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Anthroposophie / trithemius verlag / Jahrbuch 2005 Jahwe

Jahrbuch für anthroposophische Kritik 2005

Lorenzo Ravagli:

  • Das JAHWE-Geheimnis im esoterischen Werk Rudolf Steiners

Robert Spaemann:

  • Person und Wiedergeburt

Günter Röschert:

  • Das Ich und die Individualität

Jörg Ewertowski:

  • Der eine Mensch und seine vielen Erdenleben

Klaus J. Bracker:

  • Menschliches Ich und Reinkarnation

Günter Röschert:

  • Wege aus der Krise? Die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft nach den Urteilen des Obergerichts in Solothurn

Das Jahwe-Geheimnis im esoterischen Werk Rudolf Steiners

Teil 1

Vorbemerkung

Die hier abgedruckte Untersuchung ist Teil einer Forschungsarbeit zur Gestalt JHWHs im Vortragswerk Rudolf Steiners. Sie umfasst den Zeitraum vom 1905-1908. Die Darstellung des folgenden Zeitraums (1909-1925) wird voraussichtlich in einem späteren Jahrbuch erfolgen.

Zur Methode der Darstellung: Das Vortragswerk Rudolf Steiners ist ein äußerst komplexes und vielschichtiges Gewebe von Texten. Wer sich mit der Entwicklung eines bestimmten Themas in diesem Werk befassen will, muss mindestens drei Faktoren berücksichtigen.

1. Die zeitliche Achse. Diese Untersuchung geht von der Voraussetzung aus, dass das Gesamtwerk Steiners, zumal nach der Jahrhundertwende, das Ergebnis einer kontinuierlichen Forschungsentwicklung ist. Diese Entwicklung dokumentiert sich nicht nur in den Schriften, sondern noch mehr im Vortragswerk. Die Schriften bieten jeweils zusammenfassende, synthetische Darstellungen eines bestimmten ideellen Globalhorizontes, und nur die verschiedenen Bearbeitungen dieser Schriften für Neuauflagen im Lauf der Jahre lassen, wenn sie verglichen werden, erahnen, in welcher Richtung Steiner seine Anschauungen erweiterte und vertiefte. Die Vorträge dagegen halten das in fortlaufendem Gespräch mit seiner Zuhörerschaft sich entwickelnde Weltbild Steiners fest und geben Fortschritte und Wandlungen viel zeitnaher wieder. Die Zeitachse, auf der die Vorträge angeordnet sind, dokumentiert den Fortschritt seiner Forschungen zu einem bestimmten Gegenstand. Im Laufe der Jahre werden einzelne Themen nicht nur erweitert und vertieft, sondern auch von unterschiedlichsten Gesichtspunkten beleuchtet. Ein Gesamtbild eines bestimmten Themas kann sich nur ergeben, wenn man die Entfaltung dieses Themas entlang der Zeitachse in ihrer Gesamtheit überblickt. Die Eigenart der Forschungs- und Darstellungsweise Steiners verunmöglicht es, Beleuchtungen eines Gegenstandes, die zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgt sind, als letztgültige Aussagen zu behandeln.

2. Die kontextuelle Achse. Mit der zeitlichen Entwicklung der Darstellung seiner Forschungsergebnisse interferiert ein zweites Motiv, das Steiners Vorträge beeinflusst und die Interpretation erschwert: die Kontextabhängigkeit seiner Vortragsweise. In diese gehen nicht nur der aktuelle geisteswissenschaftliche Forschungsstand ein, sondern auch die Verstehensvoraussetzungen der jeweiligen Zuhörer (hier spielt vor allem die Unterscheidung zwischen verschiedenen Zuhörerkreisen – Mitglieder, Nichtmitglieder, bestimmte Berufsgruppen mit entsprechender Vorbildung, esoterische Schule, eine Rolle) und das aktuelle ideelle Zeitkolorit. In diesen Zusammenhang gehört auch die Gesamtthematik eines Einzelvortrags oder einer Vortragsreihe, die den systematischen Ort bestimmter Ausführungen beleuchtet und färbt. Die mündlichen Darstellungen Rudolf Steiners zeichnen sich darüber hinaus dadurch aus, dass sie jeweils im Augenblick neu geschöpft wurden. Es handelt sich nicht um Vorlesungen ausgearbeiteter Manuskripte, sondern um Aufzeichnungen extemporierter Rede durch verschiedenste Zuhörer von unterschiedlicher Genauigkeit. Erst im Rahmen der Gesamtausgabe wurden die meisten dieser Aufzeichnungen entziffert, rekonstruiert und zu lesbaren Texten umgestaltet. Eine Anzahl von Vortragsreihen und Einzelvorträgen wurde bereits zu Steiners Lebzeiten veröffentlicht, ohne dass dieser jedoch – außer in Einzelfällen – die veröffentlichten Texte redigiert oder autorisiert hätte. Auch diese Veröffentlichungen zu Lebzeiten wurden in der Regel für die Gesamtausgabe mit Stenogrammen verglichen und von den Herausgebern bearbeitet. Über die Authentizität der jeweiligen Texte ist daher kein letztes gesichertes Urteil möglich. Die damit zusammenhängenden Probleme werden bei der Behandlung der Texte thematisiert bzw. diskutiert.

3. Die hermeneutische Achse. Wer sich mit Texten befasst, ist stets Interpret. In die Interpretation gehen die Verstehensvoraussetzungen des Interpreten ein. Die subjektive, hermeneutische Achse des Verstehens und Auslegens überlagert die beiden objektiven Achsen der Themenentfaltung und der Kontextualität. Einen Text verstehen, bedeutet, ihn aus den je eigenen Voraussetzungen des Verstehens zu rekonstruieren. Durch den Versuch einer verstehenden Rekonstruktion von Aussagen kommt es im günstigsten Fall zu einer Verschmelzung der Bewusstseinshorizonte des Urhebers der Texte und seines Interpreten. Ein um Verstehen bemühter Hermeneut wird stets nach den Aussageabsichten seines Autors fragen, und im Gespräch mit ihm die vorauseilenden Annahmen seiner Auslegung, die wie Netze über das Aussagegefüge geworfen werden, am Interpretandum verifizieren. Je dichter die Maschen des Netzes, je enger sie sich an das zu fangende Wild der Aussageabsicht anschmiegen, um so größer die Wahrscheinlichkeit, dass der Interpret mit reicher Beute zurückkehrt. Besonders bei problematischer Überlieferung muss er sich seinem Gegenstand mit größter Behutsamkeit nähern und sich mitunter auch eingestehen, dass letzte Zweifel über die Deutung nicht ausgeräumt werden können. Steiners mündliches Werk ist von einer Eigenart, die schon manchen Leser an den Rand der Verzweiflung oder in den Abgrund des Mißverstehens getrieben hat: systematisch wird jede Definition vermieden. Die methodologischen Voraussetzungen dieser Eigenart sind in Steiners Wirklichkeitsverständnis zu suchen, demgemäß das menschliche Erkennen die Wirklichkeit nicht vorfindet, sondern generiert. Erkenntnis ist durch einen geistigen, sich selbst erklärenden Prozess zu erreichen, und bildet die Wirklichkeit nie endgültig ab, sondern vermittelt Teileinsichten in ihre unausschöpfbare Komplexität. Im menschlichen Erkennen ereignet sich auf je individuelle Weise der Weltzusammenhang. Der prozessuale Charakter der Welt zwingt das erkennende Bewußtsein dazu, der Entfliehenden nachzueilen und im Nacheilen verändert sich nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch das erkennende Bewußtsein. Steiners Vorträge sind Beispiele eines solchen nacheilenden Erkennens, das im Schildern des Gesehenen das Gesehene und sich selbst verändert. Das Erkennen verändert den Erkennenden. Erkenntnis der Wirklichkeit ist Bildung von Wirklichkeit. Die Ereignishaftigkeit von Wirklichkeit lässt nicht zu, sie zu definieren. Deswegen spricht Steiner in seinen Vorträgen so, daß sich die entstehende Wirklichkeit im Prozess zeigen kann. Diese Redeweise zwingt den Interpreten dazu, die Erzählungen von der entstandenen Wirklichkeit im hermeneutischen Verfahren zu rekonstruieren. Was wie eine interpretierende Erzählung aussieht, ist aber in Wahrheit eine Neuschöpfung, die jedoch dann die Sache selbst zur Erscheinung bringt, wenn der Interpret zuvor verstehend in die Tiefen eingedrungen ist, aus denen der ursprüngliche Sprecher selbst geschöpft hat. Interpretation wird somit zur Aneignung, Aneignung zur Vereigentlichung ...

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