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Anthroposophie / Geschichte / Geschichte der Anthroposophie im 20. Jahrhundert


Zur Geschichte der anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung im 20. Jahrhundert


Band 1 | 1875–1952

Von den Anfängen bis zur zweiten großen Sezession

Das Werk »Selbsterkenntnis in der Geschichte« bietet ein Jahrhundert Anthroposophie in verdichteter Form. Erschienen sind inzwischen zwei Bände. Worum es geht, beschreibt die Einleitung des ersten Bandes, von der hier ein Auszug folgt.

»Die vorliegende Studie unternimmt den Versuch, eines der aufregendsten spirituellen Experimente des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive eines teilnehmenden und zugleich kritischen Beobachters im Kontext der zeitgenössischen Geschichte nachzuzeichnen und zu interpretieren. Der Standpunkt des Verfassers dieses Versuchs befindet sich aufgrund der von ihm angewandten Forschungsmethode, die nicht nur ihren Gegenstand, sondern auch die Hervorbringung ihres Gegenstandes beobachtet, zugleich innerhalb und außerhalb dieses Experiments.

Es handelt sich um einen unvollkommenen Versuch, der in vielerlei Hinsicht zu wünschen übriglässt. Die anthroposophische Bewegung ist eine Breitenbewegung, die viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ergriffen und beeinflusst hat. Sie ist vor allem eine internationale Bewegung, lässt sich also nicht lediglich als Geschichte ihrer Entwicklung in einem Land erzählen. Die anthroposophische Gesellschaft ist eine Gesellschaft von Mitgliedern, die ihrerseits in viele weitere Geschichten von Institutionen, Gruppen und Gemeinschaften verflochten sind, die sich nicht nur durch ihren Bezug auf diese Gesellschaft, sondern auch durch ihre Zugehörigkeit zu den jeweiligen Gemeinschaften und Organisationen definieren, die sich durch eine größere oder geringere Nähe zur Gesellschaft und ihrer Leitung auszeichnen. Sowohl die räumliche Breite als auch die zeitliche Tiefe von Bewegung und Gesellschaft werden durch den vorliegenden Versuch nicht annähernd ausgeschöpft, obwohl er schon lang genug ist. Der Fokus liegt auf dem geistigen und örtlichen Zentrum von Gesellschaft und Bewegung, das – wie umstritten und problematisiert auch immer – dies bis zum heutigen Tag geblieben ist: dem kleinen Ort Dornach im Baselbieter Jura, der mit seinem Goetheanum den Ankerpunkt der Weltbewegung beherbergt.

Andererseits spiegelt sich, wie in einem Brennpunkt, das Schicksal und Selbstverständnis dieser Weltbewegung gerade an diesem Ort und von einem gewissen Gesichtspunkt aus könnte man behaupten, was sich nicht in diesem Brennpunkt und den Diskursen und Debatten spiegle, die hier ausgetragen wurden, gehöre der Bewegung, die dort zentriert ist, nicht an. Von daher scheint es gerechtfertigt, sich der Geschichte des sozial-anthroposophischen Kosmos dadurch anzunähern, dass die vielfältigen Reflektionen dieses Kosmos in dessen Gravitationszentrum einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Dies erscheint auch dadurch legitimiert, dass die Angehörigen von Gesellschaft und Bewegung sowohl in Affirmation als auch Kritik sich bis zum heutigen Tag selbst auf dieses Zentrum beziehen, von dem seit der Errichtung des Ersten Goetheanum im zweiten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts seinen Ausgang nahm, was sich als »anthroposophisch« verstand. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei nicht auf Institutionen oder Organisationen, sondern auf den Debatten, die über das Selbstverständnis der Anthroposophen geführt wurden. Gesellschaft und Bewegung sind in hohem Grade selbstreflexiv; die permanente Diskussion über die anthroposophische Identität gehört damit zum Kern der Geschichte beider. Der anthroposophische Identitätsdiskurs durchdringt alle Arbeitsfelder und sozialen Netze, die sich auf die eine oder andere Art dem gemeinsamen Ursprung verbunden fühlen, auf den sie sich beziehen. Eine Geschichte der anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung muss daher als Geschichte ihrer Diskurse über das eigene Selbstverständnis geschrieben werden. Dass es sich bei einer solchen Diskursgeschichte um eine spezifisch anthroposophische Form von Historiographie handelt, ergibt sich auch aus einem weiteren Gesichtspunkt.«

Das Buch kann hier erworben werden. Oder in jeder Buchhandlung


Stimmen zum ersten Band

»Lorenzo Ravagli legt die erste Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft überhaupt vor. Nach einem ersten Eindruck lässt sich sagen: sie liest sich spannend, bleibt stets sachlich, dabei Tiefen auslotend, scheut den Durchblick nicht, auch bei heiklen Themen, räumt mit Mythen auf und nimmt zugleich Anteil am geistigen Impuls der Anthroposophie, zeigt objektiv Schwierigkeiten bei deren sozialen Umsetzung auf und würdigt Leistungen, wo sie vorhanden sind. Es entsteht zugleich eine von Klarheit geprägte historische Distanz und eine produktive Perspektive, die aus Misslungenem eine Summe ziehen lässt – man hat so etwas noch nicht gelesen!«

Roland Tüscher. Ein.Nachrichtenblatt. November 2020


»Mit dem ersten Band seiner geplanten Trilogie zur Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft legt der Autor Lorenzo Ravagli ein Werk vor, das die Lesenden wahlweise als Goldmine oder Sprengsatz empfinden können – noch vor der Lektüre. Damit wären wir bereits beim Kernpunkt des Problems, nämlich der Gruppenbildung, der Spaltung, der individuellen Neigung zum Anschluss an ein Kollektiv als Machtgebilde innerhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhangs. Eine äußerst aktuelle Fragestellung. ...

Die Lesenden sind gefordert, sich ein Urteil zu bilden, aus dem heraus, was überhaupt ein sachgemäßes Urteil möglich macht: Unabhängigkeit, Beweglichkeit des eigenen Standpunkts, ohne das Standvermögen, die Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber preiszugeben. Nötig ist nur Liebe zu dieser Handlung – dem Akt der Wahrheitsfindung als eigenem seelischem Beobachtungsresultat, im Verständnis des anderen. Es ist eine ganz konkrete Philosophie der Freiheit, die Ravagli geschrieben hat. Ein Glücksfall für die Leserinnen und Leser. ...

Da der Autor es geschafft hat, einen vollkommen suggestionsfreien Text zu bündeln, kann es den Lesenden ebenso glücken, sich in der Lektüre mit dem eigenen Bewusstsein freilassend zu verständigen. Man fühlt sich an keiner Stelle ‹überredet› oder gar manipuliert, sich einer Auffassung anzuschließen. Urteilsmäßig gefordert fühlt man sich aber sehr wohl. Es entsteht ein fortdauerndes, interessebildendes Staunen. Aus der daraus getragenen Einsicht wird Verstehen, und aus diesem Anteilnahme. Nicht umgekehrt, und das ist bedeutsam! ...

Der durchgehend gehaltene Fokus des Menschlich-Individuellen lässt das Buch zum Roman werden. Eine epische Erzählung, deren Fortsetzung man gespannt erwartet. Der zweite und der dritte Teil sollen im Lauf dieses Jahres erscheinen. Es ist eine Parzival-Lektüre. Wir sind mitten darin, in der Geistesschau der Wunde. Erinnern, besinnen wir uns, die Frage nicht zu versäumen. Dazu ist Ravaglis Buch sehr hilfreich.«

Ute Hallaschka. Das Goetheanum. 12. Februar 2021.


»Der Autor Lorenzo Ravagli befindet sich zugleich innerhalb und außerhalb seines Themas.

Diese ambivalente Position ist dem Projekt offensichtlich nützlich geworden, infolge eigenen Miterlebens von Teilen oder von Nachwirkungen bedeutsamer geschichtlicher Ereignisse. ...

Ravagli legt nicht nur einen materialreichen Bericht vor, sondern erschafft damit gleichzeitig selbst eine Tatsache, die sich in markanter Art in den Geschichtsverlauf einordnet und in diesem aller Voraussicht nach wirken wird. Die Anthroposophische Gesellschaft könnte sich mit Hilfe dieser Veröffentlichung verstärkt – teilweise erstmals – ihrer eigenen Entwicklung bewusst werden, unbenommen früherer, meist Episode gebliebener Versuche gesellschaftlicher Selbsterkenntnis. Ein kritisches Verlaufsbewusstsein könnte entstehen oder befördert werden, wenn Ravaglis Arbeit bei den Verantwortungsträgern und in der Mitgliedschaft genügend Beachtung fände. ...

Lorenzo Ravaglis Werk wird letztlich mehr als hundert Jahre theosophischer und anthroposophischer Gesellschaftsentwicklung übergreifen. Nicht einmal annäherungsweise ist ein solches Werk bisher entstanden. Von der Geschichtserkenntnis bis zur gemeinschaftlichen Selbsterkenntnis ist eine derartige, immer faktengestützte Untersuchung unentbehrlich. Es ist allerdings fraglich, ob eine wirkliche Selbsterkenntnis – aus den Anfängen heraus – noch möglich ist. Wenn alle drei Bände vorliegen, werden wir mehr wissen – auch ob es genügend freiheitliche Geister gibt, welche fähig und bereit sind, aus der riesigen Tatsachensammlung die rechten Schlüsse zu ziehen.«

Günter Röschert. Die Drei. Januar 2021.


»Lorenzo Ravagli hat in einer umfangreichen Reportage über die – von heute aus gesehen – absurden Streitigkeiten berichtet, mit denen sich die Schüler Rudolf Steiners hundert Jahre lang gegenseitig behindert haben, in bizarre Umgangsformen verstrickt, wie im Mittelalter. Er untersucht die Mythenbildungen, die dabei eine Rolle gespielt haben, die Fiktion vom Weiterbestehen des »esoterischen Vorstands« am Goetheanum, die chiliastischen Spekulationen über ein Wiedererscheinen des großen Lehrers. Ich werde mich darauf einzustellen haben, dass die Schatten des Zeitalters der Verstandes- und Gemütsseele noch für längere Zeit in weiten Teilen der anthroposophischen Bewegung das Erwachen der Bewusstseinsseele verdunkeln werden.«

Johannes Kiersch. Von der Steinzeit bis zum Great Reset. Info3 Verlag 2021.



Band 2 | 1953–1982

Vom Bücherkonflikt zur Konsolidierung des Gründungsmythos

Der Zeitraum, den dieser zweite Band der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung umfasst, wurde von Albert Steffen und Rudolf Grosse geprägt. Albert Steffen war bis zu seinem Tod 1963 Vorsitzender der Gesellschaft.

Mit ihm starb das letzte Mitglied des Gründungsvorstandes, das von Rudolf Steiner berufen worden war. Solange er lebte, war der zweite große Konflikt, der zu einer Sezession innerhalb der Gesellschaft geführt hatte, der Streit mit Marie Steiner und dem von ihr gegründeten Nachlassverein um das geistige Erbe des Gründers von Gesellschaft und Bewegung nicht zu lösen.

Noch zu Steffens Lebzeiten gelang es allerdings, die Nachwirkungen des ersten großen Konflikts zu beseitigen, der 1935 zum Ausschluss zweier Gründungsmitglieder des Vorstandes, Ita Wegmans und Elisabeth Vreedes, sowie dem Ausschluss der englischen und holländischen Landesgesellschaft und ihrer führenden Persönlichkeiten geführt hatte. 1960 schloss sich die holländische Landesgesellschaft wieder der Muttergesellschaft an, einige Jahre später folgte ihr die englische Landesgesellschaft.

In der von 1966 bis 1984 dauernden Ära unter dem Vorsitz Rudolf Grosses stand die Gesellschaft vor der Aufgabe, den unbewältigten Konflikt um das Erbe Rudolf Steiners zu lösen, der sich in Gestalt des sogenannten Bücherstreits 1968 zuspitzte und zu einer weiteren Sezession führte.

Seit dem Anbruch des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts begann die anthroposophische Bewegung aber auch durch den Bau von Schulen, die Gründung von Studienstätten, die Erzeugung ökologischer Produkte, die Eröffnung von Krankenhäusern, ja sogar die Gründung von Universitäten als sozialreformerische Bewegung immer mehr in Erscheinung zu treten. Die zunehmende Breitenwirksamkeit stellte die Anthroposophische Gesellschaft vor die Frage, ob und wie sie ihre spirituelle Substanz zu bewahren vermochte. Die Wahrnehmung dieses Problems löste eine Suche nach ihrer Identität aus. Diese führte ab der Mitte der 1970er Jahre zur Konsolidierung ihres Gründungsmythos. Im Zentrum dieses Mythos standen die Erzählungen über die Stiftung der Gesellschaft durch die Weihnachtstagung 1923/24, das Fortwirken Rudolf Steiners in ihr und die Heilung des Karmas ihrer Mitglieder.

Aus dem Inhalt:

1953–1963: Ausbruch aus dem Elfenbeinturm

1964–1968: Von der »Bücherfrage« zum »Bücherbeschluss«

1969–1972: Fundamentalisten und Realisten

1973–1979: Anthroposophie im Aufschwung

1979–1982: Die Konsolidierung des Gründungsmythos



Stimmen zum zweiten Band

Was zum echten Leseabenteuer wird, ist die Geste zwischen Zentrum und Peripherie, niemals pedantisch, geradezu eurythmisch der Pendelschlag der vergleichenden Betrachtung: das anthroposophische Gesellschaftsleben wird jeweils im Kontext der gesamtgesellschaftlichen und weltpolitischen Ereignisse dargestellt–Jahr für Jahr. Was sich in den fünf Hauptkapiteln zeigt, ist einerseits die konkrete Handlungssphäre, das sich entwickelnde Leben der anthroposophischen Bewegung in ihren sogenannten Tochtergründungen, andererseits umso stärker der Schattenwurf im Hinblick auf ihren eigenen Quell.

Nach wie vor und beinah gespenstisch zieht sich der Grundkonflikt, der direkt nach Rudolf Steiners Tod ausbrach immer weiter. Er wird fortgesetzt mit neuen Zuschreibungen und wechselndem Personal – wie ein schreckliches Bühnendrama. Im sogenannten Bücherkonflikt wiederholt sich – diesmal zwischen Vorstand und Nachlassverein – die alte Lagerbildung, in der eine Gruppe die andere bezichtigt nicht adäquat mit der Wahrheit und Wirklichkeit von Anthroposophie zu verfahren. Auch in Band 2 arbeitet Ravagli die Wurzel des Konflikts heraus.

Ute Hallaschka. Zeitschrift Erziehungskunst


Lorenzo Ravagli hat im ersten Band »Selbsterkenntnis in der Geschichte. Anthroposophische Gesellschaft und Bewegung im 20. Jahrhundert« die Zeit von den Anfängen der Gesellschaft bis 1952 behandelt. Nun ist der zweite Band erschienen und behandelt die Zeit von 1952 bis 1982.

Mit tiefer Anteilnahme kann man anhand des umfassend dokumentierten Bandes die tragischen Konflikte von 1925 bis zum Tod von Marie Steiner-von Sivers 1948 begleiten, Konflikte, die sich an Rudolf Steiners Aussage anschließen: »[...] dann waltet Karma«. Das war seine Antwort auf die Frage, wie es weitergehen wird, wenn sich die Freunde nach seinem Tod nicht auf gemeinsame Arbeit verständigen können.

Der zweite Band dieses Monumentalwerkes behandelt auf über 500 Seiten die Zeit von 1952 bis 1982. Wieder ist viel Material mit großem Fleiß und Sachkenntnis zusammengetragen. [...] Der Verfasser ist [...] nicht mehr nur Historiker, sondern nimmt selbst zu den Ereignissen Stellung. [...] Nun hält der Verfasser seine Antipathie gegen das, was er Mystifizierung und Mythenbildung nennt, nicht mehr zurück. Er erinnert zwar daran, »dass dieser Begriff [Mythos] keinerlei abwertende Bedeutung besitzt, sondern auf die zentralen Vorstellungs- und Ideenkomplexe verweist, die eine soziale Gemeinschaft unter Menschen [...] konstituieren und deren Selbstverständnis und Lebenspraxis essenziell eingeschrieben ist«. Geht man allerdings auf Joseph Campbell, den Altmeister der Mythenforschung, zurück – Ravagli verweist in einer Fußnote auf ihn –, so handelt es sich bei den mythischen Symbolen um »spontane Hervorbringungen der Psyche«. Psychoanalyse und insbesondere die Forschungen von C.G. Jung liegen diesem Mythos-Begriff zugrunde.

Diese Art der Betrachtung scheint die Arbeit von Ravagli zu prägen. Im Kapitel über van Manens Buch [»Christussucher und Michaeldiener«] bezeichnet er die Karma-Vorträge Rudolf Steiners als »Reinkarnationserzählungen«, als »sozialtherapeutische Erzählungen« zuhanden der Mitglieder, die »sie dazu befähigten, sich auf einer von Emotionen unbelasteten Ebene zu begegnen und das gesellschaftliche Zusammenleben entsprechend fruchtbar zu gestalten«. Die Erwartung in diese Therapieform habe sich aber durch die Entwicklung der Gesellschaft nicht erfüllt. [...]

Man kann auf den dritten Band, der bis zum Jahr 2002 führen soll, gespannt sein. Je weiter Ravagli in der Geschichte fortschreitet, desto mehr Menschen werden seine Arbeit, wie bereits beim zweiten Band, mit dem eigenen Erleben dieser Jahre in Verbindung bringen können.

Hans Hasler. Zeitschrift Das Goetheanum


»Ravaglis Vergleich der äußeren Fakten mit deren verschiedenen möglichen Deutungen ist lehrreich, besonders in Bezug auf die Dornacher Weihnachtstagung von 1923/24, in der Rudolf Steiner sich mit der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung auf allen Ebenen verband. Mit spürbar wachsender Distanz entdeckt Ravagli eine Überhöhung dieses Ereignisses durch führende Anthroposophen, die daraus ein Fortdauern der Gesellschaft und ihres Vorstandes ableiten, die ohne diesen ›Mythos‹ angesichts der andauernden und quälenden Streitigkeiten gefährdet wäre. … Die inneranthroposophischen Debatten (oft mit einer fast unwirklichen Distanz zum sonstigen Zeitgeschehen) stehen auch in diesem Band II im Vordergrund; die individuellen Lebensentschlüsse und Leistungen treten demgegenüber zurück. Als Ausnahmen gibt es einige Glanzpunkte: die Gründung des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke (die anderen Kliniken kommen kaum mehr vor), der Universität Witten-Herdecke, die Beziehungen zur ökologischen Bewegung aus dem Geist der 68er; trotz aller Einschränkungen ist diese Darstellung für den unverzichtbar, der sich mit Geschichte der Anthroposophie auseinandersetzen möchte.«

Frank Hörtreiter. Zeitschrift Die Christengemeinschaft


Band 3 | 1983–2000

Vom Mythos zur Verfassungskrise

Die beiden letzten Jahrzehnte vor der Jahrtausendwende stellten die Anthroposophische Gesellschaft vor bedeutende Herausforderungen: einen beispiellosen Aufschwung der Tochterbewegungen ab den 1990er Jahren und eine tiefgreifende Krise in ihrem Selbstverständnis.

Die Anthroposophie etablierte sich als alternative Kulturbewegung. Gleichzeitig wurde ihre große spirituelle Erzählung von religiösen und politischen Gegenströmungen in Frage gestellt. Die anthroposophische Bewegung sah sich mit politischen Kampagnen konfrontiert, auf die sie entsprechende Antworten finden musste. Ihre geistige und rechtliche Verfassung wurde für sie selbst zum Problem. Die 1990er Jahre waren gekennzeichnet von der Suche nach Orientierung in einem unüberschaubar werdenden Umfeld. Gebieterisch erhob sich der delphische Ruf nach Selbsterkenntnis, der sowohl an die einzelnen Mitglieder Gesellschaft als auch an die Gesellschaft als Ganzes gerichtet war.

615 Seiten, ISBN 978-3-9821354-9-6. Erhältlich bei amazon oder www.glomer.com Preis: € 58,–


Stimmen zum dritten Band

Anlässlich der Feierlichkeiten um die 100 Jahre Weihnachtstagung bietet die ... gründliche und flüssig geschriebene große Studie willkommenen und unentbehrlichen Stoff zur Selbstbesinnung. Und trotz der vielen Seiten und schmerzlichen ›Streiten‹ ist die Lektüre hochspannend und kann Erkenntnisfreuden bereiten.

Gerold Aregger. Zeitschrift Gegenwart


Forschungsprojekt Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung im 20. Jahrhundert

Das Forschungsprojekt zur Geschichte der anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung im 20. Jahrhundert wird von der Ernst-Michael-Kranich-Stiftung getragen. Seine Ergebnisse erscheinen in Buchform. Verständlicherweise kann es hier nicht mehr online zur Verfügung gestellt werden. Im Folgenden finden die geschätzten Besucher einige Leseproben (die verlinkten Artikel).


1875-1902

Die von Rudolf Steiner begründete anthroposophische Gesellschaft und Bewegung hat eine theosophische Inkubationsgeschichte. Sie entstand im Rahmen der von Helena Petrowna Blavatsky gegründeten Theosophischen Gesellschaft. [Theosophische Vorgeschichte | Mehr ...]

1902-1912

Durch das Wirken Rudolf Steiners als Generalsekretär der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft entfaltete sich die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft und die anthroposophische Bewegung als Erkenntnisereignis und soziales Gesamtkunstwerk in den Jahren 1902-1912.

1913-1923

Ende 1913 wurde die Anthroposophische Gesellschaft gegründet. Der Name war nicht zufällig. Der Begriff der »Menschenweisheit« (»Anthropos-Sophia«) tauchte schon früh im Werk Rudolf Steiners auf. In seinem Buch »Das Christentum als mystische Tatsache ...« schrieb er 1902 über eine Form der Erkenntnis, die zu einer Wiedergeburt Gottes, der in der Natur erstorben ist, im Menschen und durch den Menschen führt. Diese Erkenntnis bezeichnete er als »Menschen-Weisheit«

1923-1924

Trotz aller Kritik, die Steiner 1923 am Zustand der Anthroposophischen Gesellschaft übte, darf nicht vergessen werden, dass sie 10 Jahre lang (von 1913 bis 1923) als Gefäß für die Aufnahme einzigartiger spiritueller Offenbarungen diente, deren Quelle Rudolf Steiner war. Hätte es sie mit ihrer wie auch immer gearteten Mitgliedschaft nicht gegeben, wäre es wohl kaum zur Entfaltung der Geisteswissenschaft als einer modernen Mysterienerkenntnis gekommen. Dennoch war ihre Erneuerung 1923 überfällig.

Die »Weihnachtstagung« vom 24. Dezember 1923 bis zum 1. Januar 1924 stellt das vielbeschworene, heute nahezu mythisch überhöhte Gründungsereignis der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft dar. Und in der Tat, diese Versammlung besaß Dimensionen, die sie heute einzigartig erscheinen lassen.

1925

Aus der zeitlichen Distanz von bald hundert Jahren lässt sich das Ausmaß der Katastrophe, die der Tod Rudolf Steiners für die Anthroposophische Gesellschaft und Bewegung darstellte, nur schwer nachvollziehen. Wer den Verlust eines geliebten Menschen und die sich dadurch eröffnenden Abgründe erlebt hat, kann sich schon eher vorstellen, wie sich die Zurückgebliebenen gefühlt haben müssen. [Der Tod Rudolf Steiners | Mehr ...]


1926-1927

Im Januar 1926 ließ sich die konfliktträchtige Konstellation nicht länger eindämmen. Missverständnisse und mangelnde Kommunikation zwischen den Vorstandsmitgliedern zeugten die Missgeburt eines ersten Gesellschaftskonflikts, die sich im Lauf der Jahre zum fratzenhaften Monstrum einer tiefgehenden Spaltung auswachsen sollte. Die Kluft tat sich zwischen Ita Wegman und Elisabeth Vreede auf der einen und Marie Steiner und Albert Steffen auf der anderen Seite auf, sie sollte aber die gesamte Gesellschaft auseinanderreißen.

1928-1929

Zu Beginn des Jahres 1928 trat ein weiteres Thema in den Vordergrund, das die Gräben zwischen den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft vertiefen sollte. Schauplatz war die Generalversammlung im Februar 1928, Gegenstand der Auseinandersetzungen: das Testament Rudolf Steiners.

1930

Für das Verständnis der weiteren Entwicklung der Anthroposophischen Gesellschaft ist die Kenntnis gewisser Vorgänge unabdingbar, die sich im Jahr 1930 abspielten. Sie führten dazu, dass der Vorstand endgültig auseinanderbrach und keine gemeinsamen Besprechungen mehr durchführen konnte. Bei einer Zusammenkunft der Generalsekretäre im November schließlich wurden die seit fünf Jahren schwelenden Konflikte offen an- und ihre tieferen Motive erstmals ausgesprochen. [Sukzession und falsche Bodhisattvas | Mehr ...]

• Adolf Arenson: Rudolf Steiner und der Bodhisattva des 20. Jahrhunderts, 30. März 1930

• Elisabeth Vreede: Die Bodhisattvafrage in der Geschichte der anthroposophischen Gesellschaft, 9. und 11. Juli 1930


1931-1932

Infolge der geschilderten Ereignisse brach der Vorstand der deutschen Landesgesellschaft vollends auseinander. Mit ihren über achttausend Mitgliedern hatte sie fast die Hälfte aller Mitglieder der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft gestellt, nun aber begannen ganze Zweige auszutreten.

1933

Im Jahr der Machtergreifung (Hitler war am 30. Januar zum Reichskanzler ernannt worden), dem Todesjahr Annie Besants und G.R.S. Meads, blieb es merkwürdig still an der anthroposophischen Heimatfront. Dafür begannen die nationalsozialistischen Gegner der Anthroposophie aus allen Rohren zu schießen.

1934

Ihr Vorspiel fand die Generalversammlung vom 27./28. März 1934 in einer Generalversammlung der englischen Landesgesellschaft am 10. und 11. Februar 1934. Diese verabschiedete eine von Owen Barfield vorbereitete Resolution, als Antwort auf die Gründung eines gesellschaftlichen Zusammenschlusses, der von Harry Collison geleitet und vom Dornacher Dreiervorstand (Albert Steffen, Marie Steiner, Guenther Wachsmuth) unterstützt wurde.

1935

Im Februar 1935 erschien eine »Denkschrift über Angelegenheiten der Anthroposophischen Gesellschaft in den Jahren 1925 bis 1935«. Der Titel »Kampfschrift« hätte diesem Pamphlet besser entsprochen, handelte es sich doch um eine äußerst tendenziöse Zusammenstellung von Geschichtsklitterungen und Polemiken, die einzig darauf abzielte, die Ausschlüsse auf der bevorstehenden Generalversammlung zu rechtfertigen.

1936-1946

Nach 1935 kann die Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung nicht mehr ausschließlich als Geschichte jener Gesellschaft erzählt werden, die in Dornach ihren Mittelpunkt sah. Wenn sich anthroposophische Bewegung und Gesellschaft durch die Übernahme des Vorsitzes seitens Rudolf Steiners miteinander vereinigt hatten, dürften sie spätestens seit den großen Ausschlüssen im Jahr 1935 wieder getrennte Wege gegangen sein.


1946-1948

Auf merkwürdige Weise gespiegelt oder verzerrt erscheinen die großen Konflikte der dreißiger Jahre um spirituelle Autorität und Nachfolge, die zwischen Ita Wegman und Elisabeth Vreede auf der einen und Albert Steffen, Marie Steiner und Guenther Wachsmuth auf der anderen Seite ausgetragen wurden, in den Konflikten der 1940er und -50er Jahre, die sich schließlich im Streit um den Nachlass Rudolf Steiners kristallisierten.

1949-1952

Der ursprüngliche Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft war nach der Kaltstellung und dem kurz darauf erfolgten Tod Marie Steiners auf zwei Mitglieder geschrumpft. Albert Steffen war bei Marie Steiners Tod 64 Jahre alt, Guenther Wachsmuth 55. Die Leitung einer Internationalen Gesellschaft mit Tausenden von Mitgliedern und die gleichzeitige Verantwortung für eine Freie Hochschule für Geisteswissenschaft dürfte vom Tandem des verbliebenen Vorstandes als drückende Last empfunden worden sein. [1949-1952 | Der Prozess um den Nachlass Rudolf Steiners | Mehr ...]

Wer sich mit der Geschichte der anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung beschäftigt, wird immer wieder über die Zähigkeit erstaunt sein, mit der die unterschiedlichen Gruppierungen an den einmal erwählten Zielsetzungen festhielten. Trotz aller äußeren Widerstände und trotz aller inneren Spaltungen arbeiteten die meisten Beteiligten, soweit als möglich und teilweise mit märtyrerhafter persönlicher Opferbereitschaft weiter im Dienst ihrer jeweiligen spirituellen Zielsetzungen.

1953-1955

Wie bereits Mitte der 1930er Jahre trennte sich auch durch den Konflikt mit Marie Steiner und dem Nachlassverein ein Teil der Mitgliedschaft von der »Allgemeinen« Anthroposophischen Gesellschaft. Die Sezession gab sich einen eigenen organisatorischen Status, insbesondere als »Anthroposophische Vereinigung in der Schweiz«, die mit einer Reihe von Zweigen (Arbeitsgruppen) noch heute existiert. Die Spaltung zog sich aber durch alle bestehenden (oder im Aufbau begriffenen) Landesgesellschaften und erschwerte auf vielfache Weise die Zusammenarbeit.


1956

Auch das Jahr 1956 stand im Zeichen der Auseinandersetzung um den literarischen und künstlerischen Nachlass Rudolf Steiners. Außerdem starb in diesem Jahr Wilhelm Lewerenz, der Leiter der Sektion für redende und musizierende Künste. Sein Tod zog eine Erweiterung des Vorstandes nach sich, die bei einer außerordentlichen Generalversammlung Ende Dezember 1956 vollzogen wurde.

1957-1962

Die Jahre bis zum Tod Guenther Wachsmuths und Albert Steffens (1963) scheinen für die Anthroposophische Gesellschaft reichlich unspektakulär verlaufen zu sein. Zumindest erweckt die Berichterstattung im »Nachrichtenblatt« für deren Mitglieder diesen Eindruck. Aber diese Berichterstattung ist selektiv, um nicht zu sagen tendenziös.


1963

1963 ging die lange Ära zu Ende, in der Albert Steffen maßgeblich die Geschicke der Anthroposophischen Gesellschaft bestimmt hatte. Über die Dauer dieser Ära kann man geteilter Meinung sein.

1964

1964, im Jahr der Gründung der PLO, der Unterzeichnung des Bürgerrechtsgesetzes zur Aufhebung der Rassentrennung durch Lyndon B. Johnson – der die Nachfolge des am 2. November 1963 ermordeten Präsidenten John F. Kennedy angetreten hatte – und der Tonkin-Resolution, die den Eintritt der USA in den Vietnamkrieg vorbereitete, bahnte sich auch in der Führung der Anthroposophischen Gesellschaft ein Politikwechsel an.

1965

Dass die Aktivitäten der Haußer-Stiftung zumindest für Rudolf Grosse ein maßgeblicher Grund waren, sich mit der »Bücherfrage« zu beschäftigen – die sich bei ihm ab 1965 nachgerade zum beherrschenden Thema entwickelt zu haben scheint –, geht aus einem langen Brief hervor, den er Ende März 1965 an seinen Vorstandskollegen Herbert Witzenmann schrieb, der zu dieser Zeit nach einem leichten Herzinfarkt mit einer Lungenentzündung in einem Pforzheimer Krankenhaus lag.

1966

Die »Erklärung« des Vorstandes zur Bücherfrage im Jahr 1965 erklärte oder klärte gar nichts, vielmehr war die durch sie hervorgerufene Verwirrung beträchtlich. Auch in den folgenden Jahren rangen unterschiedliche Positionen miteinander. Der Vorstand selbst war in dieser Frage gespalten.

1967

Mitte der 1960er Jahre beschäftigte sich die anthroposophische Bewegung nicht nur mit der »Bücherfrage«. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts nahm diese Bewegung einen bedeutenden Aufschwung. Dieser Aufschwung war auch durch die gesamtgesellschaftliche Entwicklung bedingt, durch die anthroposophische Kernthemen wie Menschenrechte, Emanzipation, Ökologie, ganzheitliche Heilweisen und Spiritualität auf die politische und kulturelle Tagesordnung gesetzt wurden.


1968

Am 14. Januar 1968 erschien im »Nachrichtenblatt« der Anthroposophischen Gesellschaft folgende Mitteilung: »Der Bücherverkauf am Goetheanum wird in Zukunft auch die durch die Nachlassverwaltung herausgegebenen Werke Rudolf Steiners in den Verkauf aufnehmen. Dieser Beschluss beendet einen seit vielen Jahren bestehenden, den Mitgliedern in seiner Verursachung bekannten Zustand. Dadurch werden Kräfte frei, die für die Weiterentwicklung der Anthroposophischen Gesellschaft und ganz besonders für die Verwirklichung der Hochschule eingesetzt werden können.

1968

Durch seinen Brief an den Vorstand vom 30. Januar 1968, in dem Witzenmann mitteilte, er könne »vorläufig« nicht mehr an dessen »Beschlüssen mitwirken und für diese keine Mitverantwortung« mehr »übernehmen«, hatte er sich eigentlich bereits aus diesem Gremium verabschiedet. Um so erstaunlicher ist es, dass es bis zum März 1974, also volle sechs Jahre, dauerte, bis eine endgültige Formel gefunden wurde, die diese Tatsache offiziell zum Ausdruck brachte. Es waren sechs quälende Jahre für alle Beteiligten, für die ganze Gesellschaft.


1969

Dass die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft nicht nur mit der Selbstdestruktion beschäftigt, sondern auch zu bedeutenden sozialen Leistungen imstande waren, zeigt ein Ereignis, das zu den deprimierenden Szenen der Generalversammlungen einen erfreulichen Kontrast bildet: die Gründung des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke durch Gerhard Kienle (1923-1983), das im November 1969 eröffnet wurde.

1970

Im Jahr der US-Invasion in Kambodscha, der Gründung der RAF und des Arbeiteraufstandes in Polen, begann der Vorstandskonflikt der anthroposophischen Gesellschaft aus seiner Latenzphase zu erwachen, in die er im vorangegangenen Jahr eingetreten war. Aus der Sicht des übrigen Vorstandes war es nur konsequent, einem Mitglied, das an seinen Sitzungen nicht mehr teilnahm und dessen Gesamtverantwortung nicht teilen wollte, jene Funktionen zu entziehen, die es für die Gesellschaft und die Hochschule ausübte.

1971

Wie nicht anders zu erwarten, wurde die Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft am Karsamstag, dem 10. April 1971, zum Schauplatz des nicht länger zu ignorierenden Konfliktes um die künftige Rolle Herbert Witzenmanns.


1972

Im Jahr 1972 steuerte der Vorstandskonflikt in der Anthroposophischen Gesellschaft auf einen Höhepunkt zu. Herbert Witzenmann war nicht gewillt, seine »Funktionen in Vorstand und Hochschule als ruhend zu betrachten«.

1972

Nach dem dramatischen Höhepunkt des zweiten Verhandlungstages, dem Auszug Herbert Witzenmanns und eines Teiles der Mitglieder aus dem großen Saal des Goetheanum, verlief auch der dritte Tag der denkwürdigen Generalversammlung nach dem Muster eines kathartischen Prozesses, der zwischen Selbsterhöhung und Selbsterniedrigung, zwischen Erfolgserzählungen und Selbstzerfleischung hin und her schwankte ...

1972

Der vierte und letzte Verhandlungstag der Generalversammlung 1972, der auf Rudolf Steiners Todestag fiel (30. März 1925), stand im Zeichen der Abrechnung mit dem dissidenten Vorstandsmitglied Herbert Witzenmann und seinen Getreuen.


1973

Will man erfahren, was die anthroposophische Gesellschaft und Bewegung in einem bestimmten Zeitraum beschäftigt, bieten sich die Mitgliederversammlungen an, die mindestens einmal im Jahr in der Regel zur Osterzeit stattfinden, und es dem neugierigen Auge des Historikers erlauben, durch die Berichte und aufgeworfenen Fragestellungen teilweise intimen Einblick in den Mikrokosmos dieser Weltanschauungsgemeinschaft, ihre Stimmungslage und ihr Selbstverständnis zu gewinnen.

1973

Wie vielfältig und sozial folgenreich die Aktivitäten der »tätigen« Mitglieder der Gesellschaft waren, die laut Grosse oft mehrere Arbeitsfelder zu »beackern« hatten, geht aus den Berichten solcher Mitglieder am 19. und 21. April 1973 während der Generalversammlung hervor.

1973

Auch in der Ansprache von Hagen Biesantz am Karsamstag, dem 21. April finden sich einige Versuche, das Bewusstsein der anthroposophischen Identität zu bestimmen.

1973

Das Epos von der anthroposophischen Weltbewährung war mit all diesen Erzählungen noch keineswegs an sein Ende gekommen. Am Nachmittag des Karsamstags stellten die drei Professoren Bernhard C.J. Lievegoed, Oskar Borgman Hansen und Emile Rinck die Lage der Dinge in Holland, Dänemark und Frankreich dar.


1974

Aufgrund einer merkwürdigen zeitlichen Koinzidenz wurden die beiden führenden Weltmächte des Kalten Krieges im Jahr 1974 von Enthüllungen heimgesucht, die den Glauben an die ihnen zugrundeliegenden Ideologien schwerwiegend erschütterten.

1974

All die religiösen Topoi, die Rudolf Grosse in seiner Eröffnungsrede zur Generalversammlung 1974 angeschlagen hatte, wurden in der folgenden Ansprache von Friedrich Hiebel, der stellvertretend für den Gesamtvorstand aus der allgemein-anthroposophischen Sektion der Hochschule berichtete, aufgegriffen, wenn nicht sogar gesteigert.

1974

Einblick in die globalen Aktivitäten der anthroposophischen Bewegung vermitteln auch für das Jahr 1974 die Länder- und Sektionsberichte der Generalversammlung. Sowohl in Großbritannien als auch in den USA stand ein Führungswechsel bevor.

1974

1974 musste sich die Generalversammlung seit längerem wieder einmal mit Anträgen aus der Mitgliedschaft befassen, die sich interessanterweise beide auf das Selbstverständnis der Gesellschaft als soziale Körperschaft bezogen.

1974

Aufschlussreich sind die Berichte, die am Abend des 7. April 1974 aus verschiedenen Ländern und der medizinischen Sektion gegeben wurden. Sie bezeugen, dass die anthroposophische Bewegung im sozialen und politischen Kontext Europas inzwischen unübersehbare Wirkungen entfaltete.


1975

Die Vereinten Nationen hatten 1975 unter der Devise »Gleichberechtigung, Entwicklung, Frieden« zum Jahr der Frau erklärt. Ausgerechnet in diesem Jahr scheiterte die Reform des Abtreibungsparagrafen 218 im deutschen Strafgesetzbuch am Bundesverfassungsgericht.

1975

1975 jährte sich der Todestag Rudolf Steiners zum fünfzigsten Mal, Anlass zurück und voraus zu blicken. Die anthroposophischen Periodika und Institutionen würdigten dieses Ereignis in vielfältiger Weise.

1975

Die Jahresversammlung der anthroposophischen Gesellschaft 1975 hatte zwei gewichtige Entscheidungen zu treffen, die ihre Entwicklung in den kommenden Jahrzehnten bestimmen sollten.

1975

Im Jahr 1975 wurden zwei neue Mitglieder in den Vorstand der anthroposophischen Gesellschaft »kooptiert«. Eine Kooptation ist keine demokratische Wahl, sondern die Erweiterung oder Ergänzung eines Verantwortungsgremiums durch sich selbst, die mit einer Form ritualisierter Zustimmung – in diesem Fall mit einer »Akklamation« – verbunden werden kann.

1975

Im Jahr 1975 beschäftigte das Goetheanum rund 200 Mitarbeiter, von denen mehr als zwanzig zwischen 70 und 90 Jahre alt waren. Rund fünfzig dieser Mitarbeiter, also ein gutes Viertel, waren über 60. Die jüngsten dieser Mitarbeiter waren beim Tod Rudolf Steiners zehn Jahre alt gewesen. Die meisten von ihnen dürften Steiner noch persönlich gekannt und über lebendige Erinnerungen an ihn verfügt haben.

1975

Im folgenden Teil der Generalversammlung musste sich die Mitgliedschaft mit einem weiteren Antrag auseinandersetzen, der weniger wegen seines Inhaltes, als wegen der Argumentation von Interesse ist, die schließlich zu seiner Ablehnung führte.


1976

Im Jahr 1976 begann das Terrorregime Pol Pots, dessen genozidaler Dystopie bis Ende 1978 fast ein Viertel der Bevölkerung Kambodschas (1,6 Millionen Menschen) zum Opfer fallen sollte. Im selben Jahr trat der größte bekannte Schlächter der Menschheitsgeschichte, Mao Zedong, von der Bühne dieser Welt ab, um fortan in der Hölle der Massenmörder zu schmoren.

1976

Von der Weihnachtstagung als dem »höchsten Ereignis der jahrtausendealten Menschheitsgeschichte« spricht Rudolf Grosse im Kapitel über das »Fortwirken« dieser Tagung im Zusammenhang mit dem Anbruch der »neuen Michaelsherrschaft« 1879 und dem Kampf Ahrimans gegen den jungen Geistesforscher Rudolf Steiner.

1976

Die zweite epochale Publikation, die im Jahr 1976 erschien, war das Buch des Ehepaars Kirchner-Bockholt »Die Menschheitsaufgabe Rudolf Steiners und Ita Wegman«. Dieses Buch ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam: es wirft ein bemerkenswertes Licht auf die Art und Weise, wie Steiner mit den Ergebnissen seiner Geistesforschung umging und es rollt einen Themenkomplex neu auf, der bereits 1926 eine fatale Rolle in den Gesellschaftskonflikten gespielt hatte

1976

Unsere Übersicht der für die anthroposophische Gesellschaft und Bewegung »epochalen« Publikationen wäre nicht vollständig, wenn wir nicht an ein weiteres Buch erinnern würden, das ebenfalls im Jahr 1976 erschien: die Studie »Der Eingriff des Widersachers« von Johannes Tautz (1914-2008). Diese Studie, die »Fragen zum okkulten Aspekt des Nationalsozialismus« behandelt, fasst drei für den Druck aufbereitete Vorträge zusammen, die der Stuttgarter Waldorflehrer bereits 1966 – 33 Jahre nach der Machtergreifung – gehalten hatte.

1976

Die Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft am 11. April 1976 verlief bemerkenswert friedlich. Frühere Gesellschaftskonflikte klangen nur wie eine ferne Erinnerung in einzelnen Redebeiträgen nach, martialische Töne brachte allerdings ein Bericht Gerhard Kienles in die Versammlung, der von den Schlachten erzählte, die erfolgreich gegen das geplante deutsche Arzneimittelgesetz geschlagen worden waren.

1976

Wie bereits erwähnt, berichtete Heten Wilkens in der Generalversammlung der  Anthroposophischen Gesellschaft am 11. April als Generalsekretär der deutschen Landesgesellschaft ausführlich über deren Tätigkeit. Was diesen Bericht für heutige Leser schwer verdaulich macht, ist nicht die Fülle an Vorgängen oder Daten, die er enthält ...

1976

Je mehr anthroposophische Initiativen versuchten, die Gesellschaft umzugestalten, umso stärker zogen sie die Aufmerksamkeit der Bürokratie und der Öffentlichkeit auf sich und umso deutlicher kristallisierte sich die Wahrnehmung der Beharrungskräfte heraus, die der beabsichtigten Umgestaltung im Wege standen.


1977

Im Jahr 1977 steuerte der Wahnsinn des Linksterrorismus in der Bundesrepublik seinem Höhepunkt und desaströsen Ende zu. Als Name für die zweite Hälfte dieses Jahres hat sich die Metapher »Deutscher Herbst« etabliert, die für die elegische Befürchtung steht, der von den neuen sozialen Bewegungen und der außerparlamentarischen Opposition vorangetriebene Aufbruch des Lebens aus der Ära einer »bleiernen Zeit« und der von ihm verheißene gesellschaftliche »Frühling« der Liberalisierung und Emanzipation sei vom Untergang bedroht ...

1977

Während in der Bundesrepublik Deutschland die selbsternannte Avantgarde der proletarischen Weltrevolution unter großer öffentlicher Anteilnahme vom Chaos verschlungen wurde, das sie selbst heraufbeschworen hatte, spielte sich im Schatten der medialen Aufmerksamkeit eine sanfte Revolution ab, die erst sieben Jahre später die mit Häme vermischte Bewunderung des führenden deutschen Nachrichtenmagazins auf sich ziehen sollte ...

1977

Anthroposophen sahen in den revolutionären Umtrieben der jungen Generation vor allem eines: die Sehnsucht nach dem Geist. Dabei konnten sie sich auf den Gründer der Bewegung stützen, der selbst solche Umtriebe als Symptome fehlgeleiteter Spiritualität gedeutet hatte. Als Beispiel sei hier an vielzitierte Ausführungen aus einem Vortrag vom 11. September 1920 erinnert.

1977

Der restliche Teil der Generalversammlung war ausgewählten Länder- und Sektionsberichten gewidmet. Von Interesse sind hier die Beiträge zu Italien und den USA, da sie Einblick in die politische und kulturelle Urteilsbildung sowie das Selbstverständnis führender Anthroposophen im Jahr 1977 geben.


1978

Das »Dreipäpstejahr« verdankt seinen Namen spektakulären Ereignissen in der katholischen Kirche. Aber nicht nur diese altehrwürdige Institution weist 1978 eine durchwachsene Bilanz auf, sondern auch die Nebenbühne der neuen religiösen Bewegungen und die Hauptbühne der Weltpolitik.

1978

Wenden wir uns der Generalversammlung als treuem Spiegel des Gesellschaftsbewusstseins zu, die 1978 am 19. März stattfand. Der Tradition entsprechend eröffnete der Vorsitzende, Rudolf Grosse, die Versammlung durch eine Ansprache, in die ein Totengedenken eingebettet war.

1978

Der vierte Verstorbene, den Grosse namentlich erwähnte, veranlasste ihn zu etwas längeren Ausführungen, da das problematische Verhältnis zur Institution, die jener repräsentierte – das Jahrzehnte der Gesellschaftsgeschichte geprägt hatte und auch 1978 fortbestand –, den meisten Anwesenden in lebhafter Erinnerung gewesen sein dürfte und Grosse selbst an der Entwicklung dieses Verhältnisses maßgeblich beteiligt gewesen war.

1978

Im Schatzmeisterbericht Gisela Reuthers bei der Generalversammlung 1978 spiegelte sich der Mitgliederzuwachs und die zunehmende Attraktivität der Anthroposophischen Gesellschaft.[1] Die Bilanz wies zum Ende des Jahres 1977 Aktivposten in Höhe von rund 16 Millionen Schweizer Franken aus und Passiva in Höhe von rund 10 Millionen.

1978

1978 stand ein für die anthroposophische Metahistorie bedeutender Jahrestag bevor: im Herbst 1979 sollte der Anbruch des »neuen Michaelzeitalters« zum hundertsten Mal wiederkehren. Auf den Erzengel Michael hatte Steiner früh hingewiesen.

1978

Die geradezu explosionsartige Ausbreitung anthroposophischer Initiativen im deutschen Sprachraum Ende der 1970er Jahre war zwar einzigartig, in abgeschwächter Form fanden aber auch in anderen Ländern Wachstumsbewegungen statt. Zum Beispiel in Frankreich.


1979

Das von der UNESCO ausgerufene »Jahr des Kindes« bot vor allem den Vertretern der Waldorfpädagogik Gelegenheit, die Öffentlichkeit auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen.

1979

Im Jahr 1979 wurde der anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft erstmals auch eine gesteigerte Aufmerksamkeit von seiten der Linken zuteil. Die vom Rotbuchverlag publizierte Reihe Kursbuch widmete ihr im März einen Beitrag in einem Themenband über Sekten.

1979

Am 25. Februar 1979 lud der Vorstand der anthroposophischen Gesellschaft, bestehend aus Rudolf Grosse, Friedrich Hiebel, Hagen Biesantz, Jörgen Smit, Manfred Schmidt-Brabant und Gisela Reuther die Mitglieder zur Generalversammlung ein, die dieses Jahr am 8. April, einem Palmsonntag, stattfand.

1979

Wer vom Auftritt des »ehemaligen« Vorstandsmitglieds bei der Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft einen Eklat, eine Generalabrechnung oder ähnliches erhofft oder befürchtet hatte, sah sich enttäuscht.

Als der hochgewachsene Greis mit seinen schlohweißen Haaren leicht schwankend die lange Treppe von der hintersten Reihe des großen Saals unter der Orchesterempore hinunterstieg, um sich nach einem gnädig einladenden Wink von Manfred Schmidt-Brabant ans Rednerpult zu begeben, machte das Tuscheln und Raunen bald einer gespannten Stille Platz. [Die spirituelle Existenz der Freien Hochschule ...]

1979

Fast exakt zwei Jahre nach der Rede Witzenmanns bei der Generalversammlung 1979 erschien die von ihm in Aussicht gestellte schriftliche Ausarbeitung seines »Rechenschaftsberichts« in der Zeitschriftenreihe Beiträge zur Weltlage. Zwar ist diese Ausarbeitung aus einem aktuellen Anlass entstanden, sie enthält aber Überlegungen zum Wesen der Freien Hochschule und zur Anthroposophie, die bis heute – abgesehen von den Ausführungen über »Klassenleser«, die durch die Publikation der »Klassentexte« inzwischen überholt sind – nichts von ihrer Relevanz verloren haben, obwohl sie vor bald vierzig Jahren niedergeschrieben wurden. Sie werden daher im Folgenden in voller Länge wiedergegeben.


1980

Der postmaterialistische Wertewandel, der vielen sozialen Protestbewegungen der 1970er Jahre zugrunde lag und sich in sanften politischen Forderungen nach Lebensqualität, Selbstverwirklichung und Gleichberechtigung artikulierte, brachte die traditionellen gesellschaftlichen Frontlinien durcheinander und löste die etablierte Solidarität mit den großen »Volksparteien« (CDU/CSU, SPD) auf.

1980

Im Jahr 1980 standen einige geostrategische Brennpunkte des »Grand Chessboards« (Zbigniew Brzeziński, 1997) im Mittelpunkt des Interesses der politischen und militärischen Eliten des Kalten Krieges: Afghanistan und der mittlere Osten.

1980

Im Frühjahr 1980 erschien ein Buch, das sich in die Reihe der Versuche der »Arbeit am Gesellschaftsmythos« einfügt, die mit Kirchner-Bockholts Publikation über Ita Wegman (1976) sowie Rudolf Grosses Buch über die Weihnachtstagung begannen (1976) und ihren vorläufigen Höhepunkt in der deutschen Übersetzung der von Sergei O. Prokofieff verfassten Apotheose Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien erreichten, die 1982 im Verlag Freies Geistesleben publiziert werden sollte.

1980

Bevor wir uns van Manens Studie zuwenden, ist ein Motiv aus dem Vortrag vom 11. Juli 924 nachzutragen, dessen Unterschlagung notgedrungen ein schiefes Bild der Ausführungen Steiners vermitteln würde und das insofern bedeutsam ist, als es einen Hinweis auf eine mögliche Versöhnung der von ihm beschriebenen, »deutlich unterscheidbaren« Seelenfamilien enthält.

1980

Die weiteren Kapitel des ersten Teils der Studie van Manens können hier übersprungen werden, da sie im Wesentlichen den Versuch einer Zusammenschau der verschiedenen Schilderungen Steiners zur spirituellen Vorgeschichte der beiden Seelenfamilien enthalten, die sich in der anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft zusammengefunden hatten. Diese Schilderungen greifen weit in die Vergangenheit aus, behandeln Heiden und Christen in der Spätantike, Mönche und Ketzer im Mittelalter, die vorchristlichen Mysterien, Plato, Aristoteles und Alexander, die Schule von Chartres und die mittelalterlichen Platoniker, die Artus- und Gralsströmung und vieles mehr.

1980

Wie entwickelte sich die spirituelle Familiengeschichte nun nach 1925, nach Steiners Tod weiter? »Karma waltete« und die Schülerschaft Steiners spaltete sich immer mehr in zwei Lager. Nicht in dieser sozialen Differenzierung sieht van Manen jedoch das Problem, vielmehr liegt das Katastrophale darin, »dass diese an sich unvermeidlichen und im Prinzip nicht unwürdigen Auseinandersetzungen in emotionale und erbitterte Fehden ausarteten […] Die Gesellschaft steuerte ins Chaos und in die Auflösung.«

1980

Die von van Manen kenntnisreich ausgebreitete Selbstdeutung der anthroposophischen Gesellschaft zwischen verklärtem Ursprung und apokalyptischem Ende bildete den Stimmungshintergrund, aus dem viele Angehörige der sogenannten Tochterbewegungen die Kraft für ihre Tätigkeit schöpften. Sie wollten mitwirken an der Vorbereitung jener Kulmination, jener großen Entscheidungszeit, der die anthroposophische Bewegung am Jahrhundertende zustrebte. Und tatsächlich sah es zu Beginn der 1980er Jahre so aus, als würde sich die Erfolgsgeschichte der vergangenen Jahrzehnte in potenzierter Form fortsetzen. Die Zahl der Waldorfschulen beispielsweise war 1980 in Deutschland auf 70 gestiegen, zweifellos aufgrund des positiven Zuspruchs, den diese Pädagogik seitens einer anspruchsvoller oder kritischer gewordenen Elternschaft erfuhr.

1980

Fritz Götte (1901-1989) beleuchtete im Michaeliheft der deutschen Mitteilungen das Verhältnis zwischen anthroposophischer »Bewegung« und »Gesellschaft«. Er trat der verbreiteten Auffassung entgegen, die anthroposophische Bewegung umfasse alle »Sympathisanten« der Anthroposophie oder sei mit den Angehörigen der Tochterbewegungen (der Summe der Waldorflehrer, Ärzte, Heilpädagogen, Landwirte usw.) identisch.

1980

Der Pforzheimer Arzt Karl Buchleitner kleidete sein Plädoyer für ein politisches Engagement der Anthroposophischen Gesellschaft in eine Exegese des Satzes der Prinzipien von 1923, der vordergründig das Gegenteil besagt. Im § 4 heißt es bekanntlich über diese Gesellschaft: »Die Politik betrachtet sie nicht als in ihren Aufgaben liegend.« Diese Aussage (Steiners) sei aber im Zusammenhang mit den anderen Sätzen des Paragrafen zu sehen, die vor zwei Gefahren warnten: der Geheimniskrämerei und dem Sektierertum. Positiv werde im § 4 die Öffentlichkeit der Gesellschaft hervorgehoben und jede Form von Absonderung oder Abspaltung von dieser Öffentlichkeit zurückgewiesen.


1981

1981 ereigneten sich zwei spektakuläre Attentate auf Personen des öffentlichen Lebens, die sich wie wenige andere für den Frieden und die Freiheit unter den Völkern verdient gemacht hatten. Am 13. Mai schoss Ali Ağca, ein türkischer Grauer Wolf, auf dem Petersplatz in Rom Papst Johannes Paul II. nieder, am 6. Oktober wurde der ägyptische Staatspräsident Anwar as-Sadat bei einer Parade zum Jahrestag des Jom Kippur-Krieges von Sympathisanten der Muslimbruderschaft zusammen mit einer Reihe von Festgästen ermordet.

1981

Zwei religionsgeschichtliche Phänomene sollten in einem Rückblick auf das Jahr 1981 nicht unerwähnt bleiben: Papst Johannes Paul II. ernannte im November den Erzbischof von München und Freising, Joseph Aloisius Ratzinger, zum Präfekten der römischen Glaubenskongregation, der sich für die Durchsetzung seiner moralpolitischen Agenda in den folgenden Jahren als äußerst hilfreich erweisen und im Jahr 2005 sogar seine Nachfolge antreten sollte. Und der Guru der entwurzelten Wohlstandskinder, dessen anarchische Erleuchtung bisher durch eine beschwerliche Pilgerreise nach Poona erworben werden musste, Bhagwan Shree Rajshneesh, siedelte im Sommer mit seinen 93 Rolls Royce und vergoldeten Klobrillen nach Oregon über. [--> Der Tröster spricht ...]

1981

Die Kontroverse um die Atomkraft, Peter von Siemens und die Anthroposophische Gesellschaft fand auch bei der Generalversammlung Erwähnung, die dieses Jahr am 12. April, einem Palmsonntag, stattfand – ein Indiz dafür, dass es sich nicht bloß um eine in der ephemeren medialen Sphäre ausgetragene Kontroverse handelte.

1981

Weitaus weniger eloquent als sein Vorredner ließ sich Jörgen Smit, der Leiter der Jugendsektion, der zu Beginn des Jahres auch die Pädagogische Sektion von Grosse übernommen hatte, über ein brisantes Thema aus: die sogenannten Jugendkrawalle, die zu dieser Zeit in vielen europäischen Städten stattfanden (Smit nannte: Zürich, Berlin, Amsterdam, Hamburg, Nürnberg, Freiburg).

1981

Wie bereits angedeutet, griff Hagen Biesantz in der Generalversammlung 1981 noch einmal die Frage nach dem Verhältnis zwischen Anthroposophischer Gesellschaft und Christengemeinschaft auf, die Grosse bereits berührt hatte. Anlass war eine Sendung, die der Westdeutsche Rundfunk zu Steiners Geburtstag am 27. Februar ausgestrahlt hatte. Darin war in der üblichen uninformierten Journalistenprosa von der »sogenannten Christengemeinschaft« als »anthroposophischer Religion« die Rede gewesen.


1982

Rufen wir uns kurz den Ereignishorizont des Jahres 1982 in Erinnerung, bevor wir uns der anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung zuwenden. 1982 war das Jahr des Falkland- und des Ersten Libanonkrieges, in dem auch der Erste Golfkrieg zwischen Irak und Iran, der 1980 begonnen hatte, fortdauerte.

1982

Prokofieffs Buch über die Grundlegung der neuen Mysterien stellt den Höhepunkt der Ausgestaltung jenes spirituell-sozialen Mythos dar, dessen Ausgangspunkt und Gravitationszentrum bis heute Rudolf Steiner bildet.

1982

Das zweite Kapitel des okkulten Schlüsselromans, in den sich das Leben Rudolf Steiners im Bewusstsein des russischen Autors Sergej O. Prokofieff verwandelt, ist der »großen Sonnenperiode« vom 21. bis 42 Lebensjahr gewidmet, das der Ausreifung der drei Seelenglieder dient.

1982

Das umfangreichste Kapitel der Studie zu Steiners Lebensweg in Prokofieffs Buch beschäftigt sich mit seinem Wirken als »Menschheitslehrer«. Zu Beginn des Jahrhunderts, so wird erzählt, tritt er als »Verkünder« einer neuen »geistigen Offenbarung« an die Öffentlichkeit, um »der Erde« nach dem Ende des finsteren Zeitalters jene Kräfte zu bringen, die sie benötigt, »um sich wieder zum Geist zu erheben«.

1982

Dass die anthroposophische Bewegung nicht nur in Opposition zum – unrechtmäßigen – Zeitgeist stand, sondern auch unter dessen Einfluss, zeigte eine Affäre, die im Februar 1982 durch ihre Publikation – zumindest gesellschaftsintern – bekannt wurde. In ihr ging es um den Umgang mit Spendengeldern, deren zweifelhafte Verwendung oder mögliche Veruntreuung, und damit um ein ähnliches Thema, wie jenes, das im Zusammenhang mit dem »Neue Heimat«-Skandal die bundesrepublikanische Öffentlichkeit erschütterte.

1982

Die Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft fand 1982 am 4. April, einem Palmsonntag, statt. Seit der letzten Mitgliederzusammenkunft waren 600 verstorben, 2550 neue aufgenommen worden. Zu den prominenteren unter den Verstorbenen gehörten – neben Ernst Weißert – der Priester der Christengemeinschaft Otto Palmer (1896-1981), Verfasser einer Monographie zur Philosophie der Freiheit, der Pionier der Arzneimittelforschung der WELEDA, Wilhelm Pelikan (1893-1981), Martha Thut, die langjährige Leiterin des Johannes-Zweiges in Bern sowie die Dichterin und ehemalige Leiterin des Goetheanum-Archivs, Emma Krell-Werth (1906-1981).


Die Fortsetzung finden Sie im dritten Band der Reihe Selbsterkenntnis in der Geschichte.

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