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Anthroposophie / trithemius verlag / Jahrbuch 2001 Wimmern / Sonderstellung der Magyaren

Unter Hammer und Hakenkreuz

Von Lorenzo Ravagli

Unter Hammer und Hakenkreuz. Der völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie

Ravaglis Untersuchung zeigt die bedeutende Rolle, die die Anthroposophie im gesellschaftlichen Diskurs der wilhelminischen Ära und der Weimarer Republik spielte. Sie dokumentiert, in welcher Form sich die militant-konservativen und rechts-revolutionären Kreise dieser Gesellschaft von der Anthroposophie absetzten. Dadurch ergibt sich ein völlig neuer Blick auf die frühe anthroposophische Bewegung. Ist Rudolf Steiner in die völkische, die alldeutsche oder deutsch-nationale Bewegung einzuordnen? Diese Behauptung wird von manchen Autoren aufgestellt, die Steiner als deutschen Chauvinisten, als Befürworter des Imperialismus, der Rassenhygiene, ja als Esoteriker des Nationalsozialismus zu denunzieren versuchen. Die vorliegende Untersuchung stellt die Kampagnen und Intrigen dar, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Machtergreifung der NSDAP aus dem rechtskonservativen bis rechtsextremen politischen Spektrum gegen die Anthroposophie inszeniert wurden. Die bedeutendsten völkischen und nationalistischen Verbände der Kaiserzeit und der Weimarer Republik gehörten zu den erklärten Feinden der Anthroposophie. Lorenzo Ravagli rekonstruiert den fundamentalen Gegensatz zwischen der Anthroposophie und jeder Art von völkischer Bewegung.

Der zweite Teil des Buches vermittelt einen Einblick in die weltanschaulichen Konflikte innerhalb der theosophischen Bewegung und arbeitet die grundlegenden Differenzen zwischen dem von Guido von List konzipierten Armanismus bzw. der Ariosophie und der Anthroposophie Rudolf Steiners heraus. Dabei wird deutlich, dass ein erheblicher Teil der theosophischen Gegner der Anthroposophie aus Anhängern der völkischen Bewegung bestand, die versuchten, die humanistischen und menschheitlichen Ziele der Theosophie bzw. Anthroposophie für ihre gruppenegoistischen Ziele zu vereinnahmen.


Die Sonderstellung der Magyaren (Dualismus)

Es dauerte fast zwanzig Jahre und bedurfte des Krimkrieges, eines österreichisch-italienischen und eines österreichisch-deutschen Krieges, den Habsburg verlor, bevor sich die Monarchie mit Ungarn aussöhnte. Diese Aussöhnung war zwingend erforderlich. Die neue Verfassung Österreich-Ungarns von 1867 war weniger ein Ergebnis eines spezifisch deutsch-österreichischen Gestaltungswillens, auch der neu berufene »Reichskanzler«, der ehemalige sächsische Ministerpräsident Graf Beust, von dem sich der Hof vergeblich eine Konterkarierung des Bismarckschen Ränkespiels erhoffte, war nicht ihr Schöpfer: in ihr flossen die preußischen Vorstellungen über die Neuordnung des Habsburgerreiches und die ungarischen Forderungen zusammen. »Die gesetzliche Verwirklichung des vor allem durch die privilegierte deutsche Volksgruppe repräsentierten Zentralismus« in der cisleithanischen Reichshälfte, so Kann, war »zum großen Teil die Folge magyarischer Forderungen«.147

Die ungarischen Führer Deák und Andrássy waren die eigentlichen geistigen Urheber des Ausgleichs. Die Konstitution der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, ihre Gliederung in die beiden durch eine Realunion verbundenen Reichshälften Cisleithanien und Transleithanien, war Ausdruck eines ausgeprägten ungarischen nationalen Willens. Was sich im dualistischen Aufbau letztlich durchsetzte, war nicht die große Tradition des magyarischen Liberalismus, dessen Bannerträger Deák, Eötvös und der ältere Andrássy waren, was sich durchsetzte, war der ungarische Nationalismus in seiner schärfsten Form. Die herrschenden magyarischen Kreise, die aristokratischen Großgrundbesitzer, der niedere Landadel (die Gentry) und das gehobene Bürgertum, die in den ungarischen Ländern eine Minderheit bildeten, konnten ihre Herrschaft nur aufrechterhalten, wenn die Fiktion bestehen blieb, Ungarn sei kein Vielvölkerstaat wie Österreich, sondern ein magyarischer Nationalstaat. Diese Fiktion setzte voraus, dass auch Österreich seinen nicht-deutschen Volksgruppen keine Autonomie gewährte.

Die dem Ausgleich zugrunde liegende Idee – die souveräne Gleichheit der beiden Staaten und die gleichmäßige Verteilung der Macht auf Deutsche und Magyaren – wurde schicksalsbestimmend für die zwei letzten Generationen des Habsburgerreiches: sie verhinderte eine weitere Föderalisierung des Reiches und führte schließlich in die Apokalypse.

Der Ausgleich von 1867 behandelte Cisleithanien und Transleithanien wie zwei souveräne Staaten, die sich durch eine Realunion zusammenschlossen. Er bestimmte, neben den jeweiligen Sonderrechten der beiden Staaten, auch gemeinsame Verpflichtungen, die im Bereich der Außenpolitik, des Kriegswesens und der gemeinsamen Finanzen bestanden. Während der ganzen Zeit des Dualismus, also bis zum Ende des Habsburgerreichs im Jahr 1918 überstieg der Anteil Ungarns nie 36,4 Prozent der gemeinsamen Ausgaben, »d.h. er war wesentlich geringer, als auf Grund seiner wirtschaftlichen Mittel und Möglichkeiten angemessen gewesen wäre.«148 Damit war der Beitrag Österreichs zu den gemeinsamen Ausgaben unverhältnismäßig hoch und besaß den Charakter uneingestandener Tributzahlungen für das staatstragende Wohlverhalten der Magyaren. Darüber hinaus bestanden erhebliche Unterschiede zwischen der österreichischen und der ungarischen Auslegung des Ausgleichs. Vor allem machten die Ungarn die Gültigkeit des Ausgleichs vom Vorhandensein einer konstitutionellen Regierung in Österreich abhängig. Gemäß der ungarischen Auslegung der Verfassung verstand man diese Bedingung so, dass die im Dezember 1867 eingeführten Verfassungsgesetze ihre uneingeschränkte Gültigkeit behielten. Diese Gesetze bestimmten, dass Österreich ebenso wie Ungarn ein einheitlich-zentralistischer Staat sein sollte, ein Staat also, der anderen nationalen Gruppen als politischen Einheiten Selbstbestimmungsrechte verweigerte, und sie höchstens den Einzelpersonen zugestand. Eine Änderung in Richtung Föderalismus hätte die Vorherrschaft der Magyaren in Ungarn gefährdet. Diese einseitige, ja willkürliche Auslegung des Ausgleichs war in der Tat der Hauptgrund, der eine umfassende Lösung der nationalen Fragen in der Habsburgermonarchie nach 1867 verhinderte.149

Kann kommentiert in seiner Geschichte des Habsburgerreiches die Wirkungen des österreichisch-ungarischen Ausgleichs wie folgt: »Der Ausgleich brachte kein Ende der deutschen Vorherrschaft über andere Nationalitäten im westlichen Teil der Monarchie. Sie wurde nur in Ungarn von einer betonten Oberherrschaft der Magyaren über die nicht-magyarischen nationalen Gruppen abgelöst, die nicht erschüttert werden konnte, es sei denn durch eine Revolution. Die bevorzugte Stellung zweier nationaler Gruppen, der Deutschen und der Magyaren, gegenüber neun anderen stellte ein größeres Problem dar als die Teilung des Reiches in zwei Staaten. Von diesen zwei Staaten mangelte es in Ungarn, in den Ländern der Heiligen Stephanskrone, an nationalem Gleichgewicht, ja es herrschte sogar nationale Ungerechtigkeit, vor allem in bezug auf Rumänen, Ruthenen, Serben und Slowaken, aber auch auf Deutsche und Kroaten ... Die Tatsache, dass die Deutschen und die Magyaren in der Doppelmonarchie eine bevorzugte Stellung einnahmen, war sicher unbillig. Hingegen kam auf dieser Grundlage das Bündnis mit dem Deutschen Reich von 1879 zustande, das den drohenden russischen Zarismus in die Schranken wies und der Donaumonarchie einschließlich der slawischen Bevölkerung eine friedliche Entwicklung und vielleicht sogar die Aussicht auf eine evolutionäre Anpassung an modernere nationale und soziale Zustände ermöglichte ... Wäre Bismarck anders vorgegangen, hätte er versucht, Österreich-Ungarn zu beherrschen, statt es durch die deutsch-ungarische Koalition innerhalb der Monarchie beherrschen zu lassen, so wäre der Zerfall des Habsburgerreiches früher eingetreten, vor allem zum Vorteil des zaristischen Russlands. Andererseits bedeutete die Erhaltung der Monarchie und der Unverletzlichkeit ihrer Gebiete für ein weiteres halbes Jahrhundert, dass ihre konstitutionellen Einrichtungen geachtet wurden, die Slawen in Österreich immerhin begrenzte nationale Rechte besaßen und wenigstens die Möglichkeit für sie bestand, sie auch in Ungarn zu erlangen.«150

Graf Stephan Széchenyi (1791-1860), der liberale magyarische Reformer, der der nationalen Geschichtsschreibung als der »größte der Magyaren« gilt, beschrieb im Jahr 1842 in einer Rede vor der von ihm begründeten ungarischen Akademie der Wissenschaften den psychologischen Hintergrund des nationalen Willens der Magyaren: »Während ein anderes Volk sich einzig durch die Güte der Sache bestimmen lässt, wenig bekümmert, woher und in welcher Gestalt es kommt, will der Ungar alles, vom Kleinsten bis zum Größten, in ein magyarisches Gewand hüllen und was nicht in diesem erscheint, ist ihm schon verdächtig. Mir wenigstens ist kaum ein wirklicher Ungar bekannt, der, wie sehr auch sein Haar gebleicht sei, wie tief ihm auch Erfahrung und Lebensweisheit die Stirne gefurcht, nicht, gleich einem Verrückten, dessen fixe Idee berührt wird, sich den Regeln der Billigkeit, ja sogar der Gerechtigkeit, mehr oder weniger entzöge, wenn die Angelegenheit unserer Sprache und Nationalität aufs Tapet kommt. Bei solchen Gelegenheiten wird der Kaltblütigste hingerissen, der Scharfsichtigste mit Blindheit geschlagen und der Billigste, Gerechteste ist bereit, die erste von den unveränderlichen Regeln der ewigen Wahrheit, die man bei keiner Gelegenheit aus den Augen verlieren sollte, die Regel: »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu!« zu vergessen!151 Der magyarische Nationalismus war ohne Zweifel auch durch die »rassemäßige Isolierung der Magyaren« (Kann) bedingt, die als finnisch-ugrischer Volksstamm inmitten von Deutschen und Slawen lebten. Die Magyaren sorgten dafür, dass ihre Herrschaft auch unter parlamentarischen Bedingungen nicht beeinträchtigt wurde. Im nationalen ungarischen Parlament hatten die Magyaren, die ungefähr 54 Prozent oder, wenn die kroatischen Gebiete mitgerechnet werden 45 Prozent der Gesamtbevölkerung Ungarns bildeten, 405 von 413 Abgeordnetensitzen inne. Die übrigen 45 Prozent der Bevölkerung des eigentlichen Ungarn besaßen acht Sitze, fünf die Rumänen und drei die Slowaken. Auch die Zivilverwaltung war ähnlich strukturiert: 96 Prozent der Staatsangestellten, 92 Prozent der Mittelschullehrer und 93 Prozent der Hochschulprofessoren waren Magyaren. Etwa 800.000 Schüler, die den kleineren nationalen Minderheiten angehörten, hatten ungefähr 5.000 Lehrer, auf eine Million magyarischer Schüler entfielen etwa 26.000.152

Der magyarische Patriotismus wurde von Mihály Vörösmarty (1800-1855) in begeisterten Gesängen verdichtet:

»Von deinem Vaterland lass nie Und nimmermehr, Magyar;
‘s ist Wiege Dir und Grab auch einst, Dein Hort unwandelbar.
Nicht bietet auf der weiten Welt Ein andrer Raum sich Dir;
Ob gütig dein Geschick, ob hart, Musst leben, sterben hier.«

Der österreichische Nationalökonom und kurzzeitige Handelsminister (1917-18) Friedrich von Wieser beschrieb die Entwicklung Ungarns im 19. Jahrhundert 1905 folgendermaßen:

»In Ungarn fiel die Herrschaft den Magyaren zu. Sie hatten durch die längerdauernde ständische Überlieferung, durch die Selbstverwaltung der Komitate, durch die Einrichtung des revolutionären Staates von 1848 eine höhere politische Schulung, sie hatten in ihrem nationalgesinnten Adel, der fast durch das ganze Land – auch in den nicht-magyarischen Gebieten – reich begütert war und überwiegenden Einfluss besaß, eine geborene volkstümlich herrschende Klasse, in den überlebenden Kriegern von 1848 eine politische Kerntruppe und in den Führern von damals ihre anerkannten Leiter. Vor allem aber war das ganze Volk durch seine nationale Leidenschaft geeinigt und wirkte in urwüchsigem Instinkt auf dem Jagdpfade der Politik zu einem Plan zusammen, die Radikalen, um als lärmende Treiber das Wild aufzuscheuchen, die Gemäßigten, um es als vornehme Schützen zu erlegen. In jeder anderen Hinsicht, an Menschenzahl, Reichtum und allgemeiner Bildung hinter der westlichen Reichshälfte zurückstehend, erwiesen sie sich nicht dennoch als die politisch überlegene Nation? Sie zeigten sich fähig, ihren Staat zu leiten und ihn zu benützen, um ihre Hilfsmittel in ungeahnter Weise zu steigern, um zahlreiche Bürger der fremden Nationalitäten erst ihrem Staatsgedanken und sodann selbst ihrer Nationalität zu gewinnen, um ihre Kultur, ihren Reichtum zu heben.«153

Friedrich Tezner, der die ungarischen Wünsche nach unbeschränkter nationaler Herrschaft ablehnte, bemerkte im selben Jahr 1905: »Die Österreicher – und das gilt von ihnen allen ohne Unterschied der Nationalität, von den Polen abgesehen, – besitzen aus der Zeit ihrer neueren Geschichte keine werbende Persönlichkeit von epischer Größe. Dagegen ist die ungarische Geschichte ein ununterbrochenes Heldengedicht.«154

Über die ungarische Verfassung von 1867 äußerte sich einer der führenden Sozialisten Österreichs, Karl Renner: »Welch ein Wunder von einer Verfassung musste das sein, das imstande war, eine Volksvertretung zu schaffen und dennoch das Volk nicht zur Vertretung zu bringen, einen Staat auf das Nationalbewusstsein aufzubauen und doch das Nationalbewusstsein von fünf Nationen zu ertöten, gegen den Hof alle Mittel der Demokratie spielen zu lassen und doch die Aristokratie als unumschränkte Herren einzusetzen, die Freiheit zum Triumphe zu führen und die halbe Bevölkerung in nationaler, neun Zehntel derselben in sozialer Knechtschaft zu erhalten.«155

Auch Ungarn erlebte in der Zeit des Vormärz eine Periode der geistigen Horizonterweiterung. Für diese Zeit sind vor allem zwei Persönlichkeiten bedeutend: der Reformer Graf Stephan Széchenyi (1791-1860) und das »seltsame Genie« (Kann) Ludwig Kossuth (1802-1891).

Széchenyi gründete nicht nur die ungarische Akademie der Wissenschaften, er reformierte auch den Unterricht und war für die Einführung der magyarischen Sprache verantwortlich, die das in den oberen Schichten verbreitete und im offiziellen Verkehr allgemein eingeführte Lateinische ablöste. Dass diese Sprachreform später im Sinne der nationalen Unterdrückung missbraucht wurde, stand im Gegensatz zu seinen aufklärerischen Intentionen. Seit 1840 setzte er sich im Landtag für die Befreiung der leibeigenen Bauern ein, und setzte ihr Recht durch, Grund und Boden zu erwerben. Die Steuerfreiheit des Adels, von dem über 700.000 Personen Nutzen zogen, vermochte er aber nicht abzuschaffen.

Kossuth war der Anführer einer nach dem Vorbild Mazzinis gebildeten nationalistischen Bewegung »Junges Ungarn«, die Széchenyis Politik erfolgreich Widerstand leistete und letztlich eine vollständige Trennung Ungarns von Österreich anstrebte. Kossuth war glühender Nationalist. Er hielt die Garantie individueller Freiheitsrechte für ausreichend und lehnte die Einräumung nationaler Freiheiten für andere Nationalitäten ab. Sein hartnäckiger Widerstand gegen die Einführung ethnischer Rechte erwies sich für das Schicksal der Magyaren als verhängnisvoll. Noch 1881 beharrte Kossuth auf dem Standpunkt, der magyarische Liberalismus habe das Nationalitätenproblem optimal gelöst. In einer Erklärung ließ er verlauten: » ... die Freisinnigkeit fremden Rassen gegenüber blieb durch alle Folgezeit in solchem Maße eine leitende Maxime für die ungarische Politik, dass es kein zweites derartiges Beispiel in der ganzen Weltgeschichte gibt; und niemals hat eine staatenbildende Rasse selbst den bloßen Gedanken an eine Ausschließlichkeit ihrer Rechte zum eigenen Nachteil aus ihrer Politik gleichsam verbannt und den Begriff »Bürger« gleich sehr von dem Begriff »Rasse« unabhängig gemacht wie die Ungarn ... Wenn dieser feste Wille und Entschluss das Brandmal der herrschenden Rasse auf unsere Stirne drückt, nun dann, dann möchte ich dieses Brandmal für den Adelsbrief meiner Rasse erkennen.«156

Für Kossuth waren die Begriffe Magyar und Ungar gleichbedeutend: für jemanden, der auf ungarischem Boden aufgewachsen war, konnte es kein höheres Ziel geben, denn als Mitglied des magyarischen Herrenvolkes anerkannt zu werden. Ungarischen Serben, die Kossuths Auffassung 1848 widersprachen, hielt er entgegen: »Dann mag das Schwert entscheiden!«157 Selbst noch 1918 wies ein anderer magyarischer Politiker, der Graf Stephan Tisza, die Vorstellungen einer serbisch-bosnischen Abordnung mit folgenden Worten zurück: »Mag sein, dass wir (die Magyaren) zugrunde gehen, aber vorher werden wir noch die Kraft haben, euch zu zermalmen.«158

Die Unduldsamkeit Kossuths verhinderte eine Berücksichtigung der anderen Nationalitäten durch den revolutionären Reichstag von 1848. Seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte die Bewegung zugunsten der Einführung des Magyarischen als Staatssprache an Bedeutung zugenommen. Sie stieß bei den Nichtmagyaren auf heftige Ablehnung, der aber nur die Kroaten als einzige im Reichstag vertretene nicht-magyarische Nationalität Ausdruck verleihen konnten. Kossuth erklärte in den Verhandlungen, Ungarn, deren Muttersprache nicht das Magyarische sei, stellten keine Volksgruppen dar. Deshalb müsse das Magyarische die offizielle Sprache der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung werden, notfalls unter Androhung von Gewalt. Für eine Übergangszeit von sechs Jahren könne anstelle der örtlichen Landessprachen auch das Lateinische verwendet werden. Der stürmische, aber ohnmächtige Protest der südslawischen Abgeordneten konnte die Annahme eines entsprechenden Sprachengesetzes nicht verhindern. Ebenso wurde ein Siedlungsgesetz angenommen, das das Recht, sich in Ungarn dauernd niederzulassen, von der Beherrschung des Magyarischen abhängig machte. Mitunter wurde die Auffassung vertreten, der eigentliche Grund für den Ausbruch der ungarischen Revolution sei die Absicht gewesen, die nicht-magyarischen Völker Ungarns zum Schweigen zu bringen. So etwa sagte Palacky: »Der eigentliche Grund der Revolution war die Weigerung der Magyaren, den in Ungarn wohnenden Slawen, Deutschen und Rumänen gleiche nationale Rechte zuzugestehen.«159

Zwar mag dies übertrieben sein, spielten doch auch in der ungarischen Revolution die liberalistischen Ideen eine Rolle, aber die mangelnde Bereitschaft der Ungarn, den nicht-magyarischen nationalen Mehrheiten in ihrem Herrschaftsgebiet eigene Rechte zuzugestehen, bildete einen der Hauptgründe für das Scheitern der Revolution. Ja, in der Revolution scheinen die Rollen der verfeindeten Mächte geradezu vertauscht: während der zentralistische habsburgische Absolutismus aus Gründen der Opportunität die nicht-magyarischen Nationalitäten unterstützte, vertraten die liberalen ungarischen Revolutionäre die Sache der nationalen Unterdrückung der nicht-magyarischen Nationalitäten.

Das von den Magyaren beherrschte Ungarn ging aus den Verhandlungen von 1867 als begünstigter und gestärkter Partner hervor. Die weitere politische Entwicklung in Ungarn, die auf eine vollständige Magyarisierung hinauslief, wurde von Jászi wie folgt charakterisiert: »Seit dem Tode Deáks im Jahre 1876 beherrschte eine neue Generation die politische Arena, eine Generation der ›gentry‹, welche die große Lehre von 1848/49 vergessen hatte und welche die Lage des Landes ausschließlich vom Gesichtspunkt ihrer finanziellen Interessen beurteilte. Der Führer dieser Generation, der Ministerpräsident zwischen 1875 und 1890, Koloman Tisza, kam zur Macht, indem er seine Prinzipien zynisch preisgab ... Die neue herrschende Partei, die sogenannte ›liberale‹ stellte eine Verschmelzung zwischen den Parteien Deáks und Tiszas dar. Ihre einzigen liberalen Züge waren ihre freundliche Einstellung gegenüber dem jüdischen Finanzwesen und dem Großhandel« (und die Anerkennung der Idee der religiösen Toleranz).160

Die letzten fünf Dezennien zwischen dem österreichisch-ungarischen Ausgleich und dem Ende des Habsburgerreiches wurde das nationalistische Programm der Magyarisierung in Transleithanien konsequent zu Ende geführt. Die Radikalisierung des Nationalismus verschärfte auch in Cisleithanien die Nationalitätenkrise und stärkte die Kräfte, die das Reich auseinandertrieben. In Ungarn führte das Anwachsen des Nationalismus unter den Magyaren und den nichtmagyarischen Nationalitäten zu einer Steigerung der magyarischen Intoleranz, aber nicht zu einer Hebung des politischen Status der nichtmagyarischen Nationalitäten.

Während die Vorherrschaft der Deutschen in den Ländern Cisleithaniens durch den Widerstand der nicht-deutschen Nationalitäten zunehmend zurückgedrängt wurde, setzte sich die Magyarisierung in Ungarn unaufhaltsam fort. In bemerkenswerter Konsequenz haben ungarische Ministerpräsidenten zur Nationalitätenfrage in diesen fünfzig Jahren Stellung bezogen. Kálmán von Tisza, Ministerpräsident von 1875 bis 1890, erklärte, die Nationalitäten müssten dem magyarischen Sprichwort »Schweig und zahle« gehorchen. Die Nichtmagyaren könnten sich nicht auf so etwas wie eine »nationale Geschichte« berufen.161

Baron Desider Bánffy, Ministerpräsident von 1895 bis 1899: »Ungarn kann nur dann ein Rechtsstaat werden, wenn es ein einheitlicher nationaler Staat wird.«162 Bei einem anderen Anlass meinte Baron Desider Bánffy: »Ohne Chauvinismus ist es unmöglich, den einheitlichen magyarischen nationalen Staat zu begründen.«163

Kálmán Széll, Ministerpräsident von 1899 bis 1905: »Wir kennen nur einen kategorischen Imperativ, den magyarischen Staatsgedanken, und müssen fordern, dass jeder Staatsbürger ihn anerkennt und sich ihm bedingungslos fügt. In diesem Punkt sind wir Politiker Ungarns sämtlich unnachgiebig ... Ich werde auch erklären, warum. Weil Ungarn seine uralten, heiligen und gesetzlichen Rechte hat, um den Gedanken eines solchen Staates zu bekräftigen. Die Magyaren haben dieses Land für die Magyaren erobert und nicht für andere. Die Oberherrschaft und die Hegemonie der Magyaren ist vollauf berechtigt.«164

Graf Stephan Tisza, Ministerpräsident von 1903 bis 1905 und von 1913 bis 1917:

»Unsere Staatsbürger nicht-magyarischer Zunge müssen sich vor allem daran gewöhnen, dass sie der Gemeinschaft eines Nationalstaates angehören, eines Staates, der kein Konglomerat verschiedener Völker ist.«165

Zusammenfassend zum kulturellen und gesellschaftlichen Status der Magyaren im 19. Jahrhundert sei der Verfasser des Beitrages über die Ungarn im von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Sammelband über die Habsburgermonarchie, Laszlo Katus, zitiert: »Das Grunderlebnis der geistigen und politischen Elite des ungarischen Reformzeitalters vor 1848 war das Gefühl der Gefährdetheit der in Rückständigkeit und in den Fesseln des Feudalismus dahinsiechenden nationalen Existenz. Die Revolution von 1848 und die darauf folgenden institutionellen und politischen Umgestaltungen schufen günstige Vorbedingungen für die Überwindung der Rückständigkeit und die Herausbildung der modernen bürgerlichen Nation. Die sieben Jahrzehnte zwischen den beiden Revolutionen von 1848 und 1918 waren in der Geschichte des ungarischen Volkes ein Zeitalter der raschen Entwicklung und der großen Veränderungen. Das gilt vor allem für das demographische und wirtschaftliche Wachstum, für die Adaptierung der modernen westeuropäischen wirtschaftlichen und politischen Institutionen, produktiven und administrativen Techniken, für die Umgestaltung und Modernisierung der äußeren Lebensbedingungen, der materiellen Kultur ..., für die Anhebung des allgemeinen Bildungsniveaus und für die Herausbildung der modernen gesellschaftlichen Strukturen.«166

Fortsetzung: Die Tschechen


Anmerkungen

147) Kann, Das Nationalitätenproblem ..., S. 90.

148) Kann, Geschichte des Habsburgerreiches, S. 304.

149) Vgl. Kann, Geschichte des Habsburgerreiches, S. 305 f.

150) Kann, ebd, S. 307-308.

151) Rede in der von ihm gegründeten ungarischen Akademie der Wissenschaften am 27. Nov. 1842, zitiert in Arthur von Polzer Hoditz, Kaiser Karl, Wien 1929, S. 45.

152) Kann, Das Nationalitätenproblem ..., S. 110.

153) Friedrich von Wieser, Über Vergangenheit und Zukunft der österreichischen Verfassung, Wien 1905, S. 29.

154) Friedrich Tezner, Die Wandlungen der österreichisch-ungarischen Reichsidee, Wien 1905. S. 112.

155) Rudolf Springer, [Karl Renner], Warum uns die ungarische Verfassung imponiert?, zitiert nach Kann,

Das Nationalitätenproblem ..., 115/6.

156) L. Kossuth, Meine Schriften aus der Emigration, Preßburg, Leipzig 1881, 3. Bde, II, S. 148 ff., S. 157 – das Zitat stammt aus einem Essay über Ungarn von 1858, zitiert nach Kann, Das Nationalitätenproblem ..., 120

157) M. Hodza, Federation in Central Europe, S. 20 f.

158) E. Glaise-Horstenau, Die Katastrophe. Die Zertrümmerung Österreich-Ungarns und das Werden der Nachfolgestaaten, Wien 1929, S. 287, zitiert nach Kann, Das Nationalitätenproblem ..., S. 120.

159) Aurel C. Popovici, Die vereinigten Staaten von Groß-Österreich, Leipzig 1906, S. 150 f.

160) O. Jaszi, The dissolution of the Habsburg Monarchy, Chicago 1929, S. 318 f.

161) R.W. Seton-Watson [unter dem Pseudonym Scotus Viator], Racial Problems in Hungary, London 1908, S. 211 f.

162) Treumund, Baron Desider Bánffy, Österreichische Rundschau, XXVII, 1911, 5. 437 ff. Siehe auch R.W. Seton-Watson [unter dem Pseudonym Scotus Viator], Racial Problems in Hungary, London 1908, S. 197.

163) Ebenda,  S. 182.

164) O. Jászi, The Dissolution of the Habsburg Monarchy, a.a.O., S. 321.

165) Ebenda, S. 321.

166) Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie, 1848-1918, Band III, Die Völker des Reiches, 1. Tb., Wien 1980, S. 488.

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