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Anthroposophie / trithemius verlag / Jahrbuch 2000 Platonismus

Rudolf Steiner und der Platonismus

Von Lorenzo Ravagli

Die Noogenese des Abendlandes läßt sich als Stufengang beschreiben, der vom Mythos über die Apokalypse zur Empirie führt. Aus dem Mythos geht die Philosophie als dessen Kind hervor, aus der Apokalypse die Gnosis als Kind der Offenbarung und aus der Zuwendung zur sinnlichen Wahrnehmungswelt in der Empirie entspringen die Naturwissenschaften.

Der alte Mythos repräsentiert ein Weltbild, das auf den personalen Geist bezogen ist, der die Natur und den Menschen durchdringt. Thales soll gesagt haben, überall seien Götter: also nicht nur in einem außerweltlichen Jenseits, sondern an jedem Ort, in jeder Seele sind sie anwesend und walten sie. Griechische Erfahrungsreligion ist stets die Feier der Gegenwart des Göttlichen, nicht die Beschwörung des Abwesenden.

Während vom mythischen Bewußtsein die Natur einschließlich der menschlichen geistdurchdrungen erlebt wird, erscheint noch in der griechischen Philosophie der Geist naturdurchdrungen. Das Denken der Philosophie mit all seinen Inhalten ist eine Manifestation des kosmischen Geistes, der als Logos oder Nus alles Seiende hervorbringt oder beherrscht. Das ist für Plato, ebenso wie für Aristoteles, aber auch die Stoa der Fall. Die platonische Ideenwelt ist das ideenförmige, aber wesenhafte Göttliche, das den gesamten Kosmos einschließt, von dem wiederum der denkende Mensch umschlossen ist. Die platonische Weltseele vermittelt die Wirksamkeit der Ideenwesenheiten an die Welt des Stoffes, die als dem zyklischen Zeitenlauf unterworfene Metamorphose der Ideenwelt erscheint und wie ein Mutterschoß die Prägung des Geistes empfängt. Für Aristoteles umschließt und durchdringt der göttliche Nus, der die Begriffe alles Seienden und die teloi alles Werdenden in sich enthält, die gesamte Natur und gibt dem Geschehen in der Welt seinen Richtungssinn auf das Göttliche und die Vollendung hin. Aus dem ganzheitlichen Erleben des Kosmos schält sich jedoch für die griechische Philosophie zunehmend das begriffliche Denken ab. Gleichzeitig verblassen die Götter des Mythos auch zu Begriffen und verlieren ihre Personalität und Individualität.

Erst durch das Eindringen der Offenbarungsreligion in den Mittelmeerraum nimmt der Geist eine transmundane Form an. Für die Apokalyptiker hat sich das Göttliche aus dem Raum der den Menschen einschließenden Natur zurückgezogen. Es thront in einer transzendenten Sphäre und die Überbrückung des Abgrundes zwischen dem Kreator und seiner Schöpfung ist nur wenigen Auserwählten möglich oder vollzieht sich durch die göttliche Gnade in den Propheten bzw. im Sohne Gottes selbst, der Menschengestalt annimmt, um die Distanz zwischen Mensch und Gott wieder aufzuheben, die für die alten Griechen nicht bestand.

Auch aus dem Psychischen des Menschen hat sich der göttliche Geist zurückgezogen, deswegen sind nicht mehr überall Götter, vielmehr wird die Natur und der Mensch als gottentlassen, ja gottverlassen erlebt. Dieses Erlebnis dokumentiert sich in der zentralen Bedeutung der Lehre vom Sündenfall, in der gesamten christlichen Soteriologie, die keinen Sinn hätte, wenn der Mensch nicht aus der umschließenden Sphäre des Göttlichen herausgefallen wäre. Ohne Kluft oder Distanz keine Notwendigkeit eines Brückenbaus.

Die wahrnehmungsartige Erfahrung der Wirksamkeit des Geistes verblaßt und wird durch eine schattenhafte Erinnerung an diesen Geist abgelöst: nach dem einmaligen Ereignis der Gotteserscheinung auf der Erde blickt das Christentum, je mehr es sich von diesem historischen Augenblick entfernt, immer mehr auf einen Moment der Vergangenheit zurück, in dem sich die Anwesenheit des Göttlichen ereignet hat, der jedoch immer weiter in der Erinnerung zurückweicht. Zwar versucht die Kirche durch das Ritual die Anwesenheit und Gegenwart des Mysteriums der Wandlung von Gott in Mensch und Mensch in Gott gegenwärtig zu halten: die durch sie behauptete Anwesenheit ist aber zugleich eine Abwesenheit, muß doch das Ritual etwas vergegenwärtigen, was in Wahrheit nicht mehr als gegenwärtig erlebt wird, sonst bedürfte es ja keines Rituals. Nur die Offenbarung (Apokalypse) kann diese Kluft noch überbrücken oder ein schwer gangbarer, mit vielen Zweifeln und Unsicherheiten behafteter mystischer Weg, der stets auch eine Gefährdung der Existenz dessen darstellt, der sich dazu entschlossen hat, ihn zu gehen, weil die Gotteserfahrung der Mystik das Monopol der Mittlerinstanz Kirche in Frage stellt.

Die Theologie entwickelt sich als eine Logie von den göttlichen Dingen und von der göttlichen Wesenheit. Sie versteht sich anfangs als Gnosis (Clemens von Alexandria, Origenes), als Erkenntnis Gottes, muss sich aber von der Gnosis abgrenzen, und bemüht sich schließlich darum, die Unmöglichkeit der Gotteserkenntnis für den Menschen (in den spätscholastischen Abgrenzungsbemühungen ebenso wie in der Reformation) darzulegen. Dennoch kann Theologie als Gnosis bezeichnet werden, wenn man sich auf die eigentliche Bedeutung dieses griechischen Ausdrucks besinnt.

Vor dem mit dem Beginn der Neuzeit anhebenden neuen Verständnis der Erkenntnis erscheint die gesamte theologische Debatte als inhaltsleere Spekulation, denn es scheint die empirische Basis zu fehlen. Das Denken des Menschen erhält - nach dem Selbstverständnis der Empiriker - erst durch die Sinne seinen Inhalt. Die Sinne sind aber auf eine geistentleerte Natur gerichtet. Den aus der Natur entschwundenen Geist findet der neuzeitliche Empiriker ebensowenig in seiner Seele, denn in dieser metamorphosierte sich der frühere kosmische Intellekt zu einem seiner selbst nicht bewußten Verstand. So wendet der Empiriker die Kategorien des Denkens auf die Wahrnehmungswelt an und hält diese für geistlos, weil er die geistige Natur seines Denkens und der Kategorien, die er verwendet, nicht durchschaut. Der Kosmos wird zur res extensa und der Geist zur res cogitans. Die Natur, deren Anschauung keine geistige Wirksamkeit mehr erkennen läßt, wird zum Mechanismus, zum Uhrwerk, das vom göttlichen Uhrmacher aufgezogen, nach mechanischen Gesetzen seinen Gang geht.

Aus der Fesselung durch dieses geistenleerte, mechanistische Weltbild versucht sich die europäische Romantik zu befreien. Wenn Goethe sich als Antipoden Newtons versteht, dann deswegen, weil ihm die Natur nicht als Mechanismus, sondern als Organismus erscheint. Aber nicht seinen Sinnen, sondern seinem »Geistesauge«. Diese Tendenz, mit dem Auge des Geistes in die Welt zu blicken und in ihr den Inhalt des eigenen Geistes wiederzuerkennen, wird von Herder gegenüber der Natur- und Menschheitsgeschichte ausgelebt, von Goethe gegenüber der Natur, von Hegel - zumindest der Absicht nach - gegenüber dem gesamten Inhalt der geistigen Überlieferung der Menschheit.

Für Steiner erscheint in Herder, Goethe, Hegel, Schelling, Oken und anderen die Morgenröte einer neuen Bewußtseinsform, die sich auf der Höhe des von der Neuzeit errungenen, aufgeklärten denkenden Selbstbewußtseins ankündigt. Für Steiner, der die Kantschen Grenzbestimmungen nicht akzeptiert und den Anspruch erhebt, die Aufklärung zu vollenden, indem sich das denkende Bewußtsein über das Gesetz des Erkennens aufklärt, wodurch es zur Einsicht in die Autopoiese des Geistes gelangt, stellt die Bewegung, die an Herder und vor allem Goethe anknüpft, eine weitere Stufe der Noogenese in Aussicht, in der die Empirie einen Weg zum personalen Geist eröffnet, der sich vor dem abendländischen Bewußtsein im Verlauf der Jahrtausende verborgen hat.

Da für Steiner, wie er in einem Aufsatz im Jahr 1888 zum Ausdruck brachte, »das Barometer des Fortschritts in der Entwicklung der Menschheit ... die Auffassung, die man von der Freiheit hat, und die praktische Realisierung dieser Auffassung« war[1], konnte diese neue Stufe nicht erreicht werden, indem die Errungenschaften der neuzeitlichen Kritik ignoriert wurden, sondern nur unter deren Einbezug oder auf deren Grundlage. Einen Weg zu dieser res occulta sieht Steiner in Goethes Weltanschauung angebahnt und für bestimmte Bereiche des menschlichen Erkennens bereits ansatzweise verwirklicht. Diesen Weg will er weiter gehen und auch für andere zugänglich machen.

Goethe sieht nach Steiners Auffassung das Geistige in der Natur wirken. Er erscheint ihm als der geborene Antimechanist, der »Galilei« und »Newton der Organik«, weil sein eigener Geist so inhaltsvoll sei, daß er nicht nur mechanische Gesetze in der Natur walten sehe, sondern Ideen. Dies zeige sich in Goethes Morphologie, in seiner Lehre von der Urpflanze und deren Metamorphose, dies zeige sich aber auch in dessen Farbenlehre, in der Goethe versuche, das Sinnliche aus dem Übersinnlichen zu erklären, das dem Sinnlichen auf verborgene Weise innewohne bzw. ihm zugrundeliege.

Steiner fällt bekanntlich 1882 von Karl Julius Schröer die Aufgabe zu, Goethes Naturweisheit vor der philosophisch-naturwissenschaftlichen Bildung seiner Zeit zu rechtfertigen, was aufgrund des Anachronismus dieser Erkenntnisart als problematisches, aber darum nicht weniger notwendiges Unterfangen erscheint. Die Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung sind das Buch[2], das Schröer hätte schreiben sollen, das er aber nicht schreiben konnte oder wollte, weil er meinte, der an der Technischen Hochschule in Wien studierende 21jährige sei dazu befähigter als der Professor für Literatur. Die Grundlinien ... sind von der platonischen Gedankenstimmung Schröers erfüllt, sie erscheinen wie der Versuch, eine platonische Naturweisheit und Weltsicht erkenntnistheoretisch zu rechtfertigen.

Seine Verbundenheit mit dem Griechentum brachte Steiner schon vor der Übernahme der Herausgabe von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften zum Ausdruck. In einem Brief an seinen Studienfreund Rudolf Ronsperger schrieb der damals Zwanzigjährige (1881): »Sie werden sehen, daß alle jene Ideen, welche im alten Griechenvolke lebten, im deutschen Volke neue Blüten getrieben haben und einem jeden, der sich zu diesen Ideen emporzuheben imstande ist, die höchst befriedigenden Worte in den Mund legen: das Deutschtum ist eine Wiederholung des Griechentums.«[3]

Steiner sah in der Geisteshöhe, die die abendländische Kulturentwicklung mit Herder, Goethe, Fichte und Hegel erreicht hatte, nicht nur eine Wiederkunft der griechischen Klassik, sondern auch eine Weiterentwicklung, ruhte doch diese Renaissance des Griechentums auf dem Fundament der Aufklärung und des neuzeitlichen Individualismus. In der griechischen, insbesondere platonischen Gedankenstimmung, die in den Grundlinien ... zum Ausdruck kommt, lebt Steiner mit Sicherheit bis etwa zum Jahr 1891. Seine Dissertation Wahrheit und Wissenschaft atmet bereits aristotelischen Geist.

Welche Schicksalsaspekte mögen sich in der merkwürdigen biographischen und geistesgeschichtlichen Konstellation verbergen, die Steiner mit Schröer und durch diesen mit Goethe verbindet?

Goethe war erfüllt von der platonischen Ideenanschauung. Er zweifelte nicht daran, wie er Schiller gegenüber zum Ausdruck brachte, daß er die Ideen »mit Augen sehe«. Diese Ideenanschauung hat sich Goethe nicht durch historische Studien erworben, sie arbeitete sich aus den Tiefen seiner Seele an die Oberfläche und durchdrang, je mehr Goethe selbst sich zu klassischer Form wandte und zum »Olympier« wurde, all sein Denken und Tun. Diese platonische Lebensstimmung Goethes verweist auf Wurzeln seiner Existenz, die im alten Griechentum zu suchen sind. Ähnliches ließe sich über Zeitgenossen Goethes (etwa die Brüder Humboldt, Hölderlin, Schelling, Hegel usw.) sagen. Deswegen bezeichnet Steiner diese Epoche der deutschen Kultur als Wiederholung des Griechentums: später sprach er auch von einer Reinkarnation des Griechentums.

Goethe lebte seine platonische Ideenanschauung gegenüber der Natur aus, ohne sie philosophisch zu rechtfertigen. Diese reflexive Enthaltsamkeit war Ergebnis einer von ihm verfolgten Strategie: »Mein Kind ich hab’ es klug gemacht, ich habe nie über das Denken gedacht.«, bemerkte er schnippisch in seinen Maximen und Reflexionen.

Doch schien die Zeit, in der die Ideologie Büchners, Vogts und Moleschotts herrschte, einer fundierten Rechtfertigung der Goetheschen Erkenntnisart zu bedürfen, nicht zuletzt deshalb, um Goethe vor jenen zu schützen, die sich, wie etwa Du Bois-Reymond oder Max Planck - nach Steiners Auffassung zu Unrecht - auf ihn beriefen. Schröer wäre - wie Steiner später bemerkte - die Aufgabe zugefallen, diese platonische Naturanschauung aristotelisch zu beschreiben und zu begründen. Doch Schröer war zu wenig Aristoteliker, um diese Aufgabe bewältigen zu können. So übernahm Steiner diese Herausforderung, obgleich er selbst mehr mit der aristotelischen Geistesrichtung verbunden war, als mit der platonischen.

Daß die philosophische Rechtfertigung eines unter Einbezug des Empirismus und Individualismus neuzeitlich weiterentwickelten Platonismus von einem geborenen Aristoteliker übernommen wurde, erscheint wie eine späte Wiedergutmachung für die Kritik des Aristoteles an seinem Lehrer. In Steiners Einsatz für Goethes platonische Naturerkenntnis kehrt der Aristoteliker Steiner zu seinen platonischen Ursprüngen zurück und verbeugt sich vor jenem Lehrer, ohne den auch der historische Aristoteles nicht denkbar gewesen wäre.

Steiners Aristotelismus kam aufgrund dieser besonderen biographischen Konstellation erst mit Wahrheit und Wissenschaft und vollends mit der Philosophie der Freiheit zum Durchbruch[4]. Die beiden Texte Steiners von 1891 bzw. 1893/94 stellen die philosophische Begründung des modernen Individualismus dar, dessen Wurzeln Steiner in einer Bewußtseinsverfassung erkennt, die den Menschen dazu zwingt, im Erkennen sich selbst als erkennendes Ich zu verwirklichen. Diese Nötigung zur Freiheit, als deren Realisation Steiner das menschliche Erkennen erscheint, begründet wiederum die Möglichkeit der ethischen Freiheit. Denn hat sich das Hervorbringen von Intuitionen erst als freie Tat des Menschen erwiesen, spricht auch nichts gegen die Freiheit seiner Handlungen, sofern diese Abbilder selbstgeschöpfter moralischer Intuitionen sind.

In Steiners Freiheitsphilosophie setzt sich die aristotelische Betonung der Individualität gegen die platonische Verehrung des Allgemeinen durch. Die Quintessenz dieser Freiheitsphilosophie kommt in der Maxime des freien Menschen zum Ausdruck, die Steiner 1894 in die Worte faßte: »Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens, das ist die Grundmaxime der freien Menschen.«[5]

1886, in den Grundlinien ... läßt Steiner keinen Zweifel an seiner Verbundenheit mit Platos Geist, der sich in Goethe gegenüber der Natur bekundet. Er schreibt im Rückblick 1923: »Immer klarer im einzelnen wurde mir die Tatsache, daß mich meine eigene Anschauung in eine Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung hineinstellte. Und so schrieb ich denn diese Erkenntnistheorie ... Indem ich sie heute wieder vor mich hinstelle, erscheint sie mir auch als die erkenntnistheoretische Grundlegung und Rechtfertigung von alle dem, was ich später gesagt und veröffentlicht habe. Sie spricht von einem Wesen des Erkennens, das den Weg freilegt von der sinnenfälligen Welt in eine geistige hinein.«[6]

Auch 1887 klingt die Sprache Platos uns aus jeder Zeile entgegen, die Steiner schreibt, so zum Beispiel in den Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften: »Wenn wir von dem Wesen eines Dinges oder der Welt überhaupt sprechen, so können wir also gar nichts anderes meinen, als das Begreifen der Wirklichkeit als Gedanke, als Idee. In der Idee erkennen wir dasjenige, woraus wir alles andere herleiten müssen: das Prinzip der Dinge. Was die Philosophen das Absolute, das ewige Sein, den Weltengrund, was die Religionen Gott nennen, das nennen wir, auf Grund unserer erkenntnistheoretischen Erörterungen: die Idee. Alles, was in der Welt nicht unmittelbar als Idee erscheint, wird zuletzt doch als aus ihr hervorgehend erkannt. [...] Sie aber fordert kein Hinausgehen über sich selbst. Sie ist die auf sich gebaute, in sich selbst fest begründete Wesenheit [...] Wenn man nur überhaupt imstande ist, bis zur Ideenwelt vorzudringen, so kann man sicher sein, daß man zuletzt eine mit allen Menschen gemeinsame Ideenwelt hat [...] Unser Geist hat die Aufgabe, sich so auszubilden, daß er imstande ist, alle ihm gegebene Wirklichkeit in der Art zu durchschauen, wie sie von der Idee ausgehend erscheint.«[7]

In jenem Wesen des Erkennens, das den Weg freilegt, klingt aber auch die eigentliche Aufgabenstellung Steiners an: dem menschlichen Erkennen einen empirischen Weg zur Geisterkenntnis zu weisen und insofern den verengten Horizont der abendländischen Zivilisation wieder zu erweitern. Nichts anderes versteht Steiner nach der Jahrhundertwende unter Anthroposophie als einen Weg (eine Methode), um »das Geistige im Menschenwesen mit dem Geistigen im Weltall« zu verbinden. In der Anthroposophie Steiners wird die Empirie zur Apokalypse, indem es ihr gelingt, die Grenze, die Kant dem menschlichen Erkennen gezogen hat, der Wirklichkeit nach zu durchbrechen, die Naturwissenschaft wird zur Gnosis, weil die Naturerkenntnis der Anthroposophie aus dem Einbezug des in der Natur wirkenden Geistes hervorgeht. So zumindest sieht Steiner selbst sein Lebenswerk.

Aber alle Bemühungen Steiners, in Anknüpfung an Goethe eine Erkenntnis der Natur zu rechtfertigen, die imstande ist, »alle gegebene Wirklichkeit« als »von der Idee ausgehend« erscheinen zu lassen, beruht doch auf einer realen Voraussetzung, der Voraussetzung des Ideenrealismus, einer angeborenen Fähigkeit zur Ideenschau. Es ist eben jene angeborene Schau, von der Steiner schon 1881 an Josef Köck schreibt: »Mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: »Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.« Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben - geahnt habe ich es ja schon längst-; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen einen solchen Fund!«[8]

Das materialistische Zeitalter akzeptiert aber eine solche Voraussetzung nicht. Es leitet aus Fichtes Diktum, was für eine Philosophie man wähle, hänge davon ab, was für ein Mensch man sei, das Recht darauf ab, die Welt materialistisch zu interpretieren, denn schließlich sei der Mensch ja doch nichts anderes als eine komplizierte Anhäufung von Materie. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Anschauung des Geistes vor dem materialistisch gewordenen Immanentismus zu rechtfertigen, der eine Spätfolge der aristotelischen Kritik an Platos Ideenlehre ist. Steiner bemüht sich daher seit dem Beginn der 90er Jahre in aufklärerischer Tradition darum, das materialistische Denken aus seinen eigenen Voraussetzungen zu einer Verständigung mit sich selbst und damit über sich hinaus zu führen.

So setzt bereits 1891 mit Wahrheit und Wissenschaft eine Selbstbesinnung de Aristotelikers Steiner ein, was unter anderem auch an der von Steiner in diesem Werk wie auch in der Philosophie der Freiheit praktizierten Methode der immanenten Kritik erkennbar ist, die man als eine originär aristotelische Methode bezeichnen kann. Die Philosophie der Freiheit ist, wie Steiner später schreiben wird, auf den Menschen als Naturwesen konzentriert, in dessen Intuitionsfähigkeit die Natur über sich selbst hinauswächst. Auch darin zeigt sich Steiners aristotelische Wende: blickt doch Aristoteles durch den Menschen als höchstes Naturwesen, das durch sein Denken an die kosmisch-göttliche Weisheit angeschlossen ist, zum Nus auf, während Plato aus der Höhe der kosmischen Ideenwelt auf den Menschen und die Natur herunterblickt.

Steiner wendet sowohl in Wahrheit und Wissenschaft als auch in der Philosophie der Freiheit das Augenmerk des materialistischen Zeitalters - der naturwissenschaftlichen Methode gemäß - auf Erfahrungstatsachen. Er versucht, durch eine empirische Beschreibung der Bewußtseinsvorgänge die Autonomie des menschlichen Denkens aufzuweisen. In der nicht zu leugnenden Tatsache der Denktätigkeit und deren unbefangener Interpretation, in der Fähigkeit des Menschen zur Hervorbringung individueller moralischer Intuitionen, die die materielle Welt gestalten und nicht von ihr gestaltet werden, sieht er eine Möglichkeit, den »Schuldscheinmaterialismus« (Popper) zu überwinden, der auf der unbewiesenen und unbeweisbaren Voraussetzung beruhe, das menschliche Denken sei ein Produkt des Gehirns.

Im Jahr 1897 blickt der Aristoteliker Steiner in seinem Buch Goethes Weltanschauung auf seine frühere Beschäftigung mit Platos fortwirkendem Erbe zurück. So betrachtet enthält das Werk eine massive Selbstkritik. Findet sich doch darin auch eine der dezidiertesten Stellungnahmen gegen den Aristoteles platonisans.

Indem Steiner sich 1897 erneut Goethe zuwendet und eine Gesamtschau des Goetheschen Geistes versucht, steht er vor keiner leichten Aufgabe. Dies bekennt er selbst freimütig im Vorwort zur ersten Auflage: »Allen Widerspruch, der in mir gegen Goethes Anschauungsweise schlummerte, habe ich aufgerufen, um gegenüber der Macht dieser einzigen Persönlichkeit die eigene Individualität zu wahren [...] So interessant es ist, einem großen Geiste auf seinen Wegen zu folgen,; ich möchte jedem nur so weit folgen, als er mich selbst fördert.«[9]

Die Darstellung des Buches geht vom Ende des 19. Jahrhunderts viel diskutierten Gegensatz des Monismus und Dualismus aus, den Steiner im Gegensatz von Schiller und Goethe verkörpert sieht. Für den Monismus ist die Idee ein Teil der einheitlichen Erfahrungswelt, eine Auffassung die man auch als aristotelisch bezeichnen könnte, während der Dualismus von der ontologischen Differenz von Ideenwelt und Erfahrungswelt ausgeht. »Goethe sieht in der Idee eines Dinges ein Element, das in demselben unmittelbar gegenwärtig ist, in ihm wirkt und schafft. Ein einzelnes Ding nimmt, nach seiner Ansicht, bestimmte Formen aus dem Grunde an, weil die Idee sich in dem gegebenen Falle in einer besonderen Weise ausleben muß. [...] Anders denkt Schiller. Ihm sind Ideenwelt und Erfahrungswelt zwei getrennte Reiche. Der Erfahrung gehören die mannigfaltigen Dinge und Ereignisse an, die den Raum und die Zeit erfüllen. Ihr steht das Reich der Ideen gegenüber, als eine anders geartete Wirklichkeit, dessen sich die Vernunft bemächtigt. Weil von zwei Seiten dem Menschen seine Erkenntnisse zufließen, von außen durch Beobachtung und von innen durch das Denken, unterscheidet Schiller zwei Quellen der Erkenntnis. Für Goethe gibt es nur eine Quelle der Erkenntnis, die Erfahrungswelt, in welcher die Ideenwelt eingeschlossen ist. Für ihn ist es unmöglich, zu sagen: Erfahrung und Idee, weil ihm die Idee durch die geistige Erfahrung so vor geistigen Auge liegt, wie die sinnliche Welt vor dem physischen.«[10]

Der aus Kant entlehnte ontologische Dualismus Schillers wird von Steiner als Folge einer »Entwicklungskrankheit« interpretiert, die der Philosophie des Abendlandes bereits in der Antike eingeimpft worden sei. Diese Entwicklungskrankheit bestehe in einem tiefgehenden Mißtrauen der Philosophen gegen die Erfahrungswelt, dessen Urheber er in Parmenides von Elea ortet, der die Auffassung vertreten habe, die Sinne des Menschen vermittelten nur Trug und Täuschung, während die Erkenntnis der Wahrheit allein dem reinen Denken möglich sei. Auch Plato sei von diesem Mißtrauen gegen die Erfahrungswelt erfüllt.

Um dies zu verdeutlichen referiert Steiner das Höhlengleichnis: Sofern wir nur wahrnehmen, sind wir festgebunden und sehen nur Schattenwürfe von vorübergetragenen Gegenständen an der gegenüberliegenden Wand unseres Gefängnisses, unsere Weisheit besteht darin, die Reihenfolge des Auftretens jener Schatten vorherzusagen. Der Grund für die Unfähigkeit der Sinne, wahre Erkenntnis zu vermitteln, liegt gemäß Steiners Platointerpretation in einem ontologischen Tatbestand, nämlich der Beschaffenheit der körperlichen Welt. Die dieser Welt angehörenden Dinge werden immer, sind aber nie: nichts bleibt, wie es ist. Das wahrhaft Seiende hingegen muß mit sich selbst identisch sein, kann nicht sowohl sein als auch nicht sein, darf nicht entstehen und nicht vergehen.

Plato, so Steiner, reiße die Vorstellung des Weltganzen in zwei Teile auseinander: in die Wahrnehmungswelt, die lediglich eine Scheinwelt  darstelle und die Ideenwelt, die die wahre Wirklichkeit verkörpere. Steiner kommentiert diesen »platonischen« Dualismus, indem er ihn in seine Schranken weist: die Unterscheidung zwischen Idee und Wahrnehmung sei nur noetisch, erkenntnistheoretisch berechtigt, nicht aber ontologisch. Die ganze Wirklichkeit werde allein behufs Ermöglichung des menschlichen Erkennens in die zwei Bereiche gespalten, auf daß der Mensch durch sein individuelles Erkenntnisbemühen Idee und Wahrnehmung wieder zu einer Ganzheit zusammenfüge. Die Ontologisierung dieser durch das menschliche Bewußtsein bedingten Dualität erwecke den Eindruck, die ursprünglich einheitliche Welt sei durch eine unüberbrückbare ontologische Kluft zerrissen. Stattdessen liege es allein an der Natur des Menschen, daß sich ihm die Dinge auf eine zweifache Art mitteilten: der ideenfreie Teil der Wirklichkeit durch die Sinne, die Ideen der Dinge aber durch sein Denken.

Steiner geht in der ersten Auflage des Buches Goethes Weltanschauung im Jahr 1897 von dieser Kritik direkt zu einer Schilderung des historischen Schicksals der Platonismus über, indem er beschreibt, wie dieser ein verhängnisvolles Bündnis mit der Offenbarungsreligion geschlossen habe: »Um die Sehkraft für dieses Verhältnis [von Ideenwelt und Erfahrungswelt] ganz zu lähmen, verband sich mit dem Platonismus das Christentum. Dieses religiöse Bekenntnis mit seinem Jenseitsglauben und seiner Verachtung der Sinnenwelt ist nur eine volkstümliche Form des Platonismus. Es macht eine nach menschlichem Bilde gedachte persönliche Wesenheit zum Urheber der Welt.«[11] Diese nach Feuerbach klingende Schelte des Transzendentalismus erfuhr in der zweiten Ausgabe des Buches, die Steiner im Jahr 1918 herausbrachte, eine nicht unbedeutende Korrektur.

Für die zweite Auflage wurde der gesamte Text überarbeitet und die betreffende, eben referierte Passage umformuliert. An der zitierten Stelle findet sich nun eine Ehrenrettung des Platonismus. Insgesamt wurde aus dem Platonismus, der in der ersten Auflage für die Entwicklungskrankheit der abendländischen Philosophie verantwortlich zeichnete, ein »einseitig verstandener«, »falsch aufgefaßter Platonismus«. Solche Relativierungen der radikalen Position aus dem Jahr 1897 finden sich in der zweiten Auflage des Buches passim. An die zitierte Passage aber wurde eine positive Würdigung Platos angefügt. Steiner hebt nunmehr lobend hervor, Plato habe erkannt, daß der Mensch seine Erkenntnis aus zwei Quellen schöpfe (was auf einen erkenntnistheoretischen Dualismus hinausläuft), daß die Sinneswelt allein nicht die volle Wirklichkeit verbürge:

»Erst wenn aus dem Seelenleben heraus die Ideenwelt aufleuchtet und im Anschauen der Welt der Mensch Idee und Sinnesbeobachtung als einheitliches Erkenntniserlebnis vor seinen Geist stellen kann, hat er wahre Wirklichkeit vor sich. Was die Sinnesbeobachtung vor sich hat, ohne daß es von dem Lichte der Ideen durchstrahlt wird, ist eine Scheinwelt. So betrachtet fällt von Platos Einsicht aus auch Licht auf die Ansicht des Parmenides von dem Trugcharakter der Sinnendinge.«[12]

In Platos Philosophie wird nun von Steiner 1918 »eines der erhabensten Gedankengebäude der gesamten Geistesgeschichte« gesehen, deren Wesen für ihn in der Überzeugung bestehe, das Ziel alles Erkenntnisbemühens müsse die »Aneignung der die Welt tragenden und deren Grund bildenden Ideen« sein. Folgen wir Steiners später Korrektur, dann hat Plato die Bedeutung der Idee für das menschliche Erkennen nicht nur richtig eingeschätzt, sondern auch eine Erkenntnislehre vogelegt - soweit sie bei Plato überhaupt ausgebildet ist -, die den Sachverhalt zutreffend schildert.

Aber, und nun kommt in der Ausgabe 1918 die Einschränkung: Plato habe durch seine Darstellung dieser Einsicht dem Eindruck Vorschub geleistet, die Sinnenwelt sei nicht nur für das menschliche ideenlose Anschauen (das bloße Wahrnehmen des Positivismus) ein Schein, sondern auch unabhängig von der Art des menschlichen Wahrnehmens, d.h. ontologisch. Dagegen sei aber Goethes Standpunkt, daß es - unabhängig vom menschlichen Bewußtsein - keine ideenentblößte Sinneswelt gebe. Die Wahrnehmungswelt sei vielmehr immer schon von Ideen durchdrungen, der Mensch aber sei so organisiert, daß er die Welt ideenentblößt wahrnehmen müsse, um die Erkenntnis ermöglichenden Ideen durch sein Denken zur Erscheinung zu bringen. In dieser Auffassung, die Steiner hier als diejenige Goethes vorträgt, läßt sich unschwer der ontologische Monismus und erkenntnistheoretische Dualismus der Philosophie der Freiheit von 1894 erkennen.

Doch kehren wir noch einmal zum Text der ersten Auflage von Goethes Weltanschauung  zurück. In seinem weiteren Gedankengang untersucht Steiner die Auswirkungen des »einseitigen Platonismus« in der Geschichte des abendländischen Denkens und beschreibt, wie dieser sich im Mittelalter mit dem Christentum verbündet und den mittelalterlichen Dualismus und Transzendentalismus gezeugt habe. Der mittelalterliche Transzendentalismus habe die Ideen, die abgesondert von der Wahrnehmung doch nur im menschlichen Geist existierten, in den Geist Gottes versetzt und die Schöpfung (die sinnliche, körperliche Welt einschließlich des Menschen) anschließend zu einem Abglanz dieser Ideen erklärt. Gleichzeitig habe der Transzendentalismus der Menschenseele den Zugang zur göttlichen Ideenwelt entzogen und sie in eine Abhängikeit von Offenbarung und Gnade gebracht. Ein Erleben der Ideen an der Sinneswelt werde vom mittelalterlichen Dualismus als unchristlich diffamiert. Das Abendland, so Steiner, hätte sich vor vielen Irr- und Schleichwegen bewahren können, die Folge der »Erbsünde des Denkens«, des Mißtrauens in die Erfahrungswelt gewesen seien, wenn es sich dem richtig verstandenen Aristoteles angeschlossen hätte:

»Vergeblich hat sich Aristoteles gegen die platonische Spaltung der Weltvorstellung aufgelehnt. Er sah in der Natur ein einheitliches Wesen, das die Ideen ebenso enthält, wie die durch die Sinne wahrnehmbaren Dinge und Erscheinungen. Nur im menschlichen Geiste können die Ideen ein selbständiges Dasein haben. Aber in dieser Selbständigkeit kommt ihnen keine Wirklichkeit zu. Bloß die Seele kann sie abtrennen von den wahrnehmbaren Dingen, mit denen zusammen sie die Wirklichkeit ausmachen. Hätte die abendländische Philosophie an die richtig verstandene Anschauung des Aristoteles angeknüpft, so wäre sie bewahrt geblieben vor den Irr- und Schleichwegen, die sie gewandelt ist.«[13]

1897 erklärt Steiner viele »Irrwege« in der Gedankengeschichte zu einer Folge des Platonismus: der Realismus-Nominalismus-Streit des Mittelalters sei ebenso auf die platonische Weichenstellung zurückzuführen, wie der einseitige Empirismus Bacons oder der von Descartes begründete Rationalismus. Schließlich sei auch das Kantsche Problem, das zur Abschiebung der Fragen nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit in den Bereich eines ethisch begründeten Glaubens führte, eine Spätfolge des unseligen Hiatus, der seit Plato die abendländische philosophische Diskussion beherrscht habe. Im Kantianismus sieht Steiner 1897 eine »böse Frucht des Platonismus«, während er diesen 1918 abgemildert als eine »die Erkenntnis lähmende Frucht eines einseitigen Platonismus« bezeichnet.

Aus der Sicht der zweiten Auflage mußte Goethe das Christentum deswegen ablehnen, weil es von den Nachwirkungen dieses einseitigen Platonismus durchtränkt gewesen sei. Daneben habe sich Goethe aber einen »freien Sinn für die platonische Erhebung der Seele zur Ideenwelt« bewahrt. Er habe in sich die »Wirksamkeit der Ideenwirklichkeit« gefühlt und deshalb auch die wirkenden Ideen in der Natur geschaut. Ja, Goethe wird für Steiner 1918 geradezu zum Überwinder des abendländischen Irrweges: »So stellte sich in Goethes Weltanschauung die auf die Ideenwelt gehende Richtung des Platonismus in ihrer Reinheit her, und es wird in ihr die von der Wirklichkeit ablenkende Strömung überwunden.«[14]

Nun konnte aber Steiner schon 1897 nicht gänzlich über den von Goethe praktizierten Platonismus hinwegsehen. Er zog jedoch als platonisierender Aristoteliker Konsequenzen, die über Goethe hinausführten. Diese werden vor allem im Gebiet der Ethik sichtbar, wenngleich auch schon die 1886 veröffentlichten methodologischen Untersuchungen Steiners zu den Geisteswissenschaften in seiner Schrift Grundlinien einer Erkenntnistheorie ... über die von Goethe gelebten Dimensionen des Ideenrealismus hinausgegangen waren.

Steiner führt 1897 die Ansätze des Goetheschen Denkens, nachdem er bereits in seiner Philosophie der Freiheit unabhängig von Goethe seine Theorie des individualistischen Anarchismus entwickelt hatte, im Gebiet der Ethik fort. Im Sinne Goethes erfaßt der Mensch, meint Steiner 1897, in den Ideen, wenn er durch sie die Natur erkennt, das in den Dingen wirkende Ideelle. Er wird im Erkennen mit den wirkenden Kräften des Naturgeschehen geradezu eins und überwindet so durch einen realen geistigen Vorgang, dessen Urheber er selbst ist, jene Kluft, die ihn von der bloß wahrgenommenen Natur trennte. »Solange der Mensch das Wirken und Schaffen der Idee nicht fühlt, bleibt sein Denken von der lebendigen Natur abgesondert. Er muß das Denken als eine bloß subjektive Tätigkeit ansehen, die ein abstraktes Bild von der Natur entwerfen kann. Sobald er aber fühlt, wie die Idee in seinem Innern lebt und tätig ist, betrachtet er sich und die Natur als ein Ganzes, und was als Subjektives in seinem Innern erscheint, das gilt ihm zugleich als objektiv; er weiß, daß er der Natur nicht mehr als Fremder gegenübersteht, sondern er fühlt sich verwachsen mit dem Ganzen derselben. Das Subjektive ist objektiv geworden; das Objektive von dem Geiste ganz durchdrungen [...] Subjektiv und objektiv treffen zusammen, wenn die objektive Ideenwelt im Subjekte auflebt, und in dem Geiste des Menschen dasjenige lebt, was in der Natur selbst tätig ist. Wenn das der Fall ist, dann hört aller Gegensatz von subjektiv und objektiv auf.«[15]

Was Steiner hier beschreibt, ist nichts als die Anschauung der Denktätigkeit, in der die Konstitution der Wirklichkeit unter Mitwirkung des menschlichen Geistes sichtbar wird. Goethe habe nun aber, meint Steiner 1897, gerade dieses »innerste menschliche Erlebnis« nicht gekannt, er sei nicht zur Anschauung dieser Denktätigkeit vorgedrungen, deswegen habe er es auch nicht zur »unmittelbaren Anschauung des Befreiungsaktes gebracht«.[16]

Gemäß der Steinerschen Auffassung ist dieses innerste Erlebnis, die Selbstbewußtwerdung des erkennenden Ich und die Anschauung seiner wirklichkeitskonstitutiven Tätigkeit, das Erlebnis der Freiheit. In der Anschauung seiner eigenen ideirenden Tätigkeit schaut der denkende bzw. erkennende Mensch aber nicht nur seine Tätigkeit an, sondern auch die »eigene Natur der Ideenwelt«. Während im Erkennen der Natur die wirkende Idee in das Reale der Wahrnehmung hineingearbeitet wird, erlebt der Mensch im Ideiren seiner eigenen Denktätigkeit das Ideelle unmittelbar als Reales: ist es doch die tätige Idee des Ich selbst, das sich in der Denktätigkeit entfaltet. »Diese Anschauung des sich selbst Hervorbringenden ist aber die Anschauung der Freiheit. Bei der Beobachtung des Denkens durchschaut der Mensch das Weltgeschehen. Er hat hier nicht nach einer Idee dieses Geschehens zu forschen, denn dieses Geschehen ist die Idee selbst. Die sonst erlebte Einheit von Anschauung und Idee ist hier Erleben der anschaulich gewordenen Geistigkeit der Ideenwelt. Der Mensch, der diese in sich selbst ruhende Tätigkeit anschaut, fühlt die Freiheit.«[17]

Dieses Ideen-Erleben kann, so Steiner, zu mystischer Vertiefung gesteigert werden, berührt doch der Erkennende die die Natur und den Kosmos konstituierenden geistigen Mächte, deren Ausläufer ihm in den denkend erfaßten Ideen ein Verstehen des Aufbaus der Welt ermöglichen. Allerdings ist die von Steiner gemeinte Form der Mystik nicht mit gefühligem Geschwiemel zu verwechseln, sondern beruht auf der Nüchternheit einer exakten intellektuellen Anschauung. So grenzt er sich auch von jener Gefühlsmystik ab, die die »Klarheit der Ideen« verachtet, und zu frieren beginnt, wenn sie sich der Ideenwelt hingeben soll. »Es friert den Mystiker, wenn er sich der Ideenwelt hingibt. Er sucht einen Weltinhalt, der Wärme ausströmt. Aber der, welchen er findet, klärt über die Welt nicht auf. Er besteht nur in subjektiven Erregungen, in verworrenen Vorstellungen. Wer von der Kälte der Ideenwelt spricht, der kann Ideen nur denken, nicht erleben. Wer das wahrhafte Leben in der Ideenwelt lebt, der fühlt in sich das Wesen der Welt in einer Wärme wirken, die mit nichts zu vergleichen ist. Er fühlt das Feuer des Weltgeheimnisses in sich auflodern.«[18] Diese Vertiefung des Ideen-Erlebens führt in das Reich der Ideen, die Steiner nicht als hypostasierte Abstraktionen der Wahrnehmungswelt versteht, sondern als Repräsentationen des geistigen Wesens der Welt, das sich im vollbewußten, in Freiheit vollzogenen mystischen Erleben in eine geistige Wesenswelt auffächert, deren Gestalt und Wirken Steiner nach der Jahrhundertwende in den verschiedensten Formen darzustellen versuchte.

Betrachtet man Steiners Bemühungen, »wahren« und »falschen« Platonismus voneinander zu unterscheiden, wird deutlich, worin sein Anliegen bestand. Er lehnte die Ideologie des Idealismus ab, weil in ihr lediglich eine dogmatisierte Form der Spiritualität tradiert wurde, die der realen spirituellen Erfahrung im Wege stand. Sollte ein empirischer Zugang zu jenen verdrängten Horizonten der Wirklichkeit erschlossen werden, die im Abendland nur noch in sentimentalen Erinnerungen in idealistischen oder spiritualistischen Kulturströmungen fortexistierten, die keinerlei Bezug mehr zur Lebenswirklichkeit der Moderne besaßen, mußte vom Boden der Moderne aus erst eine radikale Kritik an diesen ideologisierten Formen der Spiritualität geübt werden. So bemühte sich Steiner auch darum, in der von ihm konzipierten Anthroposophie den aufklärerischen Geist der Kritik mit dem erleuchtenden Geist der Mystik zu verschmelzen.[19] Sein Lebenswerk legt Zeugnis von diesem Versuch ab. An diesem Werk läßt sich auch erkennen, was es bedeuten könnte, wenn der aristotelische Realismus und Individualismus sich zu seinen platonischen Ursprüngen zurückwendet, um seine eigene Einseitigkeit zu überwinden.


Anmerkungen:

[1] ) GA  31 (Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe, Band Nr.), Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte, S. 134-139, Papsttum und Liberalismus, ursprünglich erschienen in: Deutsche Wochenschrift, VI. Jg., 13. Juli 1888.

[2] ) GA 2, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller, 7. A., Dornach 1979.

[3] ) Briefe, Bd. 1, GA 38, 3. A., Dornach 1985, S. 23.

[4] ) GA 3, Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre. Prolegomena zur Verständigung des philosophierenden Bewußtseins mit sich selbst; erst die Buchausgabe 1891 trägt den Gadamers Hauptwerk vorausnehmenden Titel Wahrheit und Wissenschaft; GA 4, Die Philosophie der Freiheit, 1. A. 1894, zitiert nach der Ausgabe Dornach 1978.

[5] ) GA 4, Die Philosophie der Freiheit, a.a.O., S. 166.

[6] ) Grundlinien einer Erkenntnistheorie ..., a.a.O., Vorrede zur Neuauflage 1923, GA 2, 7. A., Dornach 1979, S. 11.

[7] ) Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften, Ausgabe 1962, S. 115-117.

[8] ) Briefe, Bd. 1, GA 38, 3. A., Dornach 1985, S. 13.

[9] ) Goethes Weltanschauung, GA 6, Dornach 1979, S. 11.

[10] ) Ebenda, S. 22-23.

[11] ) Ebenda, 1. Auflage, 1891, S. 13.

[12] ) Ebenda, 2. Auflage, Ausgabe 1979, S. 28.

[13] ) Ebenda, 2. Auflage, Ausgabe 1979, S. 34.

[14] ) Ebenda, 2. Auflage, Ausgabe 1979, S. 38.

[15] ) Ebenda, 2. Auflage, Ausgabe 1979, S. 55.

[16] ) Ebenda, 2. Auflage, Ausgabe 1979, S. 85.

[17] ) Ebenda, 2. Auflage, Ausgabe 1979, S. 86.

[18] ) Ebenda, 2. Auflage, Ausgabe 1979, S. 77.

[19] ) Vgl. Günter Röschert: Anthroposophie als Aufklärung, München 1997.

 


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