschriften wurden Beiträge von David Schweizer, des Präsidenten der Zionistischen Vereinigung Basel, von Siegfried Woitinas, Mitarbeiter im Forum3 Stuttgart, Andreas Heertsch, dem Leiter des Zweiges am Goetheanum, Ameli Zieseniß und Claudia Rapp abgedruckt.

2.12. David Schweizer

Auf den ersten Blick mutet die Replik von David Schweizer unter der Überschrift Anthroposophie und Judentum recht sachlich an. Eine genauere Betrachtung fördert aber gewisse Bedenklichkeiten zutage. Gegen die Eingangsbemerkungen: »Wer sich als Anthroposoph daran wagen möchte, für die Phänomene des nachchristlichen Judentums einen Deutungsversuch zu unternehmen, muß ein vertieftes eigenes Wissen von diesem Judentum haben, namentlich was dessen esoterische Seite betrifft« (Goetheanum, 25, 1998, S: 357), scheint kein Einwand möglich, bevor man sich frägt, welche Instanz denn darüber entscheiden soll, ob jemand, der sich ein Urteil erlaubt, dieses »vertiefte eigene Wissen« besitzt oder nicht. Spricht sich Schweizer selbst dieses vertiefte Wissen zu, wenn er es Irene Diet abspricht? Abgesehen davon ist die Feststellung, daß ein profundes Urteil ein profundes Wissen voraussetzt, lediglich eine Platitüde, erst recht, wenn man bedenkt, daß ein vertieftes Wissen keineswegs eine »richtige Deutung« verbürgt. Sie erhält jedoch ihren Sinn dadurch, daß Schweizer im Folgenden Irene Diet diese Selbstverständlichkeit absprechen und sie zusätzlich diskriminieren kann, indem er auch ihre fehlende Bereitschaft denunziert, die jüdische Spiritualität zu würdigen. Diet würdigt – Schweizers Meinung zum Trotz – die jüdische Spiritualität, aber nicht in dem von Schweizer erhofften Sinn.

Sicher beinhaltet aber das Verdikt Schweizers: »der Aufsatz ist über weite Teile eine Aneinanderreihung von herabsetzenden und abstrusen Thesen, die sinngemäß auf eine Dämonisierung von Holocaust-Erlebnissen hinauslaufen« (Ebenda, S. 357) mindestens ein Fehlurteil. Denn Diet geht es nirgends um »Holocaust-Erlebnisse«, sondern um eine Auseinandersetzung mit angeblichen Erinnerungen an Holocaust-Erlebnisse. Selbst wenn sich Diet nicht auf einen »direkten Hinweis Rudolf Seiners« abstützen könnte, wären ihre Thesen allein deswegen noch lange nicht abstrus oder nicht diskutierbar. Dem methodischen Hinweis Schweizers auf die Möglichkeit der Urteilsenthaltung bei mangelndem Verständnis eines Sachverhaltes oder eines Gegenstandes ist jedoch zuzustimmen.

Ein interessantes Kapitel eröffnet Schweizer mit seinen Ausführungen über die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten der kabbalistischen Anthropologie. Doch wirft die Tatsache, daß Schweizer dieses Kapitel der Kabbala anders als Gershom deutet, worauf auch Irene Diet in ihrer Entgegnung auf Schweizer hinweist (siehe dazu weiter unten) eher ein neues Problem auf, als daß es das von Diet aufgeworfene Problem lösen würde. Die kurzatmige Gleichsetzung, die Diet zwischen Kollektivität und Nationalismus vornimmt, ist aber auch durch Gershoms Ausführungen mitveranlaßt, für den es eben tatsächlich ein Problem ist, Judentum als geistig-moralische Verfassung, als ethische Einstellung unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit zu denken. Ist doch Gershom es, für den die Reinkarnation einer jüdischen Seele in einem nicht-jüdischen Leib ein schwerwiegendes Erkenntnis- und Glaubensrätsel darstellt, und nicht Irene Diet. Angesichts der Differenzen zwischen Schweizer und Gershom könnte man im Stile Schweizers die unfruchtbare Frage aufwerfen, wer denn nun der berufenere Interpret dieses Lehrstücks der Kabbala sei, der chassidische Rabbi, der sich auf die eigene Lehrtradition stützt oder der Präsident der Zionistischen Vereinigung Basel, der sich zu seiner Interpretation aus dem Gesamtwerk Steiners bedient. Denn, daß Gershom sich bereit fände, der These Schweizers zuzustimmen: »Wir können nach dem Gesagten auch davon ausgehen, daß der jüdische Messias und der christliche derselbe ist«, halte ich doch eher für zweifelhaft. Für die Auseinandersetzung über diese höchst interessante Frage böte sich das Jahrbuch für anthroposophische Kritik als Forum geradezu an.

Wenn Schweizer behauptet, daß das jüdische Volk »kein zusätzliches Volk neben anderen Völkern« sei und daß »alle Völker an dem jüdischen Volk Anteil haben« (Ebenda, S. 358), dann ist doch die Frage, ob das palästinensische Volk dieser mystisch überhöhten Sicht des Judentums zustimmen könnte, und wessen Sicht er hier vorträgt.

Ähnlich liegt die Situation bei der allzuleicht mißverständlichen Auseinandersetzung über die Ahasverlegende. Auf welcher Urteilsgrundlage steht derjenige, der über Ahasver und das Judentum spricht? Geht er von eigenen Beobachtungen über die Ahasverwesenheit aus? Vermag er diese in der geistigen Welt oder der Akashachronik aufzusuchen? Oder stützt er sich nur auf Theorien, die er sich aufgrund gewisser Äußerungen Steiners zusammengebraut hat? Welche Auswirkung hatte denn das Holocaustschicksal des Judentums auf die Ahasverwesenheit? Welche (religiöse, spirituelle, geschichtliche, soziale) Bedeutung hat dieses Schicksal für das gegenwärtige und künftige jüdische Volk oder Judentum? Stützen sich Aussagen über dessen Schicksal und dessen Bedeutung für die gesamte Menschheit auf konkrete geistige Beobachtungen im Reich der Erzengel und Zeitgeister oder sind es haltlose Spekulationen, die auf einer pseudo-anthroposophischen Kombinatorik beruhen?

Wenn Schweizer Diets Vermutungen dahingehend interpretiert, sie glaube, »die Menschen, die sich aufgrund von Rückführungen als wiederverkörperte Holocaust-Opfer erkennen, könnten ... von dämonischen Wesenheiten durchdrungen sein, die nicht der Erdenentwicklung angehören und die sich einen unaufgelösten Ätherleib von Holocaust-Opfern angezogen haben«, dann wird diese Interpretation nicht durch Diets Text gestützt. Diese spricht lediglich davon, daß die Lösung für das mit dem gehäuften Auftreten solcher »Erinnerungen« gegebene Erkenntnisproblem in einer Richtung zu suchen sein mag, die »mit nichtaufgelöstem Ätherischem zusammenhängen könnte.« bzw. daß uns die diesbezüglichen Überlegungen »auf die Spur der Hintergründe des von uns beobachteten Phänomens bringen« könnten. Diese – sicher absichtlich – vagen, vorsichtigen Formulierungen lassen viele Interpretationen zu. So könnten die genannten dämonischen Wesenheiten lediglich eine inspirierende Rolle beim Zustandekommen der angeblichen »Erinnerungen“ spielen, die betroffenen Menschen bräuchten keineswegs von diesen Wesenheiten – wie Schweizer interpretiert – »durchdrungen« oder gar solche Wesenheiten zu sein. Daß mit dem Gedanken, dämonische Mächte könnten sich der Erinnerungen von Holocaust-Opfern bedienen, um diese für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, weder eine Diffamierung jener Opfer noch der jetzigen Träger dieser »Erinnerungen« verbunden ist, scheint nachvollziehbar. Im Gegenteil: Es könnte dieser Gedanke durch die Absicht motiviert sein, von den Opfern Schaden durch Mißbrauch des Angedenkens fernzuhalten. Diese Auseinandersetzung sollte übrigens nicht dahingehend mißverstanden werden, als ob ich die von Diet angestellten Vermutungen für die einzig mögliche Interpretation hielte. Ich habe selbst in meiner Rezension des Gershombuches in Die Drei (die im Anhang zu diesem Aufsatz abgedruckt ist) eine andere mögliche Deutung vorgeschlagen.

Was Schweizer schließlich unter dem Titel »Ahasver-Borderline-Problematik« abhandelt, ist nichts als ein schlecht kaschierter Versuch, die Integrität Diets durch eine Argumentation ad hominem in Zweifel zu ziehen und Irene Diet zu einem pathologischen Fall zu erklären. Dadurch verfällt aber Schweizer selbst dem Vorwurf, den er gegen Diet erhebt. In diesem Zusammenhang erscheint der letzte Absatz seines Textes, in dem er sich noch bei Irene Diet bedankt, daß sie ihm Gelegenheit dazu gibt, sie zum pathologischen Fall zu erklären, als besonders bösartig. Ich finde in der Tat, daß »Anthroposophen“« inskünftig »ernsthaft« versuchen sollten, sich mit Sachfragen auseinanderzusetzen und auf unangebrachte persönliche Diffamierungen zu verzichten, nur weil ihnen die Denkweise eines anderen nicht paßt. Davon unberührt bleibt natürlich das Recht, im Einzelfall haarsträubenden Unsinn auch als solchen namhaft zu machen.

2.13. Siegfried Woitinas

Leider ist auch Siegfried Woitinas derselben Fehlinterpreation von Diet erlegen wie Schweizer, wenn er schreibt: »ob es sich bei den von Diet ins Auge gefaßten Phänomenen möglicherweise nicht um Erfahrungen von menschlichen Individualitäten handelt, sondern um Dämonen, welche sich in unaufgelöste Ätherleiber verkörpert haben und damit den Machenschaften der genannten Bruderschaften dienen, muß jeder ... nicht nur als absurd, sondern als zutiefst diffamierend empfinden.« (Ebenda, S. 359).

Übrigens findet sich bei Woitinas der schon von Leber ausgesprochene Gedanke wieder, den ich dort als ungeeignetes Kriterium charakterisiert habe, um zwischen Wahrheit und Irrtum von »Reinkarnationserinnerungen« zu unterscheiden.

Wenn Woitinas von »karmischen Bildern« sagt: »Werden sie jedoch ins volle Bewußtsein durch entsprechende Methode heraufgeholt und noch einmal durchlebt, wirken sie heilend und auf das Ich-Bewußtsein stärkend, insofern Identität erlebt wird; so auch bei beiden genannten Persönlichkeiten [gemeint sind Karlén und Gershom, L.R.].“ (Ebenda, S. 359), dann mag Woitinas, indem er sich einen Grundsatz der Freudschen Behandlungstechnik aneignet, zwar für einen therapeutischen Zweck eine pragmatisch handhabbare Maxime formulieren, doch sollte diese mit der Warnung vor der Illusion verbunden werden, die »karmischen Bilder« kurzschlüssig für Bilder eigener früherer Inkarnationen zu halten.

Abgesehen davon erhebt sich die Frage, was für eine Form von Heilung dadurch bewirkt werden kann, daß die Menschen die ihren seelischen Erkrankungen zugrundeliegenden Irrtümer und Illusionen durch andere ersetzen: dieses Verfahren läuft doch letztlich darauf hinaus, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Ein anderer populärer Gemeinplatz, den Woitinas reproduziert, ist der vom karmisch »nicht vorgesehenen Tod«. Das eine Leben kann getrost als Fortsetzung des vorangehenden betrachtet werden, »wenn der letzte und besonders verfrühte, karmisch nicht vorgesehene Tod verhältnismäßig kurze Zeit zurückliegt.« (Ebenda, S. 359) Wann ist denn ein Tod »karmisch nicht vorgesehen?« Ebenso hausbacken wirken die Sätze: »Es liegt daher auch nahe, daß nach einem relativ kurzen Aufenthalt in der geistigen Welt eventuell der eigene, noch unaufgelöste Äther- bzw. Astralleib beim Heruntersteigen wieder angezogen wird.« (Ebenda, S. 359) Das klingt so, als würde jemand schnell ins Bad steigen, wozu er natürlich die Kleider an den Haken hinter der Tür hängen muß, um sie dann, wenn er wieder herauskommt und sich gut abgetrocknet hat, wieder anzuziehen und zu sagen: Hallo, da bin ich wieder! Das Reinkarnationsgeschehen, das mit den größten Geheimnissen des Daseins und der Welt verbunden ist, wird damit auf das Niveau eines Kasperltheaters herabgezogen.

2.14. Andreas Heertsch

Daß die Epoche anthroposophischer Konzilien nunmehr angebrochen ist, kann man den Einlassungen eines weiteren Paladins von Barbro Karlén, des Leiters des Zweiges am Goetheanum, Andreas Heertsch, in derselben Nummer des Goetheanum (25/1998) entnehmen. In seiner Apologie zugunsten Karlén und Gershom findet sich nach artigen Verbeugungen gegenüber Irene Diet die unübertreffliche Passage: »Gemäß den Erörterungen auf den Goetheanum-Tagen Berlin (Ostern 1997) scheint eine Bedingung für die (weitgehend) unverwandelte Erinnerung an das vorherige Leben der gewaltsame Tod im frühen Alter zu sein: Es bleibt nicht verbrauchter Ätherleib im Moment des Todes ›zurück.‹« (Ebenda, S. 360)

Gemäß den Erörterungen auf den Goetheanum-Tagen ...? Wer hat hier was erörtert? Und muß nun, ein Jahr nach diesen Erörterungen, gemäß diesen Goetheanum-Tagen gedacht werden? Wurde auf diesen Goetheanum-Tagen eine verbindliche Interpretation eines Teils der anthroposophischen Reinkarnationslehre beschlossen? Von wem und für wen? Verkündet uns Andreas Heertsch durch seine schlichte Formel den Inhalt eines Konzilsbeschlusses? Immerhin verläßt sich Andreas Heertsch nicht, wie die noch zu behandelnde Hl. Claudia, auf das Subjektivste, das wir besitzen, auf das Gefühl, sondern beruft sich auf die Meinung eines (allerdings anonymen – doch was sage ich, alle Kollektive sind anonym) Kollektivs. Das Kollektiv, das die Goetheanum-Tage 1997 mit seiner Anwesenheit beglückte, das Kollektiv, das die Erörterungen der Goetheanum-Tage an Ostern 1997 bestritt, das Kollektiv, das ohne Zweifel vom österlichen Geist erfüllt und durchdrungen war, hat sich dazu herabgelassen, einen Teil der anthroposophischen Reinkarnationslehre verbindlich zu interpretieren. Erneut werden die Kabinettsordres des Hl. Geistes mit flotter Feder niedergeschrieben. (Seit 1998 tauchen in der Zeitschrift Das Goetheanum Artikel auf, die mit dem Kürzel SJ gekennzeichnet sind. Wer oder was verbirgt sich dahinter?)

Daß Heertsch sich auf die verbindliche Interpretation durch ein Kollektiv stützen muß, hängt wahrscheinlich mit seinen Zweifeln zusammen. Seine Zweifel hinderten ihn zwar nicht, mit Jonassan Gershom »leidenschaftlich« zu streiten, wie er erzählt (wie schön, daß Anthroposophen leidenschaftlich streiten können), doch verunsichern sie ihn ob des »bloß literarischen« Ansatzes, »der keine eigenen Erfahrungen miteinschließt«. Er frägt sich, ob ein solcher »bloßer« Ansatz »der Fragestellung gewachsen« sei (S. 361). Diesen »bloß« literarischen Ansatz ohne eigene Erfahrungen sieht er offensichtlich bei Irene Diet und vermutlich auch bei sich selbst bis zu einem gewissen Grade, denn sonst müßte er wohl nicht bei der verbindlichen Lehrmeinung eines anthroposophischen Tagungskollektivs seine Zuflucht nehmen.

2.15. Amelie Zieseniß

Die nächste Stimme im Kirchenchor, die mit einem Solo hervortritt, ist Amelie Zieseniß. Sie garniert ihr Plädoyer für den anthroposophischen Pietismus mit einer umfangreichen Polemik gegen Scientology und mit einigen Hinweisen auf die Gesamtausgabe (Goetheanum, 25, 1998. S. 361/62).

Gegen etwas zu polemisieren, was ohnehin alle blöd finden, ist immer gut, weil das Sympathien sichert. Doch ist dieser Teil der Übung erledigt, frägt sich der nüchterne Leser: Was nun? Und da bleibt die höchst anthroposophische wie tröstende Botschaft übrig, daß der liebe Gott uns in dieser schrecklichen Welt nicht alleine läßt. Frau Zieseniß weiß, daß Jesus Christus »für unsere Schuld am Kreuz gestorben ist«. Sie weiß, daß es beim karmischen Ausgleich ganz gewiß nicht um »Selbsterlösung« geht, sondern um »die Vermehrung der Liebe zu Gott und zum Nächsten, um das lebendige Wachsen des Leibes Christi. Das heißt, niemand kann sich selbst oder einen anderen erlösen, dies geschieht ausschließlich durch Jesus Christus. Aber wir dürfen ihm dabei helfen, indem wir einander lieben und seine Gebote beachten.« (S. 362) O sancta simplicitas, möchte man ausrufen. Eines ist uns trotz allen Reinkarnationsgeredes gewiß: unser Erlöser läßt uns nicht im Stich. Wir müssen nur schön brav und folgsam sein und dürfen ihm sogar dabei helfen. Diese pietistische Interpretation des Christentums läßt mich verzweifelt fragen, wie weit die Schüler und Schülerinnen Rudolf Steiners noch mit ihrer geistigen Regression gehen werden. Vielleicht kommen wir, wenn wir nur geduldig genug sind, irgendwann in der vorchristlichen Zeit an, was den Vorteil hätte, daß wir uns nicht mehr mit diesen »wahren Christen« herumnerven müßten.

Doch Frau Zieseniß scheint zu meinen, ein klares Wissen von der normativen Lehre Rudolf Steiners über Reinkarnation zu besitzen, kann sie diese doch im Stil der Scholastik anwenden, um die empirische Welt daraufhin zu prüfen, ob sie mit der geoffenbarten Wahrheit übereinstimmt.

So kann sie über Barbro Karléns Buch ... und die Wölfe heulten schreiben: »Warum, so muß man doch fragen, scheint hier alles was wir durch Rudolf Steiner über die Gesetzmäßigkeit rechtmäßiger Karmagestalt wissen, wie außer Kraft gesetzt?« (S. 362) Wirklich, eine nahezu unübertreffliche Formulierung! Die nordelbische Landessynode hätte es nicht besser sagen können. Was bitte, ist eine »rechtmäßige Karmagestalt«? Was, zum Donnerwetter, eine »unrechtmäßige Karmagestalt«? Ob sich das Karma um die Gesetze kümmert, die wir aufgrund unserer Kenntnis und Interpretation der Gesamtausgabe für es erlassen? Wie schreibt doch Suter-Schaltenbrand: »Dann enthüllt uns Rudolf Steiner ... (GA 235) ... die konkrete karmische Entwicklung einzelner geschichtlicher Persönlichkeiten, mit der Begründung, daß Karma individuell und so vielfältig sei, als es Menschen auf Erden gebe. Deshalb könne man erst aus konkreten Schicksalen, wie er sie nun darstelle, erkennen, wie Karma überhaupt wirke.« (Goetheanum, 48, 1987, S. 385)

Was also, wenn sich ein Individuum das Recht ausbedingt, Rudolf Steiner beim Wort zu nehmen und sein individuelles Karma auszugestalten? Was tut dann Frau Zieseniß? Sie bemerkt, wie sich ein Abgrund vor ihr auftut und bemüht sich um Schadensbegrenzung.

Denn wenn wir die Sache durch das Okular der Rechtmäßigkeit betrachten, für die unsere Berufung auf die Gesamtausgabe garantiert, dann können wir nicht umhin, schrille Verfehlungen zu bemerken. So kann Frau Zieseniß fortfahren: »Wenn wir bereit sind, einmal mutig den von Barbro Karlén geschilderten Tatsachen ins Auge zu schauen, so können wir nicht umhin, hier einen Widerspruch festzustellen.« (S. 362) Wozu brauchen wir Mut, möchte ich fragen? Mut, um zu bekennen, daß die beschriebenen Tatsachen der »Gesetzmäßigkeit rechtmäßiger Karmagestalt« widersprechen, die uns Rudolf Steiner »geoffenbart« oder »verkündigt« hat? Mut, um zu behaupten, Barbro Karlén habe Tatsachen geschildert? Mut, um was auch immer ins Auge zu sehen? Warum gehört Mut dazu, einer Sache ins Auge zu sehen? Abgesehen von der kläglich verfehlten Metapher: reicht Aufmerksamkeit dazu nicht mehr aus? Bedürfen wir neuerdings des Mutes, um eines Gegenstandes gewahr zu werden? Zu tief sind die verschlungenen Gedankenwege der Autorin, als daß sie von einem schlichten Verstand, wie dem meinigen, nachvollzogen werden könnten.

2.16. Claudia Rapp

Den Gipfel des pietistischen Sinai erklimmt Claudia Rapp mit ihrer Wortmeldung (Ebenda, S.362/63), in der sie sich offen dazu bekennt, es sei ihr gleichgültig, ob die Erzählungen Barbro Karléns »wahr oder erfunden« seien, Hauptsache, sie fühle sich von ihnen berührt. Frau Rapps Weltsicht schließt eine klare Zurechtweisung des lästigen Verstandes ein, der uns daran hindern könnte, uns dem Gefühl unserer eigenen oder fremder Bedeutsamkeiten zu überlassen. Ist es nach Frau Rapp doch so, daß wir mit unserem »intellektuellen, analytischen Denken« allein die »Vielheit der Erscheinungen der äußeren Welt« ordnen können und uns »in einen Wissensturm einbauen.« Die innere Welt hingegen, die Frau Rapp offenbar für die eigentliche, wesentliche hält, weil sie die Welt der »Erlebnisse« ist, verschließt sich der »Hochmütigkeit« und »Rechthaberei« des Verstandes.

Gewiß verfällt die hier unternommene Betrachtung ebenso dem Verdikt, sich in die »eigenen Eigenheiten einzuzementieren« (eine Formulierung, die die Frage geradezu herausfordert, worin denn nach Frau Rapps Ansicht die uneigenen Eigenheiten eines Menschen bestehen), doch soll uns dies nicht hindern, namhaft zu machen, was aus den im Goetheanum abgedruckten Passagen von Frau Rapps Leserbrief trieft. Von den Gesetzen der Logik völlig unberührt, wendet sie ihren Verstand an, um die innere und die äußere Welt zu unterscheiden, um zu konstatieren, daß das »Erlebnis« dem Verstand nicht zugänglich sei. Ihr möchte man mit Wittgenstein antworten: »Was wir nicht denken können, das können wir nicht denken, also können wir auch nicht sagen, was wir nicht denken können«, eine höchst tiefsinnige, aus der Anwendung des Verstandes entsprungene Einsicht, die gewaltiger in die Geheimnisse des Daseins hineinleuchtet, als alle verstandesfreie Betroffenheit, die sich nicht um den Unterschied von Wahrheit oder Fiktion kümmert. Doch ist auch nicht weiter verwunderlich, daß es für Frau Rapp keine Bedeutung hat, ob eine Geschichte wahr oder bloß erfunden ist, denn den Unterschied zwischen beidem – Wahrheit und Fiktion – könnte nur der Verstand feststellen. Der ist aber, nach ihrer »eigenen« Ansicht, allein imstande, die äußere Welt zu erkennen. Zum Glück bleibt für die innere Welt das Gefühl der Betroffenheit als Erkenntnisorgan übrig, das uns eindeutig sagt, was »real« ist und was nicht.

Skurrilerweise sah sich Frau Rapp zu ihrer Stellungnahme durch einen vermeintlichen Angriff auf eine nicht weniger naive Seele veranlaßt. Es ist doch bemerkenswert, wie unterschiedlich Bücher auf Menschen wirken können. Während das »innere Leben« von Frau Rapp durch das Buch von Barbro Karlén ... und die Wölfe heulten »eine Wendung nahm«, ja sogar »gerettet« wurde, quälte ich mich unter gähnender Langeweile durch das endlose Gejammer über böse Polizisten und liebenswerte Pferde. Bemerkenswert ist an Barbro Karléns »Autobiographie« in der Tat, daß sich eine Frau ihres Alters die seelische Schlichtheit eines 12jährigen Mädchens trotz all der Greuel, die sie ihrer Erzählung zufolge erleiden mußte, so ungetrübt zu erhalten vermochte.

2.17. Irene Diet

Doch kehren wir zum Schluß noch einmal zu Irene Diet und ihrer emotionslosen Selbstverteidigung zurück, die offenbar erforderlich war, weil niemand anders es wagte, sich ritterlich für die zu Unrecht Verfemte in die Tjost zu stürzen. In ihrer Antwort auf die zum Teil haltlosen polemischen Anwürfe, die wir eben behandelten (Goetheanum, 28, 1998, S. 419-421), versuchte sie unter dem Titel Anthroposophie und Liebe zur Wahrheit, in der Auseinandersetzung eine Metaebene zu eröffnen, indem sie auf die »übersehene Frage« hinwies, die all ihre Kritiker zu bemerken versäumt hätten.

Diese Frage ist, genauer betrachtet, gar keine Frage, sondern eine Beobachtung. Die Beobachtung, die Irene Diet angestellt und die sie angeblich zur Ausarbeitung ihres Aufsatzes bewogen hat, ist die, daß es sich bei Karlén und Gershom um keine »Anthroposophen« handle, die aber doch »von Anthroposophen gefördert und in anthroposophischen Verlagen publiziert wurden.« (Goetheanum, 28,1998, S. 419). Diese Beobachtung erweckte in ihr »Fragen«, wie sie weiter schreibt, die sie in ihrem Aufsatz zu beantworten versuchte. Also doch nicht eine einzige Frage, sondern mehrere Fragen? Auf welcher Metaebene sollen wir uns jetzt bewegen? Möglicherweise auf der einer erst aus der »Geisteswissenschaft Rudolf Steiners« zu schaffenden Urteilsgrundlage? (»Ich versuchte, den besagten Erlebnisberichten gegenüber eine Urteilsgrundlage zu schaffen, und zwar auf der Basis der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners.«) Ist die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners die angestrebte Metaebene? Verbirgt sich etwa in der Polemik um Reinkarnation und ihre Anamnesis der Kampf um die Orthodoxie? Wer besitzt die wahre, richtige Sicht der Geisteswissenschaft und wer das richtige Urteil über ein Weltphänomen, das außerhalb derselben liegt, aber dringend der Einholung in deren Horizont bedarf?

Wenn Diet das gemeinsame Kennzeichen der fünf Autoren, die gegen sie angetreten sind, darin sieht, daß sie – im Unterschied zu ihr – davon ausgingen, es handle sich bei den geschilderten Berichten um solche von wiederverkörperten Opfern des Holocaust, während sie zunächst davon ausgehe, daß es Berichte von Menschen seien, die »meinten«, dies zu sein, dann unterstellt sie ihren Kombattanten allesamt, sie hätten die vorgetragenen Wahrheitsansprüche naiverweise fraglos akzeptiert, was aber nicht zwingend zutrifft. Es könnte ja sein, daß die betreffenden Autoren die von Diet öffentlich vorgenommene Prüfung für sich bereits – privatim – durchgeführt haben und zu einem von Diet abweichenden Resultat gekommen sind.

Genausowenig kann sie unterstellen, ihre Kritiker griffen sie von einer außerhalb der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners liegenden Basis an, wie sie dies explizit Schweizer gegenüber tut. Behauptet sie doch, Schweizer benutze zur Widerlegung ihrer »auf anthroposophischer Grundlage versuchten Studie nicht die Anthroposophie, sondern eine psychologische Theorie englischen Namens, mit Hilfe deren er erklärt, daß der Versuch, eben diese Anthroposophie zur Erkenntnisgrundlage zu erheben, einer ›Inkarnatiosstörung‹ entspräche, ›die für unsere Zeit symptomatisch ist‹.« (Ebenda, S. 420.) Mit diesem Argument ist Diet zwar eine bewundernswerte dialektische Miniatur gelungen, sie trifft nur leider nicht zu. Denn Schweizer will ja mit Hilfe der für Diet ominösen »englischen« Theorie [was die Theorie für sie natürlich schon verdächtig macht, weil sie möglicherweise von »westlichen Bruderschaften« inspiriert ist] nicht ihre Studie inhaltlich widerlegen, sondern sie persönlich diffamieren, indem er sie zum Borderline-Fall erklärt. Deswegen trifft Diets Vorwurf »die von ihm als ›Selbstidealisierung‹ bezeichnete Haltung ist nichts anderes als das Bemühen, die Lehre Rudolf Steiners so ernst zu nehmen, wie dies eben nur seine Schüler tun können«, auch an Schweizers Argumentationsabsicht vorbei, Diet als einen Fall zu behandeln. Irene Diet scheint also tatsächlich zu glauben, was diese Vorwürfe gegen Schweizer deutlich machen, sie sei die einzige, die auf dem Boden »der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners« stehe und durch die gedankenlose Propaganda, die für Karlén und Gershom von »anthroposophischer« Seite betrieben werde, sei die Anthroposophie und ihre Mission gefährdet. Witzigerweise ist gerade dies der Vorwurf, der wiederum von seiten des Info3-Kollektivs gegen sie erhoben wurde. – Sind sie nicht wie kleine Kinder im Sandkasten, die sich gegenseitig mit Sand bewerfen?

3. Fazit: Idee eines Forschungsprojekts

Was zeigt sich an diesem unappettitlichen Schlagabtausch? Es zeigt sich daran, daß unter den Interpreten der Gesamtausgabe keineswegs Einigkeit darüber besteht, wie diese Gesamtausgabe und ihre einzelnen Teil zu interpretieren sind.

Diese Meinungsverschiedenheiten sind nicht etwa nur darauf zurückzuführen, daß sich die Gesamtausgabe aufgrund ihrer Uferlosigkeit trefflich als Steinbruch mißbrauchen läßt, aus dem literarische Freibeuter sich zu ihren eigenen Zwecken bedienen können. Sie sind auch darauf zurückzuführen, daß es der anthroposophischen Bewegung bis heute nicht gelungen ist, verbindliche Interpretationsstandards für das Lebenswerk Rudolf Steiners zu etablieren. In dieser Lakune drückt sich ein Methodenproblem bzw. ein Bewußtseinsdefizit aus. Es ist der Mangel an Problembewußtsein hinsichtlich des methodischen Umgangs mit dem Werk Rudolf Steiners. In der Regel herrscht unter den selbstberufenen Interpreten und noch mehr unter den Verkündigern dieses Werks viel zuwenig Bewußtsein darüber, was der Begriff der anthroposophisch orientierten »Geisteswissenschaft« zu bedeuten hat, was das Wesen der Geisteswissenschaft im allgemeinen und der »anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft« im besonderen ist.

Die Institution, die legitimerweise mit dieser Aufgabe befaßt sein müßte, hat bedauerlicherweise zu lange auf dem Irrweg der Verkündigung gewandelt, wo stattdessen selbstkritischer Fragemut und Grundlagenarbeit erforderlich gewesen wären. Dies hat die anthroposophische Gesellschaft und Bewegung an den Rand der zeitgenössischen Kultur manövriert. Ob der jetzt vielfach eingeschlagene Weg der Akkomodation an die allgemein üblichen Formen der Selbstdarstellung der richtige Weg ist, um sich aus der selbstverschuldeten Isolation zu befreien, ist eine offene Frage. Zumal die neuen Kleider noch keinen neuen Kaiser machen, wie wir aus dem Märchen wissen. Wenn man nicht von der Wirkungslosigkeit eines solchen Vorhabens aufgrund der bisherigen anarchischen Geschichte der anthroposophischen Bewegung überzeugt sein müßte, könnte diese Einsicht zum Anlaß genommen werden, eindringlich die Einrichtung eines interdisziplinären Forschungsprojekts zur Entwicklung verbindlicher Interpretationsstandards für das Gesamtwerk Rudolf Steiners zu fordern.

Ein solches Projekt dürfte nicht als Synode oder Konzil mißverstanden werden, das inhaltliche Interpretationen festzulegen hätte. Vielmehr ginge es darum, Grundlagen dafür zu schaffen, wie im kommenden Jahrhundert fruchtbar mit dem Werk Rudolf Steiners umgegangen werden kann, ohne es vollends der interpretativen Zersplitterung durch marodierende Feld-, Wald- und Wiesenokkultisten anheimzugeben. Es ist klar, daß ein solches Forschungsvorhaben nicht bloß trockene wissenschaftliche Studien einschließen dürfte, vielmehr ginge es auch darum, Einrichtungen zu etablieren, die die gewonnenen Ergebnisse mit dem nötigen Nachdruck der inner- und außeranthroposophischen Öffentlichkeit vermitteln könnten. Ein solches Vorhaben ließe sich am ehesten im Rahmen einer wohldotierten Stiftung realisieren. Sollte sich jemand unter den geschätzten Lesern finden, der – neben der Einsicht in die Notwendigkeit eines solchen Vorhabens – über die nötigen Geldmittel verfügt, um ein solches Projekt zu finanzieren, kann er sich zwecks Konkretisierung ja mit dem Autor in Verbindung setzen.

Anhang:

Reinkarnation und jüdische Spiritualität (Rezension)

Yonassan Gershom: Kehren die Opfer des Holocaust wieder? Rudolf Geering Verlag 1997, 431 Seiten.

Yonassan Gershom ist ein begnadeter Erzähler. Aber nicht nur das. Er ist auch ein spiritueller Mensch, dessen religiöses Leben ihn mit Freude, ja Begeisterung erfüllt. Und dies trotz der Schwere des Schmerzes, der durch die kollektive Erinnerung an die Leiden des Holocaust auf ihm lastet. Aus seinen beiden Büchern Beyond the Ashes und From Ashes to Healing (in der deutschen Ausgabe unter dem Titel Kehren die Opfer des Holocaust wieder?) weht ein uns Hauch von Heiterkeit und Liebe entgegen, der Ausdruck seines chassidischen Bewußtseins ist, daß der Mensch durch die Erfüllung des göttlichen Willens mit diesem in Übereinstimmung steht.

Die Veröffentlichungen von Gershom sind in verschiedener Hinsicht bedeutungsvoll. Sie dokumentieren, daß das kollektive Trauma des Judentums, das bis vor kurzem von den Überlebenden des Holocaust verdrängt wurde, in die Erinnerung zurückkehrt und von ihnen seelisch verarbeitet werden will. Sie thematisieren eine lebendige spirituelle Tradition des Judentums, den an die Kabbala angelehnten Chassidismus, der in der Gegenwart einer der Hauptvertreter des Reinkarnationsgedankens ist. Sie weisen auf, daß immer mehr Menschen in der westlichen Welt die Reinkarnation nicht bloß als theoretische Überzeugung erwägen, sondern als konkreten Erlebnisinhalt erfahren. Sie zeigen nicht zuletzt, daß kein Unrecht zu groß ist, um nicht Verzeihung erfahren zu können.

Gershom weist darauf hin, daß die zeitliche und erlebnismäßige Nähe der Juden zu den Greueln des Holocaust sie bis vor kurzem daran gehindert hat, überhaupt über ihn zu sprechen. Wenn das Grauen und das Trauma zu groß sind, dann bleibt dem Menschen meist nichts anderes übrig, als diese seelischen Verwundungen in die Vergessenheit zu verdrängen, weil die Kraft nicht ausreichen würde, sie zu verarbeiten. Er müßte daran zerbrechen. Häufig ist es erst der lange zeitliche Abstand, der eine Auseinandersetzung mit schweren Traumata möglich macht. Von diesem Gesichtspunkt aus kann man die Zunahme der inner-jüdischen Auseinandersetzung mit der erlittenen Massenvernichtung deuten. Das Schicksal des Judentums während der Zeit des Nationalsozialismus kann nicht einfach schweigend übergangen werden, das Judentum selbst muß sich geistig damit auseinandersetzen, es muß einen religiösen Gesichtspunkt finden, von dem aus es möglich ist, das unvorstellbare Grauen einzubauen in die Beziehung, die es zu Gott hat. Ist der Holocaust eine Strafe Gottes für den Abfall vom göttlichen Gesetz, ist er eine Prüfung wie die Prüfung Hiobs, ist er ein Zeichen der besonderen Auserwähltheit, weil die Söhne Belials ihre ganze teuflische Wut an den Kindern Gottes auslassen müssen? Das Sprechen über den Holocaust wird dadurch erleichtert, daß immer mehr Menschen - von denen Gershom in seinem Buch berichtet - auftauchen, die mit spontanen Erinnerungen an frühere Inkarnationen konfrontiert werden. Bei diesen Erinnerungen handelt es sich um Erinnerungen an eine frühere Inkarnation, in der diese Menschen Opfer des Holocaust geworden sind oder Mißhandlungen während der Zeit der nazistischen Herrschaft erfahren haben. Die geistige Arbeit an dieser Frage ist nicht abgeschlossen und man kann davon ausgehen, daß die religiöse Auseinandersetzung mit ihr bedeutende spirituelle Entwicklungen im modernen Judentum in Gang setzen wird.

Gershoms Buch ist aber auch insofern bedeutsam, als es von einer lebendigen jüdischen Spiritualität Zeugnis ablegt, in der die Tatsache der Reinkarnation unzweifelbar feststeht. Die mittelalterliche Kabbala und der Chassidismus haben diese Lehre ausgestaltet. Sie stellen eine sich lebendig fortbildende Strömung innerhalb des orthodoxen Judentums dar. Der Chassidismus geht zurück auf den begnadeten Mystiker Baal Schem Tow (Rabbi Israel ben Elieser), der im 18. Jahrhundert wirkte. Für den Chassidismus spielen die esoterischen Lehren der Kabbala eine zentrale Rolle, die Baal Schem Tow popularisierte. Es ist aufregend, erfreuend und belehrend zugleich, die entsprechenden Passagen von Gershoms Buch zu lesen, der im Unterschied zu Gershom Sholem die Überlieferungen der Kabbala nicht als Gegenstand historisch-philologischer Forschung, sondern als religiösen Lebensinhalt behandelt. In diesem Zusammenhang sei auf die Darstellung über die verschiedenen Auffassungen vom Leben nach dem Tode im Judentum hingewiesen: neben der Vorstellung, der Verstorbene lebe in seinen Nachkommen weiter, existieren auch die Vorstellung von der leiblichen Auferstehung, von einem Weiterleben als unsterbliche Seele im Himmel und eben die Reinkarnationsauffassung.

Für den, der die Auffassung vertritt, die Seele des Verstorbenen lebe in seinen Nachkommen weiter, bedeutet die Vernichtung von Millionen jüdischer Leben nicht nur die Vernichtung einzelner menschlicher Existenzen, sondern die Vernichtung von Millionen potentieller Welten, von geistigen Traditionen, die in den vergangenen und künftigen Generationen lebten, die durch den Massenmord ausgelöscht wurden. Der Glaube an die leibliche Auferstehung hat durch die massenhafte Verbrennung und Zerstreuung der Asche der Ermordeten viele Anhänger verloren. »Wie können sich«, frägt Gershom, »wenn der Körper verbrannt und die Asche in alle vier Winde verstreut ist, nichtexistente Gebeine wieder zusammenfügen und auferstehen?« Die Vorstellung vom Weiterleben als unsterbliche Seele im Himmel hat eine besondere Beziehung der Lebenden zu den Verstorbenen gestiftet, denn, so die verbreitete Auffassung, im Garten Eden können keine Mizwot (gute Taten) mehr vollbracht werden. Wer in den verschiedenen Regionen des jüdischen Himmels nach dem Tode vorankommen will, ist deswegen auf die guten Taten der Hinterbliebenen angewiesen, die seiner gedenken und das Verdienst, das sie mit ihren Mizwot erwerben, auf den Verstorbenen übertragen. Bei seinem kurzen Abriß über die Geschichte der jüdischen Reinkarnationsauffassung geht Gershom auf den Unterschied zwischen Gilgul, Ibbur und Dibbuk ein: Ibbur und Dibbuk sind Formen der Besessenheit oder Einwohnung, bei denen eine Seele oder ein geistiges Wesen vorübergehend Besitz von einer anderen Seele ergreift, ein Ibbur ist ein gutartiges Wesen, ein Dibbuk ein bösartiges. Gilgul ist der spezifische jüdische Begriff für Reinkarnation.

Aus seiner Verwurzelung im Judentum ergeben sich für Gershom aber auch spezifische Fragestellungen gegenüber der Reinkarnation. Eine dieser Fragestellungen nötigt ihm besondere argumentative Anstrengungen auf: die Frage nach den jüdischen Seelen in nicht-jüdischen Körpern. Gershom formuliert das damit verbundene Problem so: »Nichtjuden ..., die sich daran erinnern, daß sie in einem anderen Leben Juden waren, sehen sich sehr oft mit dem Problem konfrontiert, daß sie sich wie »Deserteure« vorkommen, wie Verräter an ihrem eigenen Volk, was sie ja in gewissem Sinne auch sind. Diese Seelen haben den Entschluß gefaßt, nicht wieder jüdisch zu sein ...« (102) Die Wiedergeburt einer jüdischen Seele in einem nicht-jüdischen Körper, in einer nicht-jüdischen Familien- und religiösen Tradition ist deswegen ein besonderes Problem, weil der Sinaibund für alle jüdischen Seelen durch alle Inkarnationen hindurch bindend bleibt. »Im Idealfall sollen alle Juden diesen Bund einhalten, und genau wie viele Juden seit Jahrhunderten glaube ich, daß diese Verpflichtung über alle Inkarnationen hinweg Gültigkeit besitzt.« (103) Demnach gälte der Satz des Lubowitscher Rebbe: »Einmal Jude, immer Jude.« (99) Die Frage ist nur, was dies genau bedeutet. Deutlich ist, daß die Konfrontation Gershoms mit dem Phänomen der Reinkarnationserinnerungen zu einem Nachdenken darüber führt, ob Judentum in erster Linie eine Sache der Vererbung sei oder nicht. Wer einmal den Bund mit der Thora geschlossen hat, kann diesen Bund nicht wieder aufheben, denn die Thora, der Wille und das Wesen Gottes, ist ewig gültig. Kann aber dieser Bund nur in einem jüdischen Körper eingehalten werden? Ist man Jude, weil man eine jüdische Seele besitzt? »Ein Buch wie das vorliegende vermag die Frage, ob die Seelen von Juden grundsätzlich anders sind als die von Nichtjuden, nicht zu beantworten. Ich glaube jedoch, da es einer Seele freisteht, sich auf einen Bund festzulegen, über viele Inkarnationen hinweg und in vielen Welten.« (99)

Andererseits kann und muß es auch Seelen geben, die durch ihre Inkarnationen hindurch zwischen den Kulturen (und Religionen) hin und her wandern. Gerade diese Seelen sind es, die das Verständnis zwischen den verschiedenen Kulturen und Religionen fördern können. Alle Menschen können - so Gershom - dem Schöpfer dienen. »Wir glauben, daß auch Nichtjuden in den Himmel kommen und »errettet« (ein Begriff, den die Juden in der Regel nicht gebrauchen) werden können« (106) und zwar nicht nur dann, wenn sie konvertieren und von einem der jüdischen Stämme adoptiert werden, sondern schon dann, wenn sie die sieben noachidischen Gebote befolgen. Die noachidischen Gebote besiegelten den Regenbogenbund, den ersten von drei Bünden Gottes mit der Menschheit. Betrachtet man die drei Bünde als drei Stufen der Manifestation, als Hypostasen der kosmischen Thora, könnte man sagen, wer die noachidischen Gebote befolge, sei Jude, ohne in einem jüdischen Körper geboren zu sein. Die sieben noachidischen Gebote finden sich auch in anderen Weltreligionen: sie verlangen, daß der Mensch keine Götzen anbetet, den Namen Gottes nicht entweiht, nicht tötet, nicht stiehlt, kein Blut oder Fleisch von lebenden Tieren zu sich nimmt, weder Ehebruch noch Inzest begeht und nicht Selbstjustiz übt, sondern seine Streitigkeiten vor einem Gericht beilegt.

Man kann aus diesem wenigen ersehen, welche bedeutende Kraft im Reinkarnationsgedanken steckt. Er vermag aus dem Schoß des orthodoxen Judentums eine Horizonterweiterung zu entbinden, die die Möglichkeit der Versöhnung der Kulturen in sich birgt. Deshalb halte ich das Buch von Gershom - entgegen der Meinung mancher anthroposophischer Bedenkenträger - für eine der bedeutendsten Publikationen dieses Jahrzehnts. Es wäre wünschenswert, daß sich im Islam durch die Rückbesinnung auf die Traditionen des Sufismus und im Christentum durch den Wiedereinbezug der mittelalterlichen Mystik eine ähnliche Entwicklung anbahnt, Sie könnte für die kommende Menschheitskultur die weitgehendsten Folgen haben.

Ich kann diese Rezension nicht abschließen, ohne auf ein Symptom hinzuweisen, das ich für höchst bedenklich halte. Gershom sah sich veranlaßt, der deutschen Ausgabe seines Buches ein Vorwort voranzustellen, in dem er Einwände zu entkräften sucht, die ihm von anthroposophischer Seite gemacht wurden. Die anthroposophischen Besucher seiner Vorträge hatten offenbar keine bedeutenderen Fragen an ihn zu stellen, als die, inwiefern seine Erfahrungen und Anschauungen mit der Gesamtausgabe vereinbar seien. An dieser Stelle zeigt sich, daß der methodisch unaufgeklärte Umgang mit dem Lebenswerk Rudolf Steiners zu einem der größten Hindernisse werden kann, am Versöhnungswerk der Menschheit teilzunehmen und wie sich innerhalb einer der spirituellsten Strömungen der Neuzeit eine Orthodoxie herausbildet, die schlimmer als alle bisherigen ist. Mögen sich die anthroposophischen Leser von Gershoms Buch doch etwas von der Weite seines Geistes und der Großherzigkeit seiner Seele belehren lassen!

Anmerkungen:

1) Eine Vorstudie zu dieser Arbeit erschien unter dem Titel Reinkarnation, Seelenwanderung und persönliche Unsterblichkeit in der Zeitschrift DIE DREI, Heft 10/1998.

2) Ernst Suter-Schaltenbrand: Der Reinkarnationsgedanke im geistigen Suchen der Gegenwart, Das Goetheanum, 1986, Nr. 46 und Nr. 47; ders.: Erschließung vorgeburtlicher Erlebnisse durch Hypnose, Das Goetheanum, 1987, Nr. 47 und Nr. 48; ders.: Zu den Zeitabständen zwischen den wiederholten Erdenleben, Das Goetheanum, 1991, Nr. 46.

3) Siehe Anmerkung 2. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die jeweiligen Ausgaben der Zeitschrift Das Goetheanum.

4) Siehe Anmerkung 2.

5) Irene Diet: Auf den Spuren der Opfer. Anmerkungen zu Barbro Karlén und Yonassan Gershom, Das Goetheanum, 20, 1998, S. 288-292.

6) Christoph Rau: Barbro Karlén und Anne Frank, Das Goetheanum, 10, 1992, S. 93-95.

7) Amnon Reuveni: Anne Frank und Barbro Karlén. Befreiung der Seele, in: Info3, 12, 1997, S. 25. f.

8) Rudolf Steiner: Wiederverkörperung und Karma und ihre Bedeutung für die Kultur der Gegenwart,  Vortrag in Berlin 23. 01.1912, GA 135, S. 74 f. (Taschenbuchausgabe Dornach 1987).

9) Vgl. Rudolf Steiner: Aus der Akasha-Chronik, Vorwort.

10) Info3: 3.1998, S. 35-36.

11) Das Goetheanum, 18, 1998, S. 253-256; und 19, 1998, S. 272-276.


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