suche | spenden | impressum | datenschutz
Anthroposophie / trithemius verlag / Jahrbuch 2001 Wimmern / Individualität, Nationalität, Universalität

Unter Hammer und Hakenkreuz

Von Lorenzo Ravagli

Unter Hammer und Hakenkreuz. Der völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie

Ravaglis Untersuchung zeigt die bedeutende Rolle, die die Anthroposophie im gesellschaftlichen Diskurs der wilhelminischen Ära und der Weimarer Republik spielte. Sie dokumentiert, in welcher Form sich die militant-konservativen und rechts-revolutionären Kreise dieser Gesellschaft von der Anthroposophie absetzten. Dadurch ergibt sich ein völlig neuer Blick auf die frühe anthroposophische Bewegung. Ist Rudolf Steiner in die völkische, die alldeutsche oder deutsch-nationale Bewegung einzuordnen? Diese Behauptung wird von manchen Autoren aufgestellt, die Steiner als deutschen Chauvinisten, als Befürworter des Imperialismus, der Rassenhygiene, ja als Esoteriker des Nationalsozialismus zu denunzieren versuchen. Die vorliegende Untersuchung stellt die Kampagnen und Intrigen dar, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Machtergreifung der NSDAP aus dem rechtskonservativen bis rechtsextremen politischen Spektrum gegen die Anthroposophie inszeniert wurden. Die bedeutendsten völkischen und nationalistischen Verbände der Kaiserzeit und der Weimarer Republik gehörten zu den erklärten Feinden der Anthroposophie. Lorenzo Ravagli rekonstruiert den fundamentalen Gegensatz zwischen der Anthroposophie und jeder Art von völkischer Bewegung.

Der zweite Teil des Buches vermittelt einen Einblick in die weltanschaulichen Konflikte innerhalb der theosophischen Bewegung und arbeitet die grundlegenden Differenzen zwischen dem von Guido von List konzipierten Armanismus bzw. der Ariosophie und der Anthroposophie Rudolf Steiners heraus. Dabei wird deutlich, dass ein erheblicher Teil der theosophischen Gegner der Anthroposophie aus Anhängern der völkischen Bewegung bestand, die versuchten, die humanistischen und menschheitlichen Ziele der Theosophie bzw. Anthroposophie für ihre gruppenegoistischen Ziele zu vereinnahmen.


Individualität, Nationalität, Universalität

Die Nationalitätenfrage im Österreich des 19. Jahrhunderts war dadurch bedingt, dass diese von Steiner als historische Notwendigkeit apostrophierte Entwicklung weitgehend ignoriert wurde und zwar von nahezu allen Beteiligten. Die politischen und die ethnischen Grenzen der Volksgruppen im Habsburgerreich stimmten nicht überein und man glaubte vielfach, dieses Problem nur lösen zu können, indem man Österreich in eine Anzahl zentralistischer Einheitsstaaten zergliederte, die ihre Untertanen ebenso bevormundeten und unterdrückten, wie sich diejenigen, die sich von Österreich loslösen wollten, durch dieses unterdrückt fühlten. Das österreichische Nationalitätenproblem war aber kein rein österreichisches, sondern ein europäisches Problem, denn die Interessen der europäischen Großmächte, die Interessen Frankreichs, Englands, Preußens und Russlands und nicht zuletzt des ottomanischen Reiches mussten von den Habsburgern bei der Behandlung der aufkeimenden Emanzipationsbestrebungen stets mit berücksichtigt werden. Spätestens seit dem Krimkrieg war der Drang des Zarenreiches nach dem Südbalkan offensichtlich. Spätestens seit den Frankfurter Bemühungen um eine deutsche Reichsverfassung war deutlich, dass die Mehrheit der liberalen Kräfte einer Aufnahme der nichtdeutschen Länder Österreichs in ein liberalisiertes Deutschland widerstrebte. Das Frankfurter Parlament trat offen für ein Ende des Habsburgerreiches in seiner traditionellen Form ein. Der bonapartistische Cäsarismus Frankreichs führte durch seine Unterstützung Sardiniens den Verlust der italienischen Gebiete Habsburgs herbei. Im Anschluss an den preußisch-österreichischen Krieg von 1866 wurde offensichtlich, dass die neue Großmacht Preußen nur ein dualistisch organisiertes Habsburgerreich dulden wollte, in dem die Deutschen und die Magyaren als Bollwerk gegen den Vorstoß der Slawen nach Westen fungierten. Die Deutschen und seit 1879 die Magyaren dominierten im Reich. Allein schon deshalb übten sie auf die übrigen Volksgruppen einen bedeutenden, leitenden Einfluss aus. Sie schritten voran, die anderen folgten. Die Geschichte der Tschechen spiegelt die Gesamtgeschichte der Wirrungen um die Lösung der Nationalitätenfrage im kleinen wieder. Die Polen lebten einen vom Ausland stark beeinflussten, hoch entwickelten Nationalismus dar. Die kroatische Frage und die Frage der Südslawen beleuchten die Bedeutung des kulturellen Nationalismus für die Entwicklung Gesamtösterreichs. Außerdem spielen in der Frage der Südslawen auch die schwierigen Beziehungen zwischen ethnisch verwandten Gruppen diesseits und jenseits der Grenzen des Reiches eine Rolle.105

Was das Verhältnis von Nationalismus und Übernationalität anbelangt, so meint der Historiker des österreichischen Nationalitätenproblems, Robert A. Kann: »Die Geschichte des habsburgischen Reiches kann man als einen Versuch ansehen, eine ... übernationale Ordnung herzustellen. ... Wie immer man zu der alten Monarchie stehen mag, ihre ehrwürdige Bedeutung wird durch die Tatsache klargestellt, dass an dieser übernationalen Aufgabe durch fast vier Jahrhunderte gearbeitet wurde, ohne dass der Reichsaufbau selbst zerstört wurde. Ungeachtet aller Irrungen und Wirrungen der österreichischen Geschichte ist dies eine gewiss bedeutsamere historische Tatsache als die Zerstörung der Monarchie im Ersten Weltkrieg.«106

Schaut man diese Sicht der Geschichte des Habsburgerreiches mit der Tatsache zusammen, dass die Deutschen neben den Magyaren – letztere seit 1867 – in diesem Reich die dominierende Rolle spielten, dass die Deutschen zwar einen Führungsanspruch erhoben und tatsächlich eine dominierende und privilegierte Stellung innehatten, aber gleichzeitig einen nicht-deutschen, übernationalen Universalitätsgedanken repräsentierten, ergibt sich eine etwas andere Wertung der politischen und kulturellen Kräfteverhältnisse, als die von Bierl vertretene. Gerade indem die Angehörigen der politischen und kulturellen Führungsschicht im Vielvölkerstaat diesen übernationalen Standpunkt repräsentierten, wurden sie von den Vertretern der anderen Völker angefeindet, die ihre eigenen Nationen von diesem deutschen, übernationalen Universalitätsstandpunkt emanzipieren wollten. Der Nationalismus war keine deutsche Erfindung, es war der aufklärerische Geist der Universalität, der Freiheit und Gleichwürdigkeit aller Menschen, den die Deutschen in die Völker des Reiches trugen. Natürlich fußte die geistige Elite, die dies tat, auf einem sozialen System, das dem unsrigen in kaum etwas ähnelte, aber dies tut ihrem Anspruch, den Geist der völkerverbindenden Humanität und des Kosmopolitismus, von dem sie durchdrungen waren, als Botschaft unter die Völker zu tragen, keinen Abbruch. Das Habsburgerreich, das seine europäische Legitimation aus der Abwehr des Türkenansturms und seiner Repräsentation des römischen Heilsgedankens gegenüber den Schismatikern und Heiden des Ostens bezog, bot unter seinem Mantel den Vertretern der Humanität und der Aufklärung die Möglichkeit, ihre evolutionäre Botschaft in der Welt des südeuropäischen, orientalischen und asiatischen Despotismus zu verbreiten. Ihr Wirken hatte aber einen anderen als den erwarteten Effekt: statt dass ihnen aus den angerufenen Völkern das Echo des Friedens und der Verbrüderung entgegenkam, wurden diese erst ihrer eigenen Nationalität bewusst. Indem das noch-nicht »Völkische« mit dem Übernationalen in Berührung kommt, das letztlich doch als die Botschaft eines Volkes erscheint, von dem es getragen wird, wandelt sich das seiner Nationalität noch nicht Bewusste erst zu einem »Völkischen«. Man könnte den Gedanken auch umkehren: die Intuition der übernationalen, die Völker in einem gemeinsamen Menschheitsbewusstsein auflösenden Humanität erweckt in diesen das Bewusstsein, dass sie nicht dieser Humanität angehören und auch nicht angehören wollen, sondern zuerst sich selbst. Dies ist die Dialektik der Aufklärung, dass sie das Gegenteil von dem hervorruft, was sie erreichen will: statt Befreiung Unterdrückung, statt Licht des Bewusstseins Verdunkelung des geistigen Horizontes, statt Frieden auf Erden den Kampf aller gegen Alle. Das Habsburgerreich musste auseinanderbrechen, nicht weil es den Gedanken der Universalität vertrat, sondern weil die von ihm beherrschten Völker diesem Reich nicht angehören wollten, weil sie nicht die habsburgische Universalität, sondern ihre eigene Partikularität wollten und diese unbedingt und genauso unteilbar, wie das Reich, aus dem sie strebten, nach ihrer Auffassung teilbar sein sollte. Die Irredenta jener Völker und Ethnien, die dem Habsburgerreich angehörten, aber nicht der deutschen Sprachnation, gegen den deutschen Anspruch auf Universalität, führte letztlich zur gewaltsamen Zerstörung der gesamteuropäischen Vorkriegsordnung.

Wer sich angesichts dieses Entwicklungshorizontes, der natürlich bei Anwendung besonnener Urteilskraft abzusehen war, gegen den Nationalismus der nichtdeutschen Völker und Ethnien wandte, versuchte die habsburgische Dynastie gegen die politischen Kräfte zu verteidigen, die sie zerstören wollten: mehr noch, die Europa in seiner damaligen Gestalt zerstören wollten.

Im I. Weltkrieg sollte der deutsche Anspruch auf Universalität vollständig ausgelöscht werden. Dies gelang auch, allerdings nur vorübergehend. Denn aus der übernationalen war man seit Wilhelm dem II. längst in die nationale Rolle zurückgefallen. Als Preußen Österreich die Vorherrschaft im Deutschen Bund entzog, war der geistige Übergang des universalistischen, katholischen Herrschaftsanspruches der Habsburgermonarchie auf eine national sendungsbewusste, protestantische Dynastie bereits vollzogen, die mit der Gründung des Deutschen Reiches in Wahrheit ein unheiliges Reich ins Leben rief. Es konnte nur den Widerstand der anderen europäischen Reiche hervorrufen, die gleich ihrem germanischen Nachzügler bereits vor diesem ihre Nachfolgeansprüche – als britisches Empire und als französisches Empire, ganz zu schweigen vom byzantinischen Zarenreich im Osten Europas – gegenüber dem Heiligen Römischen Reich zum Ausdruck gebracht hatten. Schon das zweite deutsche Reich war eine Usurpation. Das dritte deutsche Reich war die Usurpation einer Usurpation oder die Pervertierung einer Pervertierung des Reichsgedankens durch eine Clique hemmungsloser Fanatiker und Schwerverbrecher, die aus Vernunftgründen allein nicht erklärbar ist. Das Reich des gesunden Menschenverstandes, das die Aufklärung mit ihrem Anspruch auf Universalität gründen wollte, endete in der Tyrannei der Irrationalität, es endete in Auschwitz und Birkenau. Die Deutschen brauchten als »verspätete Nation« nur etwas länger als die Franzosen, für die der Traum von der Vernunft in der Schreckensherrschaft der Guillotine und der Wiedererrichtung eines Imperiums durch Bonaparte mündete. Doch war dies nur deshalb der Fall, weil sich in Deutschland in der Zwischenzeit eine Räuberbande des Universalitätsgedankens bemächtigt hatte, die nicht mehr nach den Wünschen derer fragen wollte, die sie unterdrückte und die ihre pseudo-rationale Partikularität als Rassenadel verbrämt verabsolutierte.

Steiner dagegen schloss sich in seiner Analyse der Reichsgründung Nietzsche an, der in dieser Gründung die Exstirpation des Deutschen Geistes zugunsten des Deutschen Reiches sah, denn für Steiner konnte es nur ein Reich geben und das war das Reich des Geistes. Dieses aber ist nicht von dieser Welt. Man könnte gegen Nietzsches Diagnose natürlich einwenden, welcher reale deutsche Geist denn 1871 überhaupt noch exstirpiert werden konnte. In Steiner jedenfalls hatten diese Identifikation des Reichsgedankens mit dem Reich des Geistes der deutsche Idealismus und die deutsche Klassik erweckt. Obwohl – oder gerade weil – Steiner aus der Habsburgermonarchie stammte, identifizierte er sich mit dem Geisterreich, das ein Reich freier Geister sein sollte, denn das Habsburgerreich war seinem Wesen und seiner Idee nach ein übernationales, ein anti-nationales Reich. Aber dieses Reich konnte nicht bestehen bleiben, bzw. es hatte nie wirklich existiert, denn es war bloß eine Idee. Es war eine Idee, als deren Träger aber jeder erscheinen konnte, der sich im Reich des Geistes zu bewegen verstand: das beinhaltete für Steiner der Begriff des Deutschen. Ein Deutscher ist man nicht von Geburt, so war seine Auffassung, Deutscher wird man: man muss sich das Geburtsrecht im Reich des Geistes erst aktiv erwerben, bevor man als Angehöriger dieses Reiches anerkannt werden kann, aber ohne das Ablegen der Nationalität ist diese Mitgliedschaft nicht zu erreichen. Deutsche waren für ihn nicht jene lärmenden Antisemiten, jene Krawallmacher und politischen Raufbolde, die Juden wegen ihrer Religion, ja wegen ihrer Rassenzugehörigkeit verfemten oder den »Streit der Parteien« in die seiner Ansicht nach »widerlichste Form« desselben, in den »Rassenkampf« herabzerrten. Diese Individuen waren für Steiner keine Vertreter des deutschen Geistes, des Geistes überhaupt, denn sie verhöhnten allen Glauben an die Ideen, sie waren Vertreter dogmatischer, reaktionärer Traditionen, dem Licht des fortschrittsfreundlichen Denkens Feind und mussten, so Steiner 1901, auf allen Gebieten »so energisch als möglich« bekämpft werden. Er hielt so wenig von der Bedeutung einer möglichen Rassenzugehörigkeit, dass er im Blick auf die zionistische Idee, die eine Nationalität, einen Staat auf der Rassenzugehörigkeit aufbauen wollte, schon 1888 meinte, das Beste, was den Juden geschehen könne, sei, wenn sie in den Gastvölkern, in denen sie lebten, aufgingen, dass er Vorkämpfer der zionistischen Idee wie Nordau und Herzl als »Versucher« und »Verführer« ihres Volkes bezeichnete, weil sie ihm, statt des schmackhaften Brotes des Menschheitsgedankens die Steine des Rassen-Nationalismus zu essen gaben. Steiner war keineswegs Antisemit. Er war ein Gegner des jüdischen Nationalismus und Rassedenkens, die Volk und Rasse identifizierten und beides mit einer religiösen Heilssehnsucht verbanden. Dies war genau jene politische Messias Erwartung, die die Heraufkunft des Tieres vorbereitete, deren Bevorstehen Steiner später für 1933 voraussagte.

Fortsetzung: Marxistischer Antisemitismus


Anmerkungen

105) Vgl. Kann, Das Nationalitätenproblem ..., S. 12/13.

106) Kann, Das Nationalitätenproblem ..., 14.

nach Oben