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Unter Hammer und Hakenkreuz

Von Lorenzo Ravagli

Unter Hammer und Hakenkreuz. Der völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie

Ravaglis Untersuchung zeigt die bedeutende Rolle, die die Anthroposophie im gesellschaftlichen Diskurs der wilhelminischen Ära und der Weimarer Republik spielte. Sie dokumentiert, in welcher Form sich die militant-konservativen und rechts-revolutionären Kreise dieser Gesellschaft von der Anthroposophie absetzten. Dadurch ergibt sich ein völlig neuer Blick auf die frühe anthroposophische Bewegung. Ist Rudolf Steiner in die völkische, die alldeutsche oder deutsch-nationale Bewegung einzuordnen? Diese Behauptung wird von manchen Autoren aufgestellt, die Steiner als deutschen Chauvinisten, als Befürworter des Imperialismus, der Rassenhygiene, ja als Esoteriker des Nationalsozialismus zu denunzieren versuchen. Die vorliegende Untersuchung stellt die Kampagnen und Intrigen dar, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Machtergreifung der NSDAP aus dem rechtskonservativen bis rechtsextremen politischen Spektrum gegen die Anthroposophie inszeniert wurden. Die bedeutendsten völkischen und nationalistischen Verbände der Kaiserzeit und der Weimarer Republik gehörten zu den erklärten Feinden der Anthroposophie. Lorenzo Ravagli rekonstruiert den fundamentalen Gegensatz zwischen der Anthroposophie und jeder Art von völkischer Bewegung.

Der zweite Teil des Buches vermittelt einen Einblick in die weltanschaulichen Konflikte innerhalb der theosophischen Bewegung und arbeitet die grundlegenden Differenzen zwischen dem von Guido von List konzipierten Armanismus bzw. der Ariosophie und der Anthroposophie Rudolf Steiners heraus. Dabei wird deutlich, dass ein erheblicher Teil der theosophischen Gegner der Anthroposophie aus Anhängern der völkischen Bewegung bestand, die versuchten, die humanistischen und menschheitlichen Ziele der Theosophie bzw. Anthroposophie für ihre gruppenegoistischen Ziele zu vereinnahmen.



Indianer

Was die Indianer betrifft, so spricht Steiner von deren »Ausrottung« durch die Europäer, so etwa am 20.7.1919 anlässlich einer Kritik des europäischen Kolonialismus und Imperialismus, in der es heißt: »Diese Indianer, die man ausgerottet hat bei der Eroberung von Amerika ... Aber man hat [den Kontakt zu Amerika] so entdeckt, dass man die damaligen Amerikaner, die amerikanischen Indianer massakriert hat. Diese Art von Kulturausdehnung, das war die erste Etappe auf dem Wege, auf dem wir dann nach und nach weitergegangen sind. Ja, es war in der Tat so, dass ... die Europäer ... gefunden haben ein hohes spirituelles Leben bei diesen sogenannten wilden Menschen, denen sie den Garaus gemacht haben.«(GA 192)

Es wurden aber nicht alle Indianer, die durch die Begegnung mit Europäern gestorben sind, von diesen »ausgerottet«, sondern eine bei weitem größere Zahl starb an einem Mangel an Immunität gegen von Europäern eingeschleppte Krankheiten. Diese geschichtliche und medizinische Tatsache wird nicht durch die Ausrottung erklärt. Auf diesen Vorgang bezieht sich Steiners Bemerkung, nicht auf die Ausrottung durch Europäer, die er genauso verurteilte, wie jede Art von Tötung von Menschen und nicht-menschlichen Lebewesen.

Im übrigen sind nach Steiners Auffassung Handlungen von Menschen nicht »karmisch« bedingt, weil sie aus einer Freiheitssphäre entspringen, in der der Einzelne die unmittelbare Verantwortung für sie trägt. Eine Handlung kann also im Sinne Steiners nie mit dem Argument ihrer karmischen Bedingtheit gerechtfertigt werden. Bierls Vorwurf beruht auf einer vermutlich absichtlichen Verwechslung von Erklärung und Rechtfertigung, Deskription und Präskription. Wenn ein Pathologe davon spricht, das Ableben eines Menschen, der durch Gewalt zu Tode kam, sei mit Notwendigkeit aufgrund der gewaltsamen Verletzung lebenswichtiger Organe eingetreten, so würde jedermann im Vorwurf, der Pathologe wolle den Mord an diesem Menschen nachträglich rechtfertigen, sogleich eine Absurdität erkennen. An diesem Beispiel kann der Unterschied von Erklärung und Rechtfertigung verdeutlicht werden. Niemand würde behaupten, der Pathologe wolle die Tat, durch die der betreffende Mensch sein Leben verlor, nachträglich als notwendige Handlung rechtfertigen. Die Erklärung ist erst post factum, nach dem Eintreten der Ereignisse möglich und bezieht sich auf den gesetzmäßigen Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Die unmittelbare Ursache des Todes ist die Zerstörung lebenswichtiger Organe, die mittelbare der Wille und die Handlungen des Mörders, die zur Zerstörung der Organe führten. Der Mörder ist voll verantwortlich für seine Tat und schuldig am Tod seines Opfers. Der Pathologe kann sogar aus seiner Kenntnis des menschlichen Organismus den Satz aufstellen, dass bestimmte Verletzungen lebenswichtiger Organe notwendig zum Tode führen müssen. Dennoch wird niemand behaupten, ein solcher Satz stelle eine Rechtfertigung von Mord oder gar dessen Präskription dar. Die Sätze des Pathologen haben einen deskriptiven und keinen präskriptiven Charakter, d.h., sie beschreiben einen Gesetzeszusammenhang und schreiben nicht ein Handeln oder Verhalten vor.

Ebensowenig schreibt der – wie stets aus dem Zusammenhang gerissene – Hinweis Steiners darauf, dass sich Indianer »Todeskräfte« erwerben mussten, ein Handeln vor oder rechtfertigt ein solches ex post oder ex ante: er rechtfertigt es überhaupt nicht. Steiner erklärt lediglich deskriptiv ein Geschehen, nachdem es eingetreten ist. Steiner hat nie die Ausrottung von Indianern oder anderen Populationen (Ethnien) als »karmische Notwendigkeit« bezeichnet, er hat nie einen Genozid gerechtfertigt, er hat die Handlungsweise der europäischen Kolonialisten vielmehr ausdrücklich verurteilt. Jeder, der Steiner eine solche Auffassung – Rechtfertigung von Völkermord – unterstellt, muss als Lügner bezeichnet werden.

Es ist eine geschichtliche Tatsache, dass die europäischen Einwanderer große Teile der autochthonen Kulturen, ja große Teile der indianischen Ethnien aus Amerika verdrängt haben, dass die Einwanderung von Europäern (sog. »Weißen«) das Verschwinden der einstigen unangefochtenen Herren seiner unendlichen Weiten, seiner Berge und Wälder, Küsten und Seen zur Folge hatte. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts sah es in der Tat so aus, als würden die amerikanischen Eingeborenen ebenso zum Aussterben verurteilt sein, wie andere Eingeborenenvölker Asiens, Ozeaniens oder Afrikas. Es ist auch eine geschichtliche Tatsache, dass die Kulturen, Zivilisationen und Staaten, die sich auf den beiden amerikanischen Kontinenten im Anschluss an die europäische Einwanderung und gewaltsame Verdrängung der indianischen Kulturen und Ethnien entwickelt haben, keine indianischen Kulturen sind, sondern Metamorphosen der Mutterkulturen der europäischen Einwanderer.

Man kann das weitgehende Verschwinden der autochthonen Bevölkerung beider Amerika, man kann den massenhaften gewaltsamen Tod oder das Hinsterben durch eingeschleppte Krankheiten bedauern, die Tragik dieses Geschehens kann mit tiefem Schmerz erfüllen, man kann darüber hinaus die Brutalität und Grausamkeit europäischer Einwanderer verurteilen. Ja, man kann sogar als Nachfahre der europäischen Einwanderer, der in Europa lebt, Reue und Scham angesichts der Handlungsweise der eigenen Vorfahren empfinden, auch wenn die unmittelbaren Antezedenten nicht direkt an jenem Genozid beteiligt waren oder davon profitiert haben. Man sollte noch heute bestehendes Unrecht aufgrund von ethnischen Zugehörigkeiten endgültig beseitigen. Aber dies alles sind Selbstverständlichkeiten für jeden Anthroposophen. Es kann keinen Augenblick ernsthaft bezweifelt werden, dass Steiner, der seine Grundüberzeugung, dass man das Geringste, was man seinem Menschenbruder angetan habe, sich selbst angetan habe, oft und deutlich genug zum Ausdruck brachte, der Auffassung war, dass kein Unrecht ungerochen bleibt und kein Anderen angetanes Leid nicht auf den Täter zurückfalle.

Aber Steiner, der bereits in einer Lüge einen »astralen Mord« sah, ging es um etwas anderes, ihm ging es um die Beschreibung eines universalen Sinnzusammenhangs des Weltgeschehens, ihm ging es angesichts des Bösen in der Welt um eine Anthropodizee, ihm ging es darum, in jedem seiner Zuhörer die höchsten moralischen Antriebe wachzurufen, in ihnen das Bewusstsein der Menschenliebe und der Verantwortlichkeit für das Weltganze zu wecken. Wer auf dem heute epidemisch verbreiteten Standpunkt des Nihilismus steht, wie Bierl, wird im Leid nie etwas anderes als das absolut Sinnlose sehen können. Wer sich aber wie Steiner auf den heute schon nahezu vergessenen christlichen Standpunkt stellt, dass das Leid des Menschen das Leid des alles Sein durchdringenden, menschgewordenen Gotteswesens ist, wird das eigene und das fremde Leid stets als Folge der eigenen Unvollkommenheit betrachten. Er wird das Böse, das anderen zugefügt wird, stets als etwas empfinden, das er an sich selbst erleidet und solange nicht ruhen, als dieses Böse, diese Krankheit im Körper der Menschheit, durch Liebe geheilt ist. Er wird der Überzeugung sein, dass sich die Menschheit solange Todeskräfte erwerben und leiden muss, solange nicht jeder Einzelne, der ihr angehört, mit dem göttlichen Quell der Liebe und der Güte eins geworden ist. Es kann im Sinne Steiners nur eine einzige Anthropodizee geben: das unentwegte Streben nach sittlicher, moralischer Vollkommenheit, nach Freiheit und Liebe.

Die Anthroposophie, die Steiner nach der Wende zum 20. Jahrhundert öffentlich darzustellen begann, ist ein einziges Schuldbekenntnis. Schuld und Sühne sind die großen Lebensthemen Steiners. Der Mensch ist schuldig geworden durch alles, was er getan hat. Er hat sich von der göttlichen Welt abgewandt unter der Führung von Versuchern und hat die Gier in die Welt gebracht, hat den Irrtum in die Welt gebracht, hat die Krankheit und den Tod in die Welt gebracht und von dieser seiner Sündenkrankheit ist die gesamte Schöpfung infiziert. Aber in den leidenden Kreaturen harrt die Erlösungssehnsucht dem Aufgehen der Logoskeime in den Menschen entgegen, auf dass das Licht der Freiheit und Liebe die Welt aus ihrer Verirrung führe (Paulus, Johannes). Der europäischen, abendländischen Menschheit kommt eine Führungsaufgabe zu, die nur durch freiwilligen, aber notwendigen Verzicht realisierbar ist, ihr kommt nicht die Aufgabe zu, die übrigen Teile der Menschheit zu unterjochen, sie in politische Knechtschaft, wirtschaftliche Abhängigkeit oder Gottferne zu führen. Ihr kommt, als der gegenwärtigen Spitze der zivilisatorischen Entwicklung, die Aufgabe zu, die Menschheit zum Geist zu führen, zum Geist der Liebe und Freiheit. Denn der Geist der Liebe und Freiheit, der Geist Christi, waltet nicht in den Mysterien der Entichung oder den Mysterien der leiblichen Vererbung, als der Schützer der Freiheit des Ich, des heiligsten Gutes des Kosmos, waltet er in den freien Taten, die die Menschen vollbringen, in der Liebe (nicht der Gier), die sie einander entgegenbringen, im Vertrauen, das sie sich schenken, in der Gewissheit, dass der Andere im selben Geiste verwurzelt ist, in dem sie selbst verwurzelt sind: dem Geist des Friedens und der Menschenliebe. Das ist die Botschaft Steiners, das ist die zentrale Botschaft der Anthroposophie: sie ist eine Botschaft des Dienens und des freiwilligen Verzichts. Diese Botschaft kann nie unwahr werden, sie kann auch nie veralten, solange noch ein Mensch in Gier, Hass und Verblendung, in Krankheit und Elend befangen ist oder darbt, solange das Werk der Erlösung oder Befreiung noch nicht vollbracht ist.

Die Botschaft der Anthroposophie ist zutiefst christlich, aber in einem zutiefst überkonfessionellen Sinn, der die Gültigkeit anderer Religionen einschließt. Sie sieht in allen Formen des Menschseins die Befangenheiten, die uns von der Sphäre des allgemeinen Menschheitsgeistes trennen und weist uns darauf hin, wie wir diese Befangenheiten überwinden können. Gerade weil die abendländische Menschheit an der gegenwärtigen Spitze der zivilisatorischen Entwicklung steht, die auf die Befreiung von Seele und Geist von der Knechtschaft des Vergänglichen zielt, auf dass aus dem Untergang des Verweslichen am Menschen dessen unverwesliches Wesen hervorgehe, steht sie am meisten in der Gefahr, ihr Menschsein zu verlieren, wie Steiner 1922 vor den Arbeitern am Goetheanumbau darlegte, während Angehörige anderer Zweige des Menschheitsbaumes noch aufgrund der Beschaffenheit ihrer Organisation vor dem Verlust ihres Menschseins geschützt sind, wie die negriden und mongoliden Bevölkerungen Afrikas und Asiens. Die Fülle an weisheitsdurchdrungener Lebenskraft und kosmischer Astralität, für die sie empfänglich waren, hatten Teile derselben bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts davor bewahrt, ihre Verbindung mit dem göttlichen Ursprung oder ihre Erinnerung an diesen zu verlieren, während die abendländische Menschheit sich von diesen Kräften emanzipiert hat, um zum individuellen, gedankenerfüllten Selbstbewusstsein zu gelangen. Die abendländische Menschheit darf ihre Gabe der Dekadenz, des Abfalls von der göttlichen Welt, nicht zu äußerer, imperialer Machtentfaltung, zu Usurpation und Expropriation missbrauchen, sie muss vielmehr das Evangelium des freien Menschengeistes, die Botschaft von der unveräußerlichen Menschenwürde und friedenstiftenden Liebefähigkeit unter die Völker der Erde tragen. Tut sie dies nicht, besteht die Gefahr, dass die sog. weiße Rasse, deren Aufgabe darin besteht, »am Geiste zu schaffen« und nicht »am Fleische« – d.h. an der Anhäufung von Macht und Besitz –, die gesamte Menschheit in den Abgrund der sittlichen Verderbnis, der Geistesöde und des Todes reißt und mit ihrem eigenen Untergang den Untergang der Menschheit besiegelt. Die Seelen, die in der abendländischen Zivilisation zu Beginn des 20. Jahrhunderts inkarniert waren, besaßen nach Steiners Auffassung aufgrund der historischen Entwicklung dieses Abendlandes eine privilegierte Möglichkeit, sich für den Geist weltweiter Solidarität, für die Befreiung des einzelnen Menschen aus kollektiven Normen, religiöser, staatlicher oder ethnischer Bevormundung einzusetzen und waren durch dieses Privileg in höchstem Maße verpflichtet, es zu nutzen. Deswegen betonte er die Notwendigkeit und Bedeutung dieser Mission, schließlich ging es um einen Großteil der Menschheit, der unter Lebensbedingungen dahinvegetierte, die menschenunwürdig, mit großem Leid und Unglück verbunden waren.

Nach Steiners Auffassung hatte eine Reihe von Persönlichkeiten, im 18. und 19. Jahrhundert, die sich der deutschen Sprache bedienten, um ihre Ideale der Humanität, der Freiheit und spirituellen Welterklärung auszudrücken, als erste und am deutlichsten in der Neuzeit die formativen Ideale der unmittelbar bevorstehenden Zukunft zum Bewusstsein gebracht. Vor diese Ideale und ihre Verkünder stellte sich Steiner schützend, weil er glaubte, sie könnten die Menschheit am ehesten vor dem zu erwartenden Kampf aller gegen Alle bewahren. Leider wurden seine Hoffnungen enttäuscht. Zu mächtig waren die materialistischen Suggestionen, die den Menschen vorgaukelten, ihre nationale, rassische oder Klassenidentität stehe höher als das Menschsein. Dieselben Mächte, die damals das Durchdringen seiner spirituellen Friedensbotschaft verhinderten, sprechen heute aus jenen bigotten Zeloten, die ihn der rassistischen Hetze, des nationalen Chauvinismus, kurz, des Irrsinns bezichtigen: sie versuchen auch heute durch eine Verleumdung seines Werkes das öffentliche Interesse vom Gewahrwerden des spirituellen Elends abzulenken, unter dem die Menschheit leidet. Heute hat die Menschheit gegenüber dem Anfang des 20. Jahrhunderts, durch das unermessliche Leid, das aus dem Versagen der Angehörigen der sog. weißen Rasse entstanden ist und die Auseinandersetzungen mit dessen Ursachen einen gewaltigen Entwicklungsschritt vollzogen. Das Bewusstsein von der unveräußerlichen Menschenwürde ist weltweit verbreitet und gewachsen, auch wenn deren Schutz noch längst nicht hinreichend gewährleistet ist.

Fortsetzung: Jüdische Reinkarnationslehren

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