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Der Schlüssel oder vom kosmischen und menschlichen Geist

Eine freie Übersetzung des zehnten Traktats des Corpus Hermeticum von Lorenzo Ravagli


Hermes: Die gestrige Rede, o Asklepios, habe ich Dir anvertraut. Es geziemt sich, dass ich die heutige Tat anvertraue, da sie eine Zusammenfassung der [verschollenen] »allgemeinen Erörterungen« ist, die ich an ihn gerichtet habe.

Daher, o Tat, besitzen Gott Vater und das Gute dieselbe Natur – oder besser: dieselbe Aktivität; denn »Natur« meint Wachstum und Zunahme, was auf alles zutrifft, das sich verändert und bewegt, während »Aktivität« auch dem Unbewegten zukommt, dem Göttlichen, dem Seienden, dem nach Gottes Ratschluss auch der Mensch zugehört. Früher habe ich Dich über die göttlichen und menschlichen Aktivitäten belehrt. Du musst das Folgende im selben Sinn verstehen.

Die Aktivität Gottes ist das Wollen und das Wesen dieses Wollens ist, alle Dinge ins Dasein zu rufen. Denn nichts anderes sind Gott Vater und das Gute, als das Sein aller Dinge, auch der Dinge, die nicht mehr sind, wenigstens des Wesens dieser Dinge. Das ist Gott, das ist der Vater, das ist das Gute, zu dem nichts weiteres gehört. Zwar ist auch der Kosmos, ebenso wie die Sonne, Vater der Dinge, und zwar jener, die durch Teilhabe existieren, aber sie sind nicht in gleicher Art wie der göttliche Vater die Ursache des Guten oder des Lebens in den Lebewesen. Aber wenn der Kosmos die Ursache ist, dann ist er bestimmt und begrenzt durch den guten Willen, ohne den nichts zu sein oder zu entstehen vermag.

Der menschliche Vater, der aus der Sonne das Verlangen nach dem Guten empfängt, bewirkt die Zeugung und das Wachstum seiner Kinder, denn das Gute ist das Prinzip der Zeugung. Aber das Gute kann nur in Ihm allein zum Dasein kommen, in Ihm, der nichts empfängt, sondern alles durch seinen Willen ins Dasein ruft. Ich will nicht sagen »macht«, mein Tat, denn jemand der etwas macht, leidet die meiste Zeit Mangel an Quantität und Qualität, weil er manchmal etwas macht und manchmal nicht: jetzt macht er dies und soviel, später macht er das Gegenteil. Aber Gott der Vater ist das Gute, insoweit er alle Dinge durch seinen Willen ins Dasein ruft.

So verhält es sich für jemanden, der sehen kann. Denn Gott wünscht auch, dass dieses Sehen stattfinde – es findet bei ihm ebenfalls und in vollkommenster Weise statt – und alles andere geschieht um seinetwillen. Denn erkannt und anerkannt zu werden, ist dem Wesen des Guten gemäß. Dies ist das Gute, o Tat.

Tat: Du hast uns mit einer geistigen Schau erfüllt, Vater, die gut und wunderschön ist. Und das Auge meines Geistes ist fast erblindet, ob dieser Schau.

Hermes: Ja, – aber die Schau des Guten ist nicht wie der Strahl der Sonne, der, weil er feurig ist, die Augen mit seinem Licht blendet und sie veranlaßt, sich zu schließen. Im Gegenteil: die Schau des Guten erleuchtet so, dass jemand, der imstande ist, den Einfluss des geistigen Lichts zu empfangen, dieses auch aufzunehmen vermag. Es stellt viel mehr auf die Probe, aber es verletzt nicht und es ist voll von Unsterblichkeit.

Jene, die fähig sind, mehr von dieser Schau in sich aufzunehmen, verfallen oft in Schlaf, und verlassen den Körper, um sich dem reinsten aller Gesichte zuzuwenden, so wie es Uranos und Kronos, unseren Vorfahren geschah.

Tat: Ich wünschte, diese Schau würde uns auch zuteil werden, Vater.

Hermes: In der Tat, mein Kind, das wäre wünschenswert. Aber wird sind immer noch zu schwach dafür, wir sind noch nicht stark genug, die Augen unseres Geistes zu öffnen und die unverwüstliche, unbegreifliche Schönheit dieses Guten anzuschauen. In dem Augenblick, in dem Du nichts mehr darüber sagen kannst, wirst Du es sehen, denn die Erkenntnis dieses Guten ist göttliche Stille und Unterdrückung aller Sinneseindrücke.

Jemand, der es verstanden hat, vermag nichts anderes mehr zu verstehen, noch vermag jemand, der es gesehen hat, je etwas anderes zu sehen oder zu hören, oder seinen Körper auf irgendeine Weise zu bewegen. Er ist erstarrt und hat all seine Sinne und seine Bewegungen vergessen. Nachdem diese Schönheit seinen ganzen Geist erfüllt hat, entflammt sie seine Seele und zieht sie aufwärts aus dem Körper und die Schönheit verwandelt den ganzen Menschen in ein Bild seines geistigen Wesens. Denn wenn die Seele einen Blick auf die Schönheit des Guten geworfen hat, mein Kind, dann kann sie nicht vergöttlicht werden, es sei denn, sie verläßt den Körper.

Tat: Vergöttlichung – was meinst Du damit, mein Vater?

Hermes: Die Wandlungen, die mit jeder getrennten Seele einhergehen.

Tat: Was bedeutet »getrennt«?

Hermes: Hast Du nicht gehört, wie ich in den »allgemeinen Erörterungen« davon gesprochen habe, dass all die Seelen, die im Kosmos verstreut sind, aus der Einen Seele des Alls stammen? Vielerlei Schicksale erleiden diese Seelen, manche zum Besseren, andere zum Schlechteren. Die Schlangenähnlichen verwandeln sich in Kreaturen des Wassers, die wäßrigen in Kreaturen des trockenen Landes, die Seelen des trockenen Landes werden zu geflügelten Wesen, die Kreaturen der Luft zu Menschen und die Menschen, die sich in Dämonen verwandeln, eignen sich anfänglich Unsterblichkeit an und gesellen sich schließlich den Göttern zu, von denen die einen über den Himmel wandern, die anderen ruhen.

Und dies ist die höchste Vollendung der Seele. Aber wenn eine Seele, die einen Menschenleib bezogen hat, lasterhaft bleibt, dann schmeckt sie weder die Unsterblichkeit, noch hat sie am Guten teil, sondern kehrt um, und eilt wieder den Pfad zu den Schlangen hinab – und dies ist das Urteil, das über eine lasterhafte Seele verhängt wird.

Das Laster der Seele aber ist die Unwissenheit. Denn wenn eine Seele blind ist, und nichts zu erkennen vermag, weder die Dinge noch das Gute, dann wird sie von den körperlichen Leidenschaften umhergeworfen, und das unglückliche Wesen wird – aus Mangel an Selbsterkenntnis – Sklave abscheulicher und monströser Leiber, die es wie eine Last trägt, die es beherrschen, statt von ihm beherrscht zu werden. Dies ist das Laster der Seele.

Die Tugend der Seele dagegen ist Erkenntnis, Gnosis. Denn, wer erkennt, ist gut und voller Ehrfurcht und schon göttlich.

Tat: Wie ist eine solche Person zu erkennen, Vater?

Hermes: Es ist jemand, der wenig sagt und wenig hört. Der kämpft mit Schatten, mein Sohn, der seine Zeit mit Geschwätz verschwendet und dem Geschwätz zuhört. Weder spricht noch hört man von Gott dem Vater und dem Guten. Wohl besitzen alle Lebewesen Sinne, da sie ohne solche nicht existieren können, aber Erkenntnis ist etwas völlig anderes als Sinneswahrnehmung. Die Sinneswahrnehmung entsteht, wenn der sinnliche Gegenstand überwiegt; Erkenntnis dagegen ist das Ziel der Wissenschaft und Wissenschaft ist ein Geschenk Gottes.

Denn alles Wissen ist unkörperlich und benutzt den Geist selbst als Werkzeug, so wie der Geist den Körper benutzt. Beides: sowohl das Geistige wie das Stoffliche, dringen also in den Körper ein. Denn alles ist ein Ergebnis von Gegensätzen und Widersprüchen, es kann nicht anders sein.

Tat: Wer ist dann der stoffliche Gott?

Hermes: Der Kosmos, der zwar schön, aber nicht gut ist. Denn er ist stofflich und leicht veränderbar. Zwar ragt er unter allen Dingen, die sich verändern, als das vorzüglichste hervor, aber unter dem wahrhaft Seienden nimmt er nur den zweiten Rang ein, da er unvollkommen ist. Zwar existiert er für immer, nachdem er einmal ins Dasein getreten ist, aber er ist ewig dem Werden unterworfen mit all seinen Qualitäten und Quantitäten, denn er unterliegt der Bewegung und jede Bewegung des Stoffes ist Werden.

Der unbewegliche Geist aber ruft die Bewegung des Stoffes auf folgende Art hervor: Da der Kosmos eine Sphäre ist – eine Art Kopf also, und da es oberhalb des Kopfes nichts Stoffliches gibt (so wie es unterhalb der Füße nichts Geistiges mehr gibt, sondern nur noch Stoff) und da der Geist eine Art Kopf ist, der sich sphärisch bewegt, so wie es einem Kopf angemessen ist, so sind Dinge, die sich mit der Kopfhaut vereinigen (in der sich die Seele befindet) von Natur unsterblich, so als ob sie mehr Seele als Körper hätten, da der Körper aus der Seele hervorgeht. Dinge aber, die sich weit weg von jener Kopfhaut befinden, sind hingegen sterblich, da sie mehr Körper als Seele besitzen. Auf diese Weise ist jedes Lebewesen und auch der Kosmos als Ganzer aus Stoff und Geist zusammengesetzt.

Und der Kosmos ist das Erste, aber das zweite Lebewesen nach dem Kosmos ist der Mensch, das erste der sterblichen Wesen, das wie die anderen Lebewesen beseelt ist. Mehr noch, der Mensch ist nicht nur nicht gut, sondern er ist auch böse, da er sterblich ist. Denn der Kosmos ist nicht gut, weil er sich bewegt, aber weil er unsterblich ist, ist er nicht böse. Der Mensch hingegen ist böse, weil er sich bewegt und sterblich ist.

Eine Menschenseele ist auf folgende Weise mit dem Leib verbunden: der Geist durchdringt die Vernunft, die Vernunft die Seele, die Seele den Ätherleib, der Ätherleib, der die Venen, Arterien und das Blut erfüllt, bewegt den Leib und behauptet sich gegen diesen.

Manche meinen deshalb, die Seele sei das Blut, aber sie mißverstehen dadurch ihr Wesen, denn sie erkennen nicht, dass der Ätherleib sich zuerst in die Seele zurückziehen muss: dadurch verdickt sich das Blut und fließt nicht mehr durch die Venen und Arterien, und das ist das Ende des Lebewesens, der Tod des Leibes.

Alle Dinge haben einen Anfang, aber der Anfang hängt vom Einen und Einzigen ab. Die Anfänge der Dinge bewegen sich, damit sie stets von Neuem anfangen können. Nur das Eine steht still und bewegt sich nicht. Also gibt es diese drei: Gott den Vater und das Gute, den Kosmos und den Menschen. Und Gott trägt den Kosmos, aber der Kosmos trägt den Menschen. Und der Kosmos ist der Sohn Gottes, aber der Mensch ist der Sohn des Kosmos, also der Enkel Gottes.

Der Mensch ist Gott nicht etwa gleichgültig, im Gegenteil: er erkennt und anerkennt ihn und wünscht von ihm erkannt und anerkannt zu werden. Allein durch die Erkenntnis Gottes findet der Mensch sein Heil und seine Heilung. Es ist der Aufstieg zum Olymp. Nur auf diesem Wege wird die Seele gut, auch wenn sie es nicht für immer bleiben muss, sondern wieder fallen kann. So verhält es sich.

Tat: Was meinst Du damit, o Trismegistos?

Hermes: Betrachte die Seele eines Kindes, mein Sohn, die noch nicht mit sich selbst entzweit ist. Sein Körper ist noch nicht ausgewachsen. Wie schön ist es anzusehen, wie es noch nicht durchsättigt ist von den sinnlichen Leidenschaften, sondern in hohem Grade in Verbindung mit der Seele des Kosmos steht! Aber wenn der Körper sich ausdehnt und die Seele zu sich herabzieht, dann beginnt die Seele, die nun von sich selbst getrennt wird, zu vergessen, und hat nicht länger Teil am Schönen und Guten. Und aus dem Vergessen entsteht das Laster.

Dasselbe geschieht mit jenen, die den Körper verlassen. Wenn die Seele sich wieder zu sich selbst erhebt, zieht sich der Ätherleib ins Blut zurück, die Seele in den Geist, aber der Geist, da er von Natur göttlich ist, wird von seiner stofflichen Hülle und damit auch der Seele befreit und bekleidet sich mit einem feurigen Leib, der sich in die himmlische Welt begibt, während die Seele dem Gericht und dem Ausgleich überlassen wird.

Tat: Was meinst Du damit, Vater? Wie ist es möglich, dass sich der Geist von der Seele und die Seele vom Ätherleib trennt, wo Du doch sagst, der Ätherleib sei die Hülle der Seele und diese die Hülle des Geistes?

Hermes: Der Hörer muss eines Geistes mit dem Sprechenden sein, mein Sohn, und sich auch auf die Bewegungen seines Ätherleibes einstimmen. Er muss schneller hören, als der Sprecher seine Worte bilden kann. In einem irdischen Körper kommt es zur Vereinigung der verschiedenen Hüllen, mein Sohn, denn der Geist kann nicht ohne Vermittlung diesen irdischen Körper bewohnen. Der irdische Körper vermöchte ein solches Maß an Unsterblichkeit nicht zu ertragen. Ebensowenig kann ein so erhabenes Wesen wie der Geist die Erniedrigung ertragen, die mit dem Bewohnen eines Leibes einhergeht, der den Leidenschaften unterworfen ist. Daher benutzt der Geist die Seele als eine Art Schleier, und die Seele wiederum, die selbst etwas Göttliches ist, bedient sich des Ätherleibes als einer Art Rüstung und Werkzeug. Der Ätherleib regiert das Leben.

Wenn nun der Geist vom irdischen Leib frei geworden ist, bekleidet er sich mit seinem himmlischen Gewand, einem Gewand aus Feuer, das er ablegen mußte, als er den irdischen Körper bezog. Denn die Erde kann das Feuer nicht ertragen, sie wird schon von einem kleinen Funken entzündet, daher ist auch überall auf der Erde das Wasser verteilt, das wie ein Zaun oder eine Mauer das kosmische Feuer von ihr abhält. Der Geist hingegen, der durchdringendste aller göttlichen Gedanken, besitzt von Natur einen Leib aus Feuer, aus dem duchdringendsten aller Elemente. Der kosmische Geist ist der Werkmeister aller Dinge, der menschliche Geist ist der Werkmeister aller irdischen Dinge. Da er des Feuers beraubt wird, sobald er einen irdischen Leib bezieht, vermag er keine göttlichen Dinge mehr zu bewirken, da er in seiner Wohnung menschliche Gestalt angenommen hat.

Die Menschenseele – nicht jede Seele freilich, sondern allein die gottesfürchtige – ist in gewisser Weise dämonisch und göttlich. Solch eine Seele wird ganz Geist, nachdem sie sich vom Körper befreit und den Kampf der Demut ausgekämpft hat. (Den Kampf der Demut auskämpfen heißt, die gnostische Schau des Göttlichen erlangen und keinem Menschen Unrecht tun). Die ehrfurchtslose Seele dagegen bleibt sich selbst verhaftet, bestraft sich selbst und sucht einen neuen irdischen Leib, in den sie einziehen kann – einen menschlichen Leib, wohlgemerkt. Denn kein anderer Leib vermag eine menschliche Seele in sich aufzunehmen, es ist keiner Menschenseele erlaubt, in den Körper eines vernunftlosen Tieres herabzusinken. Gott selbst hat dieses Gesetz erlassen, um die Menschenseele vor einer solchen Freveltat zu schützen.

Tat: Aber wie nun, mein Vater, wird die Seele des Menschen bestraft?

Hermes: Was gibt es für eine größere Strafe als die Unfähigkeit, zu verehren? Gibt es ein Feuer, das mehr brennt? Welches Tier verstümmelt den Körper so, wie die Unfähigkeit oder der Unwille, zu verehren, die Seele verstümmelt? Siehst Du nicht, welche Qualen die Seele leidet, die unfähig ist, zu etwas Höherem aufzuschauen, wie sie jammert und klagt? »Ich brenne, das Feuer verzehrt mich; ich weiß nicht, was ich tun oder sagen soll; die Übel, von denen ich besessen bin, zehren mich auf, mich armes Wesen; ich höre nichts und sehe nichts.« Sind das nicht die Klagerufe einer Seele, die bestraft wird? Glaubst Du etwa auch, wie viele andere, mein Sohn, dass die Seele, die den Leib verlassen hat, zu einem Tier wird? Das ist ein großer Irrtum.

Denn die Seele wird auf diese Weise bestraft: der Geist wird, nachdem er zu einem Dämon geworden ist, dazu angeleitet, einen Leib aus Feuer anzuziehen, damit er Gott dienen kann. Und nachdem er in eine ehrfurchtslose Seele eingezogen ist, peinigt er sie mit den Peitschen verwerflicher Absichten: so gepeinigt, nimmt die ehrfurchtslose Seele Zuflucht zu Mord und Freveltaten, zu Lästerung und allen Arten von Gewalt, in denen die Menschen sich verirren. Wenn aber der Geist in eine ehrfürchtige Seele einzieht, dann führt er sie zum Licht der geistigen Erkenntnis. Eine solche Seele kann nie genug loben und preisen, sie ist ein Segen für alle Menschen und tut ihnen unablässig Gutes in Worten und Taten, denn sie trägt die Erinnerung an ihren Vater in sich.

Daher, mein Kind, muss jemand, der seine Dankgebete an Gott richtet, ihn um einen guten Geist bitten. Seine Seele kann dann in etwas Größeres übergehen und nicht in etwas Geringeres. Es gibt eine Gemeinschaft der Seelen: die Seelen der Götter kommunizieren mit den Seelen der Menschen und die Seelen der Menschen mit den Seelen der vernunftlosen Tiere. Die Höheren tragen Verantwortung für die, die unter ihnen stehen: die Götter für die Menschen, die Menschen für die vernunftlosen Lebewesen, und Gott für alle. Denn er ist größer als alle und alle sind geringer als er. So ist der Kosmos Gott unterstellt und der Mensch dem Kosmos und die vernunftlosen Lebewesen dem Menschen. Gott steht über allen Dingen und wacht über sie. Schöpferische Kräfte sind wie Strahlen, die von Gott kommen, Naturkräfte wie Strahlen, die der Kosmos aussendet, Künste und Wissenschaften sind das Licht, das vom  Menschen ausgeht. Die schöpferischen Kräfte durchdringen den Kosmos und wirken auf den Menschen durch die natürlichen Strahlen des Kosmos, die Naturkräfte wirken durch die Elemente und die Menschen wirken durch Künste und Wissenschaften.

Dies ist die Ordnung der Schöpfung, die vom Wesen des Einen abhängt und von seinem alles durchdringenden Geist in Kraft gesetzt wird. Nichts ist gottähnlicher als der Geist, nichts wirksamer oder mehr imstande, die Menschen mit den Göttern zu vereinigen und die Götter mit den Menschen; der Geist ist der gute Dämon. Gesegnet ist die Seele, die voll des Geistes ist, verloren die Seele, die keinerlei Anteil an ihm hat.

Tat: Noch einmal, mein Vater, wie ist das gemeint?

Hermes: Glaubst Du, mein Kind, dass jede Seele Anteil am guten Geist hat? Unsere gegenwärtige Rede handelt von diesem Geist, nicht von jenem dienenden Geist, von dem wir früher gesprochen haben, der als Dämon von der Gerechtigkeit herabgesandt wird.

Denn ohne Geist vermag die Seele weder etwas zu sagen noch zu vollbringen. Oft verläßt der Geist die Seele und wenn dies geschieht, vermag sie weder etwas zu sehen noch zu hören und handelt wie ein vernunftloses Tier – so groß ist die Macht des Geistes. Aber in einer trägen Seele vermag der Geist nicht zu bleiben, er verläßt die an den Leib gefesselte, von diesem herabgezogene und erstickte Hülle. Solch eine Seele besitzt keinen Geist, mein Kind, und daher kann man auch nicht sagen, solch eine Hülle sei menschlich. Denn der Mensch ist ein gottähnliches Lebewesen, das nicht den übrigen Lebewesen auf der Erde gleicht, sondern den himmlischen Lebewesen, die wir als Götter bezeichnen. Oder besser, wenn es erlaubt ist, die Wahrheit zu sagen, wer wirklich menschlich ist, überragt sogar die Götter, oder zumindest stehen sie einander an Macht gleich.

Denn keiner der Planeten- oder Sternengötter wird auf die Erde herabsteigen und die himmlischen Sphären hinter sich zurücklassen. Aber der Mensch erhebt sich zum Himmel und nimmt an ihm Maß und er weiß, was in seinen Höhen und Tiefen ist und er versteht alles andere genau, und was noch mehr ist, er vermag sich in den Himmel zu erheben, ohne die Erde zu verlassen, so groß ist seine Würde. Daher müssen wir es wagen zu sagen, dass der Mensch auf der Erde ein sterblicher Gott ist, während die Götter im Himmel unsterbliche Menschen sind. Durch diese beiden: den Kosmos und den Menschen, sind alle Dinge, aber alle existieren durch die Macht des Einen.


Das Corpus Hermeticum in einer preisgünstigen, englischen Übersetzung: Hermetica: The Greek Corpus Hermeticum and the Latin Asclepius in a New English Translation, with Notes and Introduction

Und in einer neuen deutschen, wissenschaftlichen Übersetzung:

Das Corpus Hermeticum deutsch, Teil 1: Die griechischen Traktate und der lateinische 'Asclepius'

Das Corpus Hermeticum deutsch, Teil 2: Nag-Hammadi-Texte, Testimonien

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